Die Netzwerke dominieren uns
Der Historiker Yuval Noah Harari zeichnet die Geschichte der Informationsnetzwerke nach. Künstliche Intelligenz wird den Homo sapiens herausfordern wie noch keine andere Entwicklung.
Yuval Noah Harari ist der Rockstar der globalen Grossintellektuellen. Keiner verkauft so viele Bücher wie er, kaum einer findet mehr Gehör bei den Mächtigen der Welt. Wer die diesjährige Buchmesse in Frankfurt besuchte, begriff das auf einen Schlag. Grossflächige Affichen verkündeten schon auf den Aussenseiten des Messegebäudes, was angesagt ist: ein weltweites Grossereignis des Buchhandels. Penguin publizierte Hararis neues Buch «Nexus» am 10. September gleichzeitig in allen wichtigen Sprachen.
Harari erlangte seinen Nimbus vor rund 15 Jahren mit seinem Buch «Sapiens». Darin schilderte er die «kurze Geschichte der Menschheit», die vor rund 200 000 Jahren in Afrika begann und über viele Zwischenschritte wie die Agrar-, Wissenschafts- und industrielle Revolution bis ins Anthropozän der Gegenwart führte. Heute werden natürliche Evolutionsprozesse zunehmend durch Bioengineering und künstliche Intelligenz ersetzt, womit man sich laut Harari fragen muss, ob sich der Homo sapiens gerade ein Update verpasst und damit eine neue Phase der Evolution einleitet. Diese Thematik beleuchtete sein zweites Buch «Homo Deus» aus dem Jahre 2015.
Harari praktiziert den grossen intellektuellen Gestus. «Sapiens» entstand unter dem Einfluss des Evolutionsbiologen Jared Diamond als «Big History». Aber das Buch wie auch das futurologische «Homo Deus» sind mehr als das: Sie stellen auch eine grosse philosophische Theorie dar und greifen auf die vielfältigsten Fachgebiete wie Anthropologie, Neuroinformatik, Medienwissenschaft, technische und agrarische Kenntnisse und vieles mehr zurück.
Diesem Strickmuster folgt auch «Nexus», das eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz darstellt. Der Grundtenor des Buches basiert auf dem Kernpunkt der naturalistischen Weltsicht von Yuval Noah Harari: Unsere Welt besteht aus verschiedenen Kategorien. Die erste ist die objektive Wirklichkeit, die unabhängig vom Menschen existiert, Himmel und Erde, Wasser und Feuer, Sterne und Sonne. Dann gibt es die subjektiven Vorgänge wie Bewusstsein, Lust, Leid und Liebe. Entscheidend für die menschliche Entwicklung ist gemäss Harari aber die «intersubjektive Wirklichkeit».
Intersubjektive Realitäten
Irgendwann in der frühen Entwicklung erlangten die Menschen die Fähigkeit der Sprache, und dies ermöglichte es ihnen, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Das führte zu gemeinsam getragenen Fiktionen und Glaubenssätzen, eben den intersubjektiven Realitäten, die fortan das Kernstück der Entwicklung der Menschheit bildeten und kulturelle «Tatsachen» schufen, die im Alltagsleben bald die harten Realien an Bedeutung übertrafen. Gott und Religion sind solche Fiktionen, aber auch die Schrift, die Mathematik, Metaphysik, Ethik, Recht, Staat und supranationale Gebilde. Sie sind, wie sie sind, könnten aber auch ganz anders sein, wenn sich das gemeinsame Narrativ in eine andere Richtung entwickelt hätte.
Auch Informationsnetzwerke sind vom Menschen geschaffene Wirklichkeiten. Sie erlauben dem Menschen, in grösseren Gruppen zu kooperieren und Sinngehalte auszutauschen. Am Anfang waren diese Netzwerke klein, wie um ein Lagerfeuer. Mit der Zeit wurden sie wirkmächtiger: Es entstanden die Höhlenzeichnungen, mit welchen man Botschaften hinterlassen konnte, später die Keilschrift auf Tontäfelchen, auf denen mesopotamische Beamte Steuereinnahmen festhielten.
Die Wissenschafts- und später die industrielle Revolution ermöglichten Netzwerke, die alle Grenzen sprengten, zuerst durch das Buch, dann Zeitungen und schliesslich die Mittel der modernen Massenkommunikation wie Radio, Fernsehen und nun die global vereinheitlichten digitalen Medien. Diese Medien hatten viele positive Auswirkungen wie Bildung, Kultur, Förderung der Forschung und des allgemeinen Fortschritts. Ebenso spielten sie aber auch eine zentrale Rolle bei Krieg, Hexenverfolgung, totalitärer Kontrolle und Massenmord.
Mit dem Siegeszug des Computers nach dem Zweiten Weltkrieg entstand ein Medium, das sich gemäss Harari von allen früheren unterscheidet. Anders als ein Buch oder eine Zeitung kann ein Computer eigene Entscheidungen treffen. In der Zwischenzeit übersteigen die Rechnerleistungen und damit die Entscheidungsfähigkeit der Computer die menschliche Vorstellungskraft. Man kann dem Computer Wissen beibringen, und zunehmend kann der Computer sich auch selbst Wissen antrainieren, woraus eine eigenständige, «anorganische» Intelligenz entsteht, die KI. Man kann solche Computer hintereinanderschalten, und dadurch können diese ohne jede menschliche Vermittlung zusammen kommunizieren, eigene Netzwerke und partikuläre Fiktionen schaffen. Das ist Nexus, ein digitales Netzwerk, das unsere finanziellen, politischen und gesellschaftlichen Transaktionen zunehmend dominiert – und uns gleichzeitig bis in die Eingeweide aushorcht.
KI und Kontrolle
Heute verfallen viele einer naiven Begeisterung für die KI. Ihnen zufolge wird uns diese ermöglichen, die drängenden Probleme der Menschheit zu lösen, weil wir durch sie Weisheit und Macht erlangen. Harari nennt das ein «naives Informationsverständnis» und weist darauf hin, dass die Akkumulation von Informationen immer zwei Funktionen hat, sie einerseits ein besseres Verständnis der Dinge schafft, andererseits aber auch mehr Kontrolle und Überwachung ermöglicht. Bevor die KI die Macht über den Menschen ergreift, sollte der Mensch deshalb die Kontrolle über die KI sicherstellen.
Dabei entsteht nach Harari aber das «Alignement Problem»: Wir wissen zwar, wie man Computer anweisen kann, vorgegebene Ziele zu erreichen, wir haben aber umgekehrt kein erprobtes und allgemein gültiges Verfahren, um gemeinsam übergeordnete Ziele für die Arbeit der Computer zu definieren. Deshalb könnte sich die KI eines Tages unserer Kontrolle entziehen und ihre eigenen Ziele verfolgen. Im schlimmsten Fall würde das zur Unterjochung des Homo sapiens oder gar dessen Vernichtung durch die KI führen.
Als ein weiteres KI-Risiko beobachtet Harari ein Auseinanderfallen der globalen Informationssphären, die mit der zunehmenden geopolitischen Blockbildung einhergeht. Er befürchtet, dass sich ein unsichtbarer Silikonvorhang auf die Menschheit niedersenkt, weil sich die digitale Welt Chinas und anderer Länder ganz anders entwickelt als diejenige des Westens, woraus mannigfaltige Bedrohungen der globalen Kooperation entstehen.
Harari ist ein vorsichtiger Mensch. Er legt sich weder auf extreme Positionen noch auf einseitige Ideologien fest. Sein Grundverständnis ist sicherlich ein Liberalismus, der Konzepte wie Solidarität und Fortschritt einschliesst. Er entzieht sich aber vielen der Glaubenssätze des liberalen Universalismus. Das liegt schon in seiner Grundthese, wonach alle Bausteine unserer Kultur ein Narrativ und eine Fiktion darstellen, einschliesslich der Existenz Gottes, des Glaubens an die aufgeklärte Vernunft und der universellen Menschenrechte. Damit nähert er sich den postmodernen Dekonstruktionstheorien, ohne deren immanenten Nihilismus zu übernehmen.
Auswirkungen anorganischen Denkens
Harari glaubt an die Evolution des Menschen, diese folgte in der Menschheitsgeschichte aber nicht einem vorgegebenen Plan, sondern driftete mal hierhin, mal dorthin. In einer Besprechung von «Homo Deus» hat ihm der englische Philosoph John Gray vorgeworfen, dass er diese aleatorische, grundsätzlich zutreffende Sicht nicht auf die Zukunft übertrage, indem er davon ausgehe, die Menschheit («we») könne diese von nun an kollektiv und final gestalten.
Im Falle von «Nexus» kann man diesen Vorwurf nicht wiederholen. Harari beschreibt viele mögliche Entwicklungen, schlechte wie gute, setzt aber keine als sicher gegeben voraus. Damit fällt auch der oft gehörte Vorwurf ins Leere, er reihe sich mit «Nexus» unter diejenigen ein, die die KI als eine Apokalypse sehen.
Als Begriff und Konzept existiert KI schon seit Jahrzehnten, indessen hat der kurze, aber energische Erfolgsmarsch von Chatbots wie ChatGPT dazu geführt, dass nun jedermann darüber spricht. Dabei wissen wir vielleicht einiges über die Technik und die Einsatzformen des «anorganischen» Denkens, doch wir tun uns schwer, dessen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft zu verstehen. Bis anhin wurde wenig Überzeugendes zur KI geschrieben, insbesondere was die über Expertenwissen hinausgehende Einordnung in einen grösseren philosophischen und gesellschaftlichen Zusammenhang angeht. Nur zum Beispiel: Das soeben bei Suhrkamp erschienene «Glossar der Gegenwart 2.0», wo man doch Tiefgründiges erwarten könnte, enthält unter dem Stichwort «künstliche Intelligenz» einen Beitrag von zwei deutschen Medienexperten, der kaum über das Niveau eines Maturandenaufsatzes hinausgeht.
Yuval Noah Harari legt ein mächtiges Buch vor. Es mag einige Schwächen in der Begriffsschärfe haben, ist oftmals etwas langfädig und streift gelegentlich die Grenze zum Banalen. Insgesamt ist es aber unterhaltsam, frisch, verständlich und wird deshalb für einige Zeit die Diskussion beherrschen. Harari beweist, dass sein Nimbus nicht künstlich, sondern real ist.