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Die Null-Fehler-Mentalität

Ob Hightech oder Massenproduktion – Pius Baschera hat Vertrauen in die Zukunft der Schweizer Industrie. Im Gespräch über Mentalitätsfragen, Unternehmenskulturen und ein akademisches Proletariat wird klar: Innovation bedeutet, aus Fehlern zu lernen.

Herr Baschera, Hilti beliefert sozusagen aus dem kleinen Liechtenstein die ganze Welt mit Werkzeugen im Bereich der Befestigungstechnik. Der «Mut zur Veränderung», der den saturierten europäischen Gesellschaften gemeinhin eher abgesprochen wird, ist das Hauptcredo der Hilti’schen Unternehmenskultur. Welche länderspezifischen Unterschiede beobachten Sie in
Sachen Innovationsmut?

Mut zur Innovation finden Sie auf der ganzen Welt, nur sind die Vorgehensweisen oftmals unterschiedlich. In Deutschland oder der Schweiz beispielsweise plant man intensiv, analysiert, plant nochmals und verfeinert die Analyse – während in Amerika in der gleichen Zeit drei konkrete Versuche gemacht werden. In den USA funktioniert das häufig nach dem Motto: ready, fire, aim, während das europäische und besonders das germanische Denken eher umgekehrt abläuft. Unabhängig von solchen mentalen Spezifitäten aber setzt der Mut zur Innovation eine Kultur voraus, die auf Vertrauen basiert und Fehler zulässt. Wo Risiken eingegangen werden, passieren Fehler. Für eine innovationsfördernde Kultur ist es zentral, diese Fehler nicht als Schuld, sondern als Chance zu verstehen. Aus solchen Erfahrungen lernt man, und zwar mehr als aus Erfolg.

Gerade damit tut sich die Schweiz mit ihrer Null-Fehler-Mentalität aber schwer: Wer hier scheitert, ist nicht um eine Erfahrung, sondern um das gesellschaftliche Stigma des Versagers reicher.

Das ist leider oft der Fall, übrigens auch in Deutschland. Wir sind eher fehleravers und zögerlich im Umgang mit Risiken. Gerade wieder hat eine Studie des Global Entrepreneurship Monitor (GEM) belegt, dass kulturelle und soziale Normen jene Faktoren sind, die den Unternehmergeist in unseren Breiten am stärksten behindern. Und es sind diese habituellen, verinnerlichten Faktoren, die sich nicht einfach durch Verstandesaufklärung oder Befehl von oben ändern lassen. Eine Kulturgemeinschaft, könnte man sagen, hat ein starkes kulturelles Beharrungsvermögen. Im überschaubaren Bereich eines Unternehmens kann jedoch eine Risikokultur gedeihen, wenn sie von allen gelebt wird. Und das Vorleben beginnt ganz oben.

Dem Erfolg des Landes scheint dieses Hemmnis jedoch keinen Abbruch zu tun. Die Schweiz gilt als Innovationsleader und verfügt über eine verhältnismässig starke Wirtschaft.

Zum Ziel der Innovation führen unterschiedliche Wege. Mit überlegter, strukturierter Vorgehensweise sind hervorragende Neuigkeiten zu entwickeln. Als innova­tionsbehindernd würde ich unsere Kultur deshalb auf keinen Fall bezeichnen, und komplett risikoavers sind wir natürlich auch nicht. Innovationskraft hat aber auch mit Offenheit und Integrationsfähigkeit zu tun und basiert oft zu einem grossen Teil auf internationaler Zusammenarbeit. Und dies sind klare Stärken der Schweiz. Auch in unserem Headquarter in Schaan arbeiten Leute aus über 60 Ländern; häufig ist es gerade diese kulturelle Vielfalt, die Ideen befruchtet.

Einverstanden: auch dank ihrer Internationalität steht die Schweiz international gut da. Auffallend ist doch aber, dass die Stimmung im Land diesen guten Stand nicht spiegelt, sondern gedämpft bis schlecht ist. Geht es uns einfach so gut, dass wir uns selbst das Jammern leisten können, oder wo sonst rührt das Malaise her?

Es gibt unterschiedliche Gründe. Einerseits ist das wiederum eine Mentalitätsfrage. Wir haben bestimmt eine ausgeprägte Tendenz, den Fokus aufs Negative zu richten und uns schlechterzureden, als wir tatsächlich sind. Andererseits gibt es aber schon auch real issues, veritable Herausforderungen, die bei jedem, der in etwas grösseren Zusammenhängen denkt, ein Unbehagen auslösen müssen – ein Unbehagen, das über den mental verankerten Hang zur Schwarzmalerei hinausreicht.

Woran denken Sie hier in erster Linie?

Von grösster Wichtigkeit sind die Beziehungen zur EU. Wir sind abhängig von diesem Raum, nicht nur wegen der Exporte, sondern auch wegen einer Reihe elementarer Beziehungen in Forschung, Entwicklung, Produktion, Verkauf. Das ist keine weltanschauliche, das ist eine rein praktische Frage. Eine kluge Verzahnung unter Wahrung der Eigenständigkeit – das ist der kluge Kurs der Schweiz. Dass es in der EU derzeit schwierig ist, kompliziert nun freilich die Situation – je schlechter die wirtschaftliche Situation, desto grösser der politische Druck der EU. Wenn die bilateralen Abkommen mit ihr an ein Ende kommen oder gar scheitern, dann sehe ich echt ein Problem für die Schweiz. Darüber hinaus stellt sich natürlich mit Blick auf die sinkende wirtschaftliche Dynamik Europas auch die Frage, wie wir den direkten Han-del mit aussereuropäischen Märkten, mit asiatischen oder südamerikanischen Ländern, aufbauen können. Dringend notwendig sind dazu Doppelbesteuerungs- und Freihandelsabkommen, und hier wie im Fall der EU gilt: Finden wir keine Lösungen, werden wir bald Probleme haben, echte Probleme.

Die EU hat ja ungeachtet ihrer Drohgebärden auch ein starkes wirtschaftliches Interesse an guten Beziehungen zur Schweiz. Aber unabhängig davon – würden Sie sagen, dass die hiesige Landesstimmung Problemlagen antizipiert, die durch das Zahlennetz von Rankings und Statistiken fallen?

Ich würde es so sagen: Die Statistiken stimmen, wir sind vorne, und die heutige Stimmung ist sicher schlechter als die heutige Situation. Allerdings müssen wir aufpassen, dass die Stimmung nicht Realität wird. Es gibt da eine Reihe von grundlegenden Dingen, die wir beachten und unbedingt in die richtige Richtung lenken müssen.

Konkreter, bitte.

Grundsätzlich geht es darum, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu halten oder zu stärken. Dabei lohnt es sich, aus den Fehlern anderer Länder zu lernen. Kürzlich ist eine Studie der Harvard Business School herausgekommen, die die Gründe für die sinkende Wettbewerbsfähigkeit der USA beleuchtet. Der entrepreneurial spirit ist dort zwar immer noch gut und bedeutend besser als bei uns, da können wir nicht mithalten. Die Entwicklungen aber, die in Amerika als Problemquellen eruiert wurden, gilt es bei uns um jeden Preis zu vermeiden. Der Reihe nach sind dies: ein entscheidungsunfähiges Politsystem, ein geschäftsbehinderndes Justizsystem…

…zwei Pfeiler, die bei uns auch schon mal solider waren! In den letzten Jahren hat sowohl die Stabilität des Politsystems als auch die Sicherheit unseres Rechtsstaates gelitten.

Ich sage ja: Wir müssen aufpassen. Von amerikanischen Verhältnissen, wo die Politik sich durch ein Zweiparteiensystem oftmals blockiert und Geschäfte zu häufig durch ein Rechtssystem erschwert werden, das jeder Mücke mit einer Sammelklage zu Leibe zu rücken droht, sind wir aber doch noch ein gutes Stück entfernt. Das gleiche gilt für andere amerikanische Problemfelder: das Ausbildungssystem, das sich
unterhalb der Top-Unis als ungenügend ausgereift präsentiert, und zuletzt die Abwanderung von wirtschaftlicher Produktion, Forschung und Entwicklung, die zu einer sehr einseitigen, fast ausschliesslich auf Serviceindustrien ausgerichteten Wirtschaftsstruktur geführt hat.

Haken wir gleich bei diesem letzten Punkt ein: Genau eine solche Monokultur haben wir doch auch bei uns herangezogen.

Nein, das sehe ich anders!

Nein? Was ist denn der immer stärker gewordene Tertiärsektor anderes?

Ja, wir haben einen starken Finanzplatz in der Schweiz, und das ist gut so. Daneben haben wir aber einen erfolgreichen Sekundärsektor, der nicht zu vernachlässigen ist, auch wenn die Medien weniger darüber berichten!

Seit längerem aber befindet sich die Schweiz in einem Deindustrialisierungsprozess. Hat nicht gerade der wirtschaftliche Verlagerungsprozess in Richtung unfassbarer Produkte auch seinen Anteil am grassierenden Unbehagen?

Sicherlich ist die Bedeutung dieses Sektors gesunken, aber keinesfalls so stark wie angenommen, und von einem Verschwinden kann schon gar nicht die Rede sein. Immerhin sind noch 22 Prozent der Erwerbstätigen im sekundären Sektor beschäftigt. Eine Verlagerung findet insbesondere ins Ausland statt. Viele Industriefirmen haben ihre Investitionen in den letzten Jahren nicht in der Schweiz getätigt und damit das Arbeitsplatzwachstum anderswo stattfinden lassen. Vielleicht daher auch das Unbehagen. Am Ende ist es die Frage nach dem richtigen Fokus: In welche Dinge ist es sinnvoll zu investieren und in welche nicht? Weil es zum Beispiel kaum mehr Sinn ergibt, in der Schweiz Textilien zu fertigen, ist es folgerichtig, dies an anderen Orten tun zu lassen.

Das amerikanische Beispiel lehrt aber, dass es wichtig ist, auch Produktion im Land zu halten. Worauf sollte die Schweiz also sinnvollerweise setzen?

Da gibt es viel, wichtig ist sicher die ganze Pharmaindustrie, daneben könnte man aber auch viel stärker in Richtung Massenproduktion gehen, etwa im Bereich von hochautomatisierten, mechanischen Waren wie Uhren. Swatch hat ja diesbezüglich ein hervorragendes Beispiel geliefert. Grundsätzlich soll all das im Land behalten werden, wofür die Strukturen und das Know-how vorhanden sind. Im Prinzip sind dies die beiden Optionen: Hightech oder Massenproduktion.

Unser Know-how, gerade auch das technologische, ist in den Boomjahren verstärkt in den Finanzsektor geflossen. Ist dessen Krise eine Chance für die Schweiz als Technologiestandort?

Ich will keinen Rüge-Anruf von Sergio Ermotti riskieren und sage nur: Natürlich war es problematisch für die Industrie, dass viele gute Ingenieure aus der Branche wegmarschiert sind, weil die Löhne anderswo attraktiver waren. Anderseits ist es auch verständlich. Zum Glück gibt es eine qualifizierte Zuwanderung.

Gut, wir denken uns den Rest. Wünschenswert wäre eine Stärkung allemal, insbesondere im Bereich der zukunftsträchtigen
Informations- und Kommunikationstechnologien, wo die Schweiz der internationalen Entwicklung eher hinterherhinkt. Braucht es hier grössere staatliche Investitionen?

Wenn der Staat mehr investieren soll – tatsächlich sind wir bei den staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung nicht vorne mit dabei –, dann in die Grundlagenforschung. Der Rest ist Sache der Wirtschaft. Und die ist auf den jungen Feldern mit Wachstumspotential so schwach nicht. Immerhin haben wir zum Beispiel in Zürich das Google Research Center und das Disney Lab an der ETH oder in Rüschlikon das IBM Research Center.

Das wäre dann die Strategie, innovative Firmen und Leute anzuziehen, anstatt sie alle selber auszubilden?

Ja, das ist eine zentrale Option, die wir haben und unbedingt nutzen müssen. Unser politisches, rechtliches und infrastrukturelles Umfeld stimmt für viele ausländische Firmen und Personen. Das sind unsere Vorteile, die wir keinesfalls aus der Hand geben dürfen, denn wir brauchen die Leute aus dem Ausland, wir können ja all die grossen Firmen, die wir hier haben, unmöglich nur mit dem Personal führen, das wir in der Schweiz zur Verfügung haben. Das heisst: unsere Offenheit gegenüber dem Ausland ist eine unserer Stärken und gleichzeitig der Ast, auf dem wir sitzen. Diesen abzusägen wäre das Allerdümmste, was man tun könnte.

Sprechen wir aber doch auch noch über die Ausbildung im Land selber, die Sie zuvor als wichtigen Punkt für die Wettbewerbsfähigkeit aufgelistet haben. Wie beurteilen Sie den Zustand unseres Bildungssystems?

Wir müssen dringend schauen, dass unsere Ausbildungssysteme auf dem jetzigen Niveau bleiben oder sich noch verbessern. Dazu muss man auf tiefer Stufe beginnen und dort unbe-dingt die naturwissenschaftlichen Fächer wieder stärker fördern. Im Vergleich zu den USA verfügen wir aber natürlich mit unserem dualen System über einen grossen Vorteil. In Amerika Leute für die Produktion zu bekommen, ist bekanntermassen schwierig – als Barack Obama Steve Jobs fragte, weshalb er seine Telephone nicht in den USA herstelle, war dessen Antwort klipp und klar: «Ich finde hier nicht die passenden Leute.» Diesbezüglich sind wir besser aufgestellt.

Das duale System sieht sich aber vermehrt in Frage gestellt. Braucht es zur Förderung unserer innovativen Forschung und Entwicklung mehr Akademiker?

Wer dieses System in Frage stellt, liegt meiner Meinung nach falsch. In den vergangenen Jahren haben wir eine starke Durchlässigkeit zwischen praktischem und universitärem System geschaffen, das ist wunderbar, und das müssen wir unbedingt beibehalten. Wir brauchen beide Seiten; deren Zusammenspiel bringt die besten Resultate. Bei Hilti etwa arbeiten in der zentralen Forschungsabteilung rund 60 Leute mit Universitätsabschluss, die restlichen 40 kommen von einer Fachhochschule. In der Entwicklung stammt sogar die grosse Mehrheit aus dem ausseruniversitären Feld, und so ist es in vielen Firmen. Die Fachhochschüler sind im Business häufig gefragter als die Hochschulabsolventen, weil sie praxisnaher sind. Kurz: die verstärkte Akademisierung der Ausbildung ist in meinen Augen nicht der richtige Weg. Wir sollten hier kein akademisches Proletariat schaffen, das ist im Ausland schon stark genug.

Selber arbeiten Sie als Professor of Practice daran, ETH-Absolventen praxistauglicher zu machen. Mit welchem Erfolg?

Soeben ist unser Departement und damit auch mein Lehrstuhl von externen Experten evaluiert worden, das Ergebnis ist sehr erfreulich: Wir leisten einen merklichen Beitrag zur Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Zum Beispiel haben wir mit 20 Konzernen einen «Leadership-Circle» gegründet, um ETH und Wirtschaft einander näherzubringen. Mein Lehrstuhl bietet einen Kurs, der die wichtigsten Grundlagen des Managements, Gesprächstechniken oder Konfliktlösungskonzepte vermittelt – sehr fundamentale Dinge, von denen jemand, der die ETH verlässt, zumindest eine Ahnung haben sollte. Und natürlich versuchen wir auch den Unternehmergeist zu verbreiten, indem die ETH zusammen mit McKinsey und der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) etwa regelmässig einen Wettbewerb ausschreibt, der jungen Teams die Möglichkeit gibt, ihre Ideen in einen Businessplan zu übersetzen. Gerade in diesem Bereich läuft an der ETH viel.

Heisst das, dass die junge Generation dabei ist, die schweizerische Angst vor dem Scheitern zu überwinden?

Sicher ist: es tut sich Beachtliches. Während die ETH noch vor 20 Jahren jährlich gut ein bis zwei Start-ups hervorgebracht hat, sind es heute 20 bis 25. Pro Studentenkopf gerechnet, sind wir damit auf der Höhe von amerikanischen Universitäten. Dass damit gleich die ganze Mentalität umgekrempelt wird, ist nicht anzunehmen. Unser allzu bescheidenes Auftreten könnten wir gerade im Hinblick auf solch positive Zahlen aber durchaus mal abzulegen beginnen.

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