Die neuen Staaten und das Meer
Die heutigen Nationalstaaten bilden ein Kartell, um institutionelle Fortschritte zu verhindern, findet Jungunternehmer Patri Friedman. Deshalb will er mit schwimmenden Städten das Meer besiedeln und noch vor 2023 einen Markt für Staatsexperimente schaffen. Wird er die Staatenwelt revolutionieren?
Wo stehen wir heute? Der Status quo westlicher Staaten ist für immer mehr Bürger unbefriedigend. Für diesen ernüchternden Befund gibt es zahlreiche Indikatoren: Politikverdrossenheit, gesellschaftlichen Zynismus, wirtschaftliche Stagnation. Ich denke, dass die Tendenz zur Verkrustung in existierenden Regierungsformen bereits im Kern enthalten ist. Wir leben im 21. Jahrhundert in Nationalstaatsmodellen aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert! Deshalb braucht es für einen funktionierenden Wettbewerb unter politischen Systemen Neueinsteiger mit neuen Angeboten. Wenn Angebote jenseits der heute offerierten nationalstaatlichen Palette entstehen, kann der einzelne mit den Füssen statt mit dem Stimmzettel abstimmen. Und allein dadurch kommt es zu jenen institutionellen Innovationen, die gerade westliche Gesellschaften dringend brauchen.
Wie kommen wir also über den Status quo hinaus? Indem wir nicht nur nachdenken, sondern zu handeln anfangen. Genau das habe ich im Jahre 2008 getan. Ich will, dass Menschen die Ozeane besiedeln und dort in der Praxis politische Systeme ausprobieren, die unser künftiges Zusammenleben auf eine neue Stufe heben und Bürgersein wieder zu einer Qualität werden lassen.
Meine Idee ist einfach: Ich behaupte, die Leistungen unserer politischen Systeme könnten viel besser sein, würde es neuen Akteuren leichter gemacht, in den Markt einzutreten und den Wettbewerb anzufeuern. Wenn Menschen auf offenem Meer Start-up-Staaten gründen und dort freiwillig viele Arten von Governance testen, kommt es natürlich auch zu Überschuss – also zu viel Schrott und Unsinn. Gleichzeitig wird aber eine Dynamik losgetreten, die in der Staatenwelt die gleichen Fortschritte wie in anderen Technologien ermöglicht. Es entstehen plötzlich wie von Zauberhand viele verschiedene Optionen, aus welchen die Menschen dann auswählen können. Im folgenden werde ich mein Projekt vorstellen, um zu zeigen, dass ein Wettbewerb von Staatsmodellen die Welt verbessert – nicht erst morgen, sondern hier und heute.
Governance ist eine Technologie
Die meisten Menschen denken beim Thema Regierung nicht an Technologie. Aus ihrer Sicht ist die Kunst des Regierens eine abstrakte Grösse und die gerade herrschende Demokratie die beste unter allen möglichen Staatsformen. Demokratie, what else? Versteht man politische Systeme jedoch als Produkte von Governancetechnologien, stellen sich plötzlich viele neue Fragen: Stehen die staatlichen Dienstleistungen angesichts der Steuern, die ich dafür bezahle, in einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis? Kann ich mich mit meinem Engagement wirklich einbringen und etwas bewegen? Entwickelt sich das politische System weiter, wird es verbessert und erneuert? Falls nicht: Welche Möglichkeiten gibt es, institutionelle Innovationen zu lancieren, die den verschiedenen Bedürfnissen verschiedener Menschen gerecht werden?
Beginnen wir mit einem Vergleich, den die meisten aus ihrem Alltag kennen. Ein Unternehmen wie Apple hat es geschafft, neue Technologien zu entwickeln, die die Art und Weise prägen, wie wir heute Musik hören. Entstanden sind Geräte aus Plastik, Metall und Glas, die Informationen verarbeiten, Prozesse ausführen und Regeln folgen, die Daten und Computerchips zum Klingen bringen, kurz: die «Musik machen». Wir sind es gewohnt, dass die technologische Entwicklung in den meisten Sphären rasant voranschreitet. Medizin, Telekommunikation, IT, Fortbewegung – überall werden Produkte ständig besser, schneller, praktikabler.
Ein Gerät wie der Walkman, Sonys Erfindung aus den 1980er Jahren, tat im Prinzip nichts anderes als der iPod. Nur wurde das tragbare Kassettenabspielgerät bereits kurz nach der Erfindung des kleinen Datenträgers komplett vom Markt gefegt.
In Sachen Regierungs- und Staatstechnologie nun findet Fortschritt weder mit ähnlicher Geschwindigkeit noch mit ähnlichen Qualitätssprüngen statt. Die Staatsformen haben sich zwar weiterentwickelt, aber die letzte wirkliche staatspolitische Veränderung, die es verdient, als Innovation bezeichnet zu werden, war die Gründung der USA und die Erprobung einer neuen föderalen Demokratie. Seitdem sind über 200 Jahre vergangen. Soll das nun der Weisheit letzter Schluss sein? Ist dies das Ende der Geschichte?
Die Vision
Bis 2023, so mein Ziel, möchte ich sehen, wie die Zahl jener Gruppen explodiert, die auf dem Ozean zu leben versuchen. Leute tun sich zusammen und legen Regeln für das eigene Zusammenleben fest. Binnen 20 Jahren werden wir brauchbare Resultate und auswertbare Daten haben und wissen, was in der Realität Erfolg hat und was nicht. Viele Versuche neuer Formen des Zusammenlebens werden scheitern, aber das ist gar nicht schlimm. Denn es handelt sich um kleine Experimente, die nur kleinen Schaden anrichten – und jederzeit angepasst werden können. Systeme, die aus verschiedenen Gruppen mit verschiedenen Regelwerken bestehen, sind viel robuster angelegt als jene mit einem uniformierten Design. Sollte es in der einen Gruppe zu inneren Konflikten oder zu Bankrott kommen, kann auf die Lösungen des Nachbarn zurückgegriffen und diese innerhalb kurzer Zeit übernommen werden.
Warum auf dem Wasser? Bei Rechtsformen handelt es sich letztlich immer um virtuelle Sphären. Mit der Festlegung von Zonen wird bestimmt, welche politische Ordnung für ein bestimmtes Gebiet gelten soll. Die Grenzen der Zone sind aber irgendwo auf einem Reissbrett gezogen worden und können mit einem einzelnen Federstrich verändert werden. Dies geschieht heute nur noch zwischen den einzelnen Regierungen, mit denen man sich anlegen müsste, um autonom zu leben. Da Blutvergiessen und Bürgerkrieg nicht der Weg sein können, bleibt nur das Wasser, wo das Territorialprinzip zumindest teilweise ausser Kraft gesetzt ist.
Vor knapp fünf Jahren habe ich deshalb mit Unterstützung des Unternehmers Peter Thiel das Seasteading-Institut gegründet, das einem einzigen Zweck gewidmet ist: die flexible Besiedelung der Ozeane in die Tat umzusetzen. Dies ist kein einfaches Unterfangen, aber die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg ist höher als jene der anderen libertären Projekte, von denen ich bisher Kenntnis habe. Ich bin kein Träumer, sondern orientiere mich an der Umsetzbarkeit in der real existierenden Welt. Dass es grundsätzlich möglich ist, auf dem Ozean zu leben, zeigen 25 Millionen Menschen, die jedes Jahr eine Kreuzfahrt unternehmen. Ein Kreuzfahrtschiff ist praktisch eine flottierende Stadt. Es stellt Strom, Wasser und Nahrung bereit – und das alles zu einigermassen vernünftigen Preisen.
So arbeiten wir also darauf hin, dass vor der Küste Kaliforniens oder in anderen Ozeanen viele kleine schwimmende Dörfer entstehen. Diese Siedlungen haben Verträge mit Staaten geschlossen, in deren Gewässer sie flottieren. Das gibt ihnen politische Autonomie mit einigen Einschränkungen. Seasteads, wie wir diese Ozeandörfer und -städte nennen, können zu Technologie-Inkubatoren werden. Sie können von der regulatorischen Unbeflecktheit des Ozeans profitieren und zu Spezialzonen für Innovationen werden.
Starrheit und Dekadenz
Die Staatsindustrie – gemessen am Umsatz wäre sie die wohl weltweit grösste Industrie – kann Innovationen gut gebrauchen. Denn jede Form von Herrschaft wird über kurz oder lang starr. Die Organisation saturierter Zivilisationen verkrustet im Laufe der Zeit, der Staat baut Leistungsfähigkeiten ab und schraubt im Gegenzug die Preise hoch. Das gilt auch und gerade für westliche Demokratien.
In den USA und Europa häufen sich Fälle, in denen Gesetze durch Partikularinteressen instrumentalisiert werden. Politiker und Verwaltungen sorgen dafür, dass sich die Regeln des Zusammenlebens nach ihren eigenen Interessen richten. Unzählige Ausnahmen im US-Steuersystem und verschwenderische Ineffizienz von Verwaltungen zeugen davon, was die Public-Choice-Theorie wissenschaftlich analysiert hat: In modernen Demokratien findet ein permanenter Kampf um staatliche Pfründen statt, Interessengruppen nehmen das System in Beschlag und instrumentalisieren es für ihre eigenen Zwecke. Neue Gesetze gebären neue Gesetze in Endlosschleife, bis am Ende selbst spezialisierte Juristen und Verwaltungsbeamte die Übersicht verloren haben. Die sich selbst erzeugende Bürokratie sorgt dafür, dass die Bürger immer weniger für mehr Geld bekommen. Die steigenden Kosten haben sich in den letzten Jahren besonders bemerkbar gemacht. Schaut man sich die Entwicklung der Staatsschulden in Europa und den USA der letzten Jahre und Jahrzehnte an, so besteht eigentlich Einigkeit darüber, dass dies kein dauerhafter Zustand sein kann.
Die heute erlebten ökonomischen Instabilitäten und sozialen Unruhen führen nicht von heute auf morgen dazu, dass das System auseinanderbricht. Eine mächtige Zivilisation ist durchaus in der Lage, über längere Zeit am Abgrund entlang zu balancieren – und für den Erhalt des Status quo über Jahrzehnte mächtige Ressourcen aufzuwenden, die anderswo besser investiert werden könnten.
Zugegeben, in Sachen Wohlstand und Entfaltungsmöglichkeiten geht es Europa und den USA noch immer besser als vielen anderen Regionen dieser Welt. Aber mir genügt es nicht, bloss im weniger schlecht abschneidenden Land zu leben. Ich möchte, dass neue Länder entstehen, die besser funktionieren und zufriedenere Bürger hervorbringen als unsere heutigen Staatenmodelle. Und ich möchte, dass sich das Wissen über Regierungstechnologien vermehrt – nicht durch abstrakte philosophische Diskurse über die ideale Staatsform, sondern durch konkrete Erfahrungen von Menschen, die aus diesen lernen. Ich will mehr Experimente und mehr Daten.
Menschen denken gerne über ideale Welten nach, in denen alle glücklich, sicher und wohlgenährt sind. Doch nur über neue Modelle nachzudenken genügt nicht. Man muss sie umsetzen, in der Praxis ausprobieren, denn Erfahrungen sind unendlich viel nützlicher als reine Denkspiele. Und welcher Staat jenseits von China, welche Gruppierung jenseits islamischer Fundamentalisten testet zurzeit die Alternativen, die jetzige westliche Regierungsformen einst ablösen könnten?
Exit und Wettbewerb
Wenn Kunden mit der Leistung ihres Mobilfunkbetreibers nicht zufrieden sind, wenden sich die wenigsten an den CEO der Firma oder beklagen sich in Leserbriefen darüber, dass der Preis für das Angebot zu hoch sei. Sie wechseln einfach zum Konkurrenten. In den 1960er Jahren gab es in Grossbritannien nur ein paar wenige staatliche Radiostationen. Vor allem jüngere Hörer wollten Rock’n’Roll, aber die Stationen spielten klassische Musik. Also gingen Leute auf Boote und verlassene Ölplattformen und betrieben von dort aus Piratensender, die Rock spielten. Innerhalb kürzester Zeit gewannen sie hohe Marktanteile unter britischen Radiohörern. Damals war es nach internationalem Seerecht noch legal, vom Meer aus einen Piratensender zu betreiben. Um der ungeliebten Konkurrenz die Geschäftsgrundlage zu entziehen, verbot darauf die britische Regierung auf dem Festland registrierten Firmen, in den Sendungen Werbung zu schalten. Der Protest war gross. Am Ende blieb der britischen Regierung nichts anderes übrig, als den Radiomarkt zu liberalisieren. Die Folge: viele Stationen begannen umgehend, Rock zu spielen. Eine Innovation von aussen zwang die etablierten Player, sich anzupassen und zu reformieren.
Unzufriedene Kunden senden Signale aus, indem sie das Produkt wechseln – dieser für Unternehmen lebenswichtige Mechanismus wäre auch für Staaten eine grosse Chance: Ihre Bürger brauchen Ausstiegsmöglichkeiten und Wahlfreiheit. Wenn wir heute mit unseren Regierungen nicht zufrieden sind, machen wir unseren Ärger öffentlich kund, schreiben Leserbriefe oder engagieren uns politisch in der Hoffnung, etwas zu verändern. Doch das dauert Jahre, raubt uns die letzten Energien – und die Veränderung bleibt im besten Fall minimal, weil das System auf Trägheit angelegt ist. Albert O. Hirschmann spricht in seinem Buch Exit, Voice, and Loyalty davon, dass Voice in Form von Protest ein Instrument sei, um Änderungswünsche auszudrücken. Ich glaube aber, dass der Exit eine stärkere Ausdrucksform ist als die Voice.
Aber in der Welt der Staaten haben wir es faktisch mit einem klassischen Kartell zu tun: Weil die existierenden Staaten freiwillig kein Territorium abgeben, gibt es keine wirkliche Möglichkeit, neue Regierungstechnologien auszuprobieren und Start-up-Staaten ins Leben zu rufen.
Die Ozeane sind die neue Frontier
Blicken wir auf die Besiedlung der USA zurück. Interessanterweise trieben die Frontierstaaten, also die frisch besiedelten Staaten, neue Entwicklungen voran, die in den «alten Staaten» an der Ostküste übernommen wurden. Das Stimm- und Wahlrecht für Frauen zum Beispiel entstand in Wyoming, Idaho, Utah und Colorado, bevor es dann in den gesamten USA eingeführt wurde. Den Schweizern müssen die damaligen Vorbehalte und Argumente der Oststaaten bekannt vorkommen. Man behauptete: «Frauen haben bisher nicht gewählt, und weil sie bisher nicht gewählt haben, wissen sie auch nicht, wie es richtig gemacht wird. Sie haben keine Ahnung, also werden sie falsche Entscheidungen treffen – und alles wird auseinanderfallen!» Nun, die neu entstehenden Frontierstaaten benötigten Bevölkerungswachstum und mussten den mit vielen Risiken verbundenen Aufbruch nach Westen für Frauen schmackhaft machen. Um diese anzuziehen, führten viele Frontierstaaten das Wahlrecht für Frauen ein. Die frühe Modernisierung der Randstaaten erfolgte aus demographischem Zugzwang, hat aber bereits nach wenigen Jahrzehnten etablierte Denkstrukturen ausgehebelt und zu einem nationalen Frauenstimmrecht geführt. Das ist nur ein Beispiel für den grösseren Innovationswillen neu entstehender Territorien.
Der plausibelste und umsetzbarste Weg, in der real existierenden Welt Freiräume zu schaffen, besteht heute darin, dort neue Staaten zu gründen, wo noch keine sind: auf den Ozeanen. Sie sind die neue Frontier.
Wie sich Seasteads intern organisieren, ist dabei ihren Bewohnern selbst überlassen. Es sind Experimente, durch die wir dann erfahren, wie viel solche Kleinstaaten kosten, wie sie funktionieren und was es braucht, um sie zu gründen. Bis dahin ist es ein langer Weg, der mit vielen Hürden aufwartet. Zum Beispiel mit der Hürde des internationalen Rechts.
Rechtliche Hürden
Während des Schreibens an meinem Buch über Seasteading – es befindet sich noch im Entstehungsprozess – stiess ich auf eine Strategie, mit der den rechtlichen Schwierigkeiten des Projekts begegnet werden kann: die Gründung internationaler Häfen. Auf hoher See ist es sehr teuer und schwierig, überhaupt zu ankern. Man kann praktisch keine Schiffe aneinander vertäuen, geschweige denn Frachtgut austauschen. Also kam mir die Idee, die Vorteile des internationalen Rechtsrahmens mit meinen praktischen Überlegungen diesbezüglich zu kombinieren. Nach internationalem Recht wird alles, was mit dem Meeresboden verbunden ist, durch den geographisch nächstgelegenen Staat reglementiert. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich die Konstruktion innerhalb der sogenannten «ausschliesslichen Wirtschaftszone» befindet – ein Streifen, der sich bis zu 200 Seemeilen weit vor dem Festland ausdehnt. Findet man also ein seichtes Gewässer ausserhalb von 12 Seemeilen, kann man mit dem entsprechenden Staat das Abkommen treffen, eine Mole oder einen Wellenbrecher zu bauen.
Die geschützte Lagune läge dann im rechtlichen Zuständigkeitsbereich des Staates. Es geht also zunächst nicht um politische Autonomie, sondern um eine Plattform, an der die Schiffe andocken können. Diese Schiffe unterliegen dann aber nicht den Gesetzen des Staates, innerhalb dessen «ausschliesslicher Wirtschaftszone» sich die Lagune befindet. Denn für Plattformen oder Schiffe ohne feste Verbindung zum Meeresboden gilt: wenn sie ausserhalb des Hoheitsgewässers (12-Seemeilen-Zone) unterwegs sind, unterliegen sie den Gesetzen des Staates, unter dessen Flagge sie registriert sind. Das entspricht einer virtuellen Assoziation innerhalb eines wettbewerblichen Marktes. Die Ausflaggung ermöglicht, jederzeit ins Schiffsregister eines anderen Staates zu wechseln. Ich nenne diese Lösung «International Marina».
Sie werden nun denken: Jeder halbwegs wachsame Staat wird diesen Konkurrenzhäfen eine Zulassung verweigern oder gar aktiv gegen sie vorgehen. Aber tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass etwa die USA sich gegenüber Konkurrenten auf hoher See aggressiv verhalten – solange sich diese an die Regeln halten. Es kommt immer zu Situationen, in denen sich Staaten durch Mitbewerber herausgefordert sehen. Solange aber ein Seastead amerikanischen Bürgern nicht hilft, amerikanische Regeln zu brechen, und amerikanischen Bürgern nicht ermöglicht, sich ihrem Fiskus zu entziehen, ist das Risiko aggressiven Vorgehens gegen das Gastland gering.
Technische Hürden
Zu Beginn des Seasteading-Projekts dachte ich, dass man mit Start-up-Staaten auf hoher See starten und dort frei flottierende Städte bauen könne. Aber in jüngster Zeit wuchs in mir die Überzeugung, dass es sinnvoller ist, mit der Umsetzung in seichtem Gewässer zu beginnen. Das Bauen, Ankern und Verbinden von Seasteads auf hoher See ist wahnsinnig schwierig – und relativ leicht in seichtem Wasser. Wenn wir es dort schaffen, Seastead-Gemeinschaften zu bauen, bleiben als ungelöste Probleme nur noch jene, die Wellen und grosse Tiefen mit sich bringen.
Um den Ernstfall zu proben, erhielten wir von einem Spender ein 84 Meter langes Schiff geschenkt, das Platz für mehr als 900 Menschen bietet. Wir sind im Moment in der Phase der Due-Diligence, der Sorgfaltsprüfung, um es vermieten zu können. Es gibt eine Gruppe von Leuten, die das Schiff genau zu so einer frei flottierenden Gemeinschaft machen wollen – und vorhaben, es für den America’s Cup in die Bucht von San Francisco zu bringen. Wir sind auf die ersten Daten dieses Experiments gespannt. Daneben betreiben wir weiterhin intensiv Forschung zu den einfachen wie komplizierten technischen Herausforderungen, die das Leben auf dem Ozean stellt.
Geschäftsmodelle
Selbst wenn aber alle technischen und legalen Fragen beantwortet sind, brauchen Menschen immer noch einen guten Grund, ihren Lebensmittelpunkt auf die hohe See zu verlagern. Und dieser Grund besteht zunächst einmal in der Möglichkeit, dort profitable Geschäfte zu machen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Als Geschäftsmodelle bieten sich weiterentwickelte Varianten von bereits bestehenden Wirtschaftszweigen an. Zum Beispiel Medizintourismus, eine rasch wachsende Multimilliardenindustrie. Auf dem Ozean profitieren diese Siedlungen von regulatorischen Freiräumen, dank denen sie mit geringen Arbeitskosten preiswerte Behandlungen anbieten können, für die heute Patienten aus den USA nach Indien reisen. Ärzte könnten auf hoher See vielversprechende neue Behandlungsmethoden einführen, die noch durch die Mühlen der amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde laufen. Daraus entstehen lukrative Pionierprojekte.
Angestellte meines Thinktanks gründeten kürzlich das Unternehmen Blueseed, ein Unternehmen, das vor der Küste der USA ein Schiff platzieren will, auf dem Start-up-Unternehmern die Möglichkeit gegeben werden soll, ohne amerikanisches Visum Unternehmen zu gründen. Die rechtlichen Fragen sind in Abklärung. Wie immer: es ist ein langer Weg bis zur Umsetzung. Investoren müssen vom Geschäftsmodell überzeugt, Schätzungen von möglichen Kosten erstellt und Kunden gewonnen werden.
In Honduras gab es in den letzten Jahren eine Bewegung, die Zonen für eigene Rechtsräume schaffen wollte. Das Programm wurde am Ende durch das Verfassungsgericht abgeschossen, aber der Prozess hat gezeigt, dass Staaten generell offen sind gegenüber konkurrenzbetonten Ordnungen. Am Beispiel Honduras habe ich gelernt, dass es selbst dann nicht einfach ist, alternative Staaten ins Leben zu rufen, wenn ein «alteingesessener» Staat Bereitschaft zeigt, seine Verfassung hierfür zu ändern. Hierzu müssten zuerst die alten Vorstellungen von einem Nationalstaat und die Angst vor Landraub überwunden werden. Darauf mag ich aber nicht warten.
Die Chancen
Die Chancen auf Erfolg des Projekts würde ich auf vielleicht 25 Prozent schätzen. Und wenn es scheitert, so wird es zumindest vielen Leuten eine Inspiration sein. Aber selbst wenn Seasteading enorm erfolgreich würde und in 20 Jahren eine Million Menschen auf dem Meer leben, bleiben immer noch über 7 Milliarden Menschen, die auf dem Festland leben. Der grösste Einfluss, den Seasteads haben können, besteht darin, dass die neuen Lebensräume existierende Regierungen durch den Wettbewerb dazu bringen, sich zu verbessern.
Wir glauben, dass existierende Regierungsformen sich nicht wirklich verbessern, wenn sie nicht den Druck des Wettbewerbs spüren, Menschen und Unternehmen an Mitbewerber verlieren und ohne Alternativen vor Augen existieren. Ganz wichtig ist: unabhängig von den Regeln, die einzelne Seasteads für sich selber anwenden, müssen sie Menschen immer und überall ermöglichen, jederzeit abzuhauen und sich loszusagen. Das fördert die Disziplin. Denn egal, wie die unterschiedlichen Regeln auf den Seasteads aussehen – die Menschen müssen mit ihnen einverstanden sein.
Dieser Text beruht auf der bearbeiteten Aufzeichnung eines Gesprächs von Patri Friedman mit Florian Rittmeyer.