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Die Pandemie des Protektionismus
Anne Krueger, zvg.

Die Pandemie des Protektionismus

Der multilaterale, offene Welthandel steht unter Druck. Die Vorteile des Freihandels überwiegen jedoch gerade auch in der Coronakrise.

 

Der steigende Wohlstand der letzten Jahrzehnte ist untrennbar mit der zunehmenden Geschwindigkeit und den geringeren Kosten von Handel, Finanzen, Kommunikation und anderen Verbindungen innerhalb und zwischen Ländern verbunden. Dramatisch sinkende Kosten und der Abbau von politisch auferlegten Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen sind Kennzeichen des wirtschaftlichen Erfolgs und tragen wesentlich zu diesem bei.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag der Welthandel in Trümmern – die früheren Handelsbeziehungen zwischen den Nationen waren zerbrochen. Die USA traten daraufhin als dominierende Wirtschaftsmacht auf und orchestrierten das offene multilaterale Handelssystem, das in Form des GATT institutionell verankert und mit der Welthandelsorganisation (WTO) gestärkt wurde. Unter den fortgeschrittenen Ländern nahmen der Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie die Investitionsbeziehungen im Anschluss in Rekordgeschwindigkeit zu. Bis zum Jahr 2000 hatten auch die meisten Entwicklungsländer erkannt, dass ihre frühere Importsubstitutionspolitik als Rahmen für ein nachholendes Wachstum nicht erfolgreich war, und begannen, am globalen Wohlstand teilzuhaben, indem sie politische Reformen verabschiedeten und ihre Volkswirtschaften öffneten. Selbst die Grosse Rezession von 2008 konnte den Globalisierungstrend nicht umkehren.

Erst Trump, dann die Pandemie

Im Jahr 2017 wandte sich die Trump-Regierung jedoch entschieden von der früheren US-Politik ab, die ein offenes multilaterales Handelssystem und multilaterale Handelsvereinbarungen wie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) oder die Transpazifische Partnerschaft (TPP) unterstützt hatte. Unter Berufung auf die nationale Sicherheit erhob Trump Zölle auf Stahl und Aluminium, was gemäss den Richtlinien der WTO von zweifelhafter Legalität war. Zudem zettelte Trump einen «Handelskrieg» mit China an, indem er behauptete, dass China ein «unfairer» Handelspartner sei. Trumps Entscheidungen, darunter die Weigerung, neue Ausweitungen des Streitbeilegungsmechanismus der WTO zu akzeptieren, die einseitige Ergreifung von Handelsmassnahmen und die Erhöhung bilateraler Handelsschranken, haben die Autorität und Legitimität der WTO ernsthaft untergraben.

«Länder, die ihre Mauern hochfahren, müssen mit steigenden

Gesundheitskosten und sinkenden Realeinkommen rechnen.»

Es besteht ein grosser Konsens, dass die Architektur des offenen multilateralen Handelssystems geändert werden muss, wenn neue Probleme und eine andere Handelsstruktur auftauchen. Doch anstatt zu versuchen, das System zu reformieren, haben die USA unter Trumps Präsidentschaft ihre Führungsrolle beim Unterhalt des Systems aufgegeben. Für die Welt war das ein herber Schlag mit Signalwirkung: Fast überall nahm der protektionistische Druck zu, da die Protektionisten aller Länder den Rückzug der USA als Legitimation für eigene Vergeltungsmassnahmen nutzten.

Die Pandemie hat die internationale Wirtschaftsordnung durch die Unterbrechungen der Wirtschaftstätigkeit und die abrupten Verschiebungen im Konsumverhalten nun noch weiter beschädigt. Mit der Verordnung von Lockdowns und der Schliessung von Betrieben versuchten Länder mit einer hohen Covid-Inzidenz, eine weitere Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Es kam zu einem zusätzlichen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten. Gleichzeitig stieg die Nachfrage nach bestimmten Gütern wie Baumaterialien, Möbeln aus China oder Fertigmahlzeiten. Dadurch verzögerte sich auf dem Seeweg die Lieferung vieler Waren, einschliesslich der für die Herstellung von Konsumgütern benötigten Vorprodukte wie Halbleiter und Holz.

Das internationale Handelsvolumen sank einerseits aufgrund von Versorgungsunterbrechungen, andererseits aufgrund eines Rückgangs der gesamten Konsumnachfrage. Der protektionistische Druck nahm zu, wie dies in Rezessionen häufig geschieht, aber auch aufgrund von nationalistischen Konflikten im Zusammenhang mit dem Bedarf an Gesundheitsprodukten, einschliesslich Krankenhausausrüstung, Masken und anderer persönlicher Schutzausrüstung sowie Medikamenten. In jüngster Zeit hat die Verteilung von Impfstoffen, die in wundersamem Tempo entdeckt und entwickelt worden waren, zwischen Ländern zu weiteren Konflikten geführt.

Sollten protektionistische Massnahmen und der Impfstoff-nationalismus anhalten oder, schlimmer noch, gar zunehmen, wird dies das weltweite Wirtschaftswachstum und die Virusbekämpfung auf globaler Ebene erheblich beeinträchtigen. Es ist umso wichtiger, dass alle verfügbaren wachstumsfördernden Massnahmen so bald wie möglich ergriffen werden. Eine Wiederherstellung und Stärkung des multilateralen Systems wäre ein kraftvoller Schritt in diese Richtung.

Ändernde Rhetorik, aber nicht genug Taten

Das Ende der Trump-Administration und die Wahl von Präsident Biden boten den USA die Gelegenheit, eine Vorreiterrolle bei der Beseitigung des Schadens, der dem multilateralen System in den vorangegangenen vier Jahren zugefügt worden war, zu übernehmen. Präsident Biden ist sicherlich ein grösserer Internationalist als sein Vorgänger: Das zeigt sich sowohl in seinen Reden als auch in seiner Teilnahme an Nato-, G-7- und anderen Gipfeltreffen. Zudem zeigte sich Biden bei der Wahl für das Amt des Generaldirektors der WTO von seiner versöhnlichen Seite: Er stimmte für den Kandidaten, der von den meisten anderen Mitgliedern ebenfalls bevorzugt worden war.

Biden hat zudem seine Absicht bekundet, sich in Handelsfragen mit seinen Verbündeten zu beraten: Die USA und die EU haben beispielsweise endlich Schritte unternommen, den Boeing-Airbus-Streit beizulegen, der seit vielen Jahren innerhalb der WTO geführt wurde. Und selbst als Präsident Biden das protektionistische «Buy American»-Programm bestärkte, achtete seine Regierung stets darauf, dies innerhalb des erlaubten Rahmens des WTO-Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen zu tun.

Nichtsdestotrotz bleiben viele Schutzmassnahmen der Trump-Ära bis heute in Kraft: Weder die Stahl- und Aluminiumzölle noch die Zölle auf chinesische Importe in die USA wurden aufgehoben. Ähnlich sieht die Situation in China aus: Die chinesischen Vergeltungszölle bestehen ebenfalls weiterhin. Die Biden-Administration hat zwar von weiteren protektionistischen Massnahmen abgesehen und sich selbst als internationalistisch bezeichnet, doch Bidens Äusserungen zur «Heimholung der Indus­trie» und zur Schaffung amerikanischer Arbeitsplätze durch den Ersatz von Importen sind Grund zur Sorge. Bis anhin hat die amerikanische Delegation keinen Vorstoss zur Wiederherstellung der Streitbeilegungsmechanismen der WTO auf den Tisch gebracht.

Katherine Tai, die neue Handelsbeauftragte der Vereinigten Staaten, hat kürzlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich mit den Chinesen auseinanderzusetzen. Zwischen amerikanischen und EU-Handelsvertretern fanden Treffen statt, bei denen über gemeinsame handelspolitische Reaktionen gegenüber China beraten wurde. Bisher gibt es für die Öffentlichkeit nur wenige Indizien dafür, welche konkreten Massnahmen dabei in Betracht gezogen werden. Es ist jedoch zu hoffen, dass bei den Konsultationen auch andere wichtige Handelsnationen einbezogen werden und über den gegenseitigen Abbau der Barrieren des «Handelskriegs» gesprochen wird. Die WTO soll dabei als Institution zur multilateralen Problemlösung eine Plattform bieten.

Der Freihandel muss gestärkt werden

Das künftige Wachstum der internationalen Wirtschaft wird viel zufriedenstellender ausfallen, wenn das offene multilaterale Handelssystem und die WTO so angepasst werden, dass neue Themen wie zum Beispiel der E-Commerce in ihren Geltungsbereich einbezogen werden. Es besteht zudem ein dringlicher Bedarf an internationalen Handelsregeln für medizinische Produkte, die eine effiziente Produktion in den Niedrigkostenländern ermöglichen – entweder durch das Schaffen einer neuen internationalen Organisation oder den Ausbau der WTO oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr, dass sich die Behörden verschiedener Länder gezwungen sehen, ihre eigenen Forschungs-, Ausbildungs- und Produktionseinrichtungen für die Lieferung dieser Produkte zu errichten. Weltweite Selbstversorgungsbemühungen würden mit Sicherheit die Kosten für Gesundheitsgüter in die Höhe treiben und damit die ärmsten Länder besonders benachteiligen. Ganz im Gegensatz dazu würden sich die Aussichten für das globale Wachstum eindeutig verbessern, sollten Schritte zur Wiederherstellung und Stärkung des internationalen Handelssystems gelingen: Beispielsweise gibt es gerade bei der Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs weiterhin grosses Verbesserungspotenzial.

Ich bin zuversichtlich, dass die Staaten der Versuchung, na­tionalistische Mauern zu errichten, widerstehen können und stattdessen am offenen multilateralen System teilhaben wollen. Sollten die Protektionisten bedauerlicherweise dennoch die Oberhand gewinnen, werden sich sowohl das Weltwirtschaftswachstum als auch die Pandemiebekämpfung verlangsamen. Länder, die ihre Mauern hochfahren, müssen mit steigenden Gesundheitskosten und sinkenden Realeinkommen rechnen. Es bleibt zu hoffen, dass die Biden-Regierung konstruktiv zur Wiederherstellung des multilateralen Systems beitragen kann. Denn sonst werden uns die Vorzüge eines offenen Welthandels auf die harte Tour aufgezeigt – durch seine Absenz.

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