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Die neue alte deutsche Vision

Leben wir im postideologischen Zeitalter?
Von wegen. Ein Blick nach Norden
zeigt, dass ideologische Scheingefechte wieder im Kommen sind.

«Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe bleibt.» Das klingt nach Nostalgie, nach einem gerade in Deutschland längst ausgeträumten Traum. Klar, Nostalgiker sterben nie aus. Was aber, wenn diese Nostalgiker keiner Minderheit angehören, sondern den Ton angeben in einer der beiden grossen Volksparteien, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD)?

Kleine Zwischenbemerkung: auch in der Schweiz trifft man wieder auf eine ähnliche Rhetorik. «Durch die Überwindung des Kapitalismus wollen wir die Vorherrschaft der Ökonomie über den Menschen aufbrechen.» Wer diesen

Passus im Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) für Folklore hält, könnte sich täuschen. Solche Rhetorik ist en vogue wie schon lange nicht mehr. Jüngst hat der abtretende SP-Präsident Hans-Jürg Fehr in einem Interview mit der NZZ bekräftigt: «Die

Suche nach einer Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus bleibt meiner Meinung nach zentral für die SP.» Und sein Nachfolger Christian Levrat gab kurz darauf zu Protokoll, er sehe in der «Überwindung des Kapitalismus» ein primäres Ziel der Politik.

Zurück zu Deutschland. Im Herbst 2007 verabschiedete die SPD jenes neue Grundsatzprogramm, aus dem eingangs zitiert wurde. Dieses Hamburger Programm löst das Berliner Programm aus dem Jahr 1989 ab, das ein Loblied auf den demokratischen Sozialismus darstellte. Als dieses damals wenige Wochen nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 beschlossen wurde, war angesichts der turbulenten Ereignisse jedermann klar, dass es schon zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung einer Revision bedurfte. Da es die weltbewegenden Umbrüche nicht verarbeiten konnte, die mit dem Kollaps des Sozialismus und dem Fall der Mauer einhergingen, vermochte es fortan keine grosse Rolle zu spielen.

Mit der jüngsten Revision nun war die SPD bestrebt, den aktuellen Erfordernissen der Zeit – dem Wandel der Informations- und Kommunikationstechniken sowie der Globalisierung – Rechnung zu tragen. Aber statt eines Aufbruchs in die Zukunft vollführte die Partei ein Vorwärts in die Vergangenheit. Modernisierer, die auf den Bezug zum demokratischen Sozialismus verzichten wollten, konnten sich nicht durchsetzen. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokraten enthält vielmehr ein klares Bekenntnis zu diesem – historisch belasteten – Begriff. Da ist von der «stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus» die Rede. Und weiter: «Das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung hat die Idee des demokratischen Sozialismus nicht widerlegt, sondern die Orientierung der Sozialdemokratie an Grundwerten eindrucksvoll bestätigt.»

Dass eine Partei sich heute – knapp zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR – noch immer mit dem demokratischen Sozialismus identifiziert, scheint auf den ersten Blick paradox. Die Paradoxie löst sich freilich auf, wenn man die Mischung aus Realitätsverlust, Machterhaltungstrieb und Identitätsverlangen analysiert, die gegenwärtig die Stimmung beherrscht.

Nach den Agenda-2010-Reformen der rot-grünen Bundesregierung ab 2003, die auf eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts und einen Umbau des Sozialsystems zielten, erlebte die SPD eine harte Zeit. Die Senkung der Lohnnebenkosten und der Sozialausgaben, die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes sowie die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (Hartz IV) führten zu zahlreichen Mitgliederverlusten. Die Reformen waren zwar richtig, wurden aber von vielen Wählern nicht goutiert. Selbst in einem SPD-Stammland wie Nordrhein-Westfalen verlor die Partei 2005 die Regierungsmacht an die Christdemokraten (CDU). Der Rückgriff auf den demokratischen Sozialismus streichelt nun die sozialdemokratische Seele und führt zu einer Annäherung an die Gewerkschaften, den einst so mächtigen Bündnispartner.

Auch Kurt Beck kommt der demokratische Sozialismus sehr gelegen. Seit Frühjahr 2006 im Amt des Vorsitzenden, konnte er die Partei zunächst nicht aus dem Tal der Tränen führen. Der Befreiungsschlag gelang ihm schliesslich im Vorfeld des Hamburger Parteitags. Mit der Betonung des demokratischen Sozialismus als programmatischer Grundlage knüpfte er an die (einst erfolgreiche) SPD-Geschichte an und einte die Partei. Damit vollbrachte Beck eine taktische Meisterleistung. Sie bedeutete einen Sieg Becks gegen die Reformer Frank-Walter Steinmeier (Bundesaussenminister), Peer Steinbrück (Bundesfinanzminister) und Matthias Platzeck (Ministerpräsident von Brandenburg) und sicherte ihm den Parteivorsitz.

Der Machterhaltungstrieb des Parteivorsitzenden und das Identitätsverlangen der Parteibasis waren in diesem Moment deckungsgleich. Das ändert aber nichts am Realitätsverlust der SPD, der der Partei und ihrem Vorsitzenden noch manche Schwierigkeiten bereiten dürfte. Statt des ursprünglich als «neues Leitbild» beschriebenen «vorsorgenden Sozialstaats» ist die Bedeutung des «nachsorgenden Sozialstaats» im neuen Grundsatzprogramm gestärkt worden. Auch die Globalisierung – wiewohl Deutschland zu deren Profiteuren gehört – wird von der deutschen Sozialdemokratie inzwischen sehr viel kritischer gesehen. Schliesslich war im ursprünglichen Entwurf noch von der «solidarischen Mitte» die Rede, die von der «solidarischen Mehrheit» ersetzt wurde – als könne man die Mehrheit erreichen, indem man die politische Mitte preisgibt. Doch im Wolkenkuckucksheim scheint alles möglich.

Das «Vorwärts in die Vergangenheit» hat weitreichende politische Konsequenzen. Die SPD macht keinen Hehl daraus, dass sie sich wieder dezidiert als «linke Volkspartei» versteht. Gerhard Schröders neue Mitte ist längst im Orkus der (Partei-)Geschichte gelandet. Die Sozialdemokratie hat einen deutlichen Linksruck vollzogen – sich also bezeichnenderweise gerade in die Richtung bewegt, die in Gestalt der Linkspartei so heftig von ihr kritisiert wird. Zur Glaubwürdigkeit der SPD trägt das nichts bei.

Der sozialdemokratische Linksschwenk ist ein Treppenwitz der Geschichte: gerade in dem Moment, in dem die unter Bundeskanzler Schröder eingeleitete Reformpolitik Früchte trägt, macht die SPD einen Rückzieher. In Deutschland wurde in den vergangenen zwei bis drei Jahren die Arbeitslosigkeit von 5,2 Millionen um 1,6 Millionen auf 3,6 Millionen gesenkt. Das ist eine stolze Entwicklung. Die SPD hat sich mit den seit Jahrzehnten grössten Reformen um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands verdient gemacht – aber sie traut sich nicht, ihren Anteil daran zu reklamieren. Es war ein strategischer Fehler der Sozialdemokraten, einseitig die Modernisierungseffekte der eingeleiteten Reformmassnahmen zu betonen, ohne deren soziales Element verständlich zu machen.

Jetzt ist die Partei dabei, den gleichen Fehler zu wiederholen – bloss mit umgekehrtem Vorzeichen. Man muss kein Prophet sein um zu sehen, dass 2008 und 2009 die Themen «Gerechtigkeit» und «sozialer Ausgleich» eine grosse Rolle spielen werden. Mithin besteht die Gefahr, dass die Sozialdemokraten ebenso einseitig, wie sie zuvor auf Reformen gesetzt haben, nun auf die soziale Karte setzen werden. Die Befürwortung eines Mindestlohns und das Aufweichen der Rente mit 67 sind Alarmzeichen. Man möchte die Linkspartei in Schach halten – und stärkt sie erst recht.

Um es bei einem Beispiel zu belassen, das ein erschreckendes Schlaglicht auf den Mangel an SPD-Wirtschaftskompetenz wirft: der vieldiskutierte Mindestlohn erhöht eher die Gefahr der Arbeitslosigkeit für Geringqualifizierte sowie der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, und er fördert die Schwarzarbeit. Zu Recht hat der Wirtschaftswissenschafter Bernd Meyer jüngst auf eine «ganz schlichte Erkenntnis» hingewiesen, wie er selbst sagt: «Wenn der Mindestlohnsatz höher ist als derjenige Lohn, der sich bei vollständig flexiblem Arbeitsmarkt ergäbe, dann ist die Beschäftigung der Geringqualifizierten natürlich niedriger, als wenn der Lohn sich frei auf dem Arbeitsmarkt gebildet hätte. … Man erreicht also mit dem Mindestlohn genau das Gegenteil dessen, was angestrebt wird.»

Die SPD scheint noch nicht gemerkt zu haben, dass überall dort, wo sie hin möchte, die Linkspartei schon ist – ganz so wie in Grimms Märchen vom Hasen und vom Igel: «Ik bün all hier». Der Linksruck der Sozialdemokraten hat die Linkspartei eher gestärkt, nicht geschwächt. Dabei setzte die «Erosion der Abgrenzung» (Wolfgang Rudzio) gegenüber der Linkspartei auf Bundesländerebene schon in den 1990er Jahren ein. Mit der Tolerierung der SPD-Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt durch die damalige PDS und die anschliessenden Koalitionen mit der SED-Nachfolgepartei in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin wurde die Partei erst hoffähig gemacht.

Es war geradezu widersinnig, programmatisch nach links zu «rutschen», sich aber (im Westen Deutschlands) koalitionspolitisch gegen links strikt abzugrenzen. Wer einen Linksschwenk vollzieht, müsste sich eigentlich gegenüber potentiellen linken Koalitionspartnern öffnen und einem Linksbündnis gegenüber aufgeschlossen zeigen, was die SPD auf Länderebene seit jüngstem tut. Und wer auf Abstand zur politischen Linken bedacht ist – ein Anliegen der SPD auf Bundesebene –, der müsste programmatisch eher die Mitte stärken. Der Wähler fragt sich, wie glaubwürdig eine solche Partei ist. Der Wirrwarr offenbart die tiefe Verunsicherung der SPD. Die Sozialdemokraten werden die Geister, die sie einst riefen, nicht mehr los.

RALF ALTENHOF, geboren 1964, ist promovierter Politikwissen-schafter und Publizist in Freiberg (D).

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