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Nacht des Monats mit Sina

Nacht des Monats mit Sina

Früher Abend im aargauischen Mittelland. Ein Spaziergang in T-Shirt und leichter Jacke. Schlendernd neben mir: Sina. Ganz leicht, in weiter Sommerhose, manchmal tänzelnd, ziemlich brav. Hin und wieder holt sie den haschpfeifenähnlichen Inhalator aus der Tasche, um ihre Heiserkeit, Nachwehen von Proben und Erkältung, in den Griff zu kriegen. Es blubbert, wenn sie ihn benutzt. Andere Geräusche sind da nicht, als wir uns auf neongrünen Wiesen bewegen, die hier und dort blühende Kirschbäume hervorbringen. Idylle.

Eine Rockröhre, eine Mundart-Rockerin, ist die 44jährige mit den langen Haaren längst nicht mehr – und vielleicht war sie es auch nie. Mit 18 verliess Ursula Bellwald das Wallis in Richtung Genf. Wenige Jahre später gründete sie als «Sina» gemeinsam mit der deutschen Schriftstellerin Sibylle Berg, dem weiblichen enfant terrible der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, eine WG in Zürich. Das roch nach Ausbruch und Rock’n’Roll. Der mediale Stallgeruch ist geblieben, die Realitäten haben sich verändert: Sina lebt nun wieder auf dem Land, im grünen Wohlstandsbäuchlein Zürichs, dem Aargau. Klingt nach Rückzug auf Raten. Die letzte Konsequenz, ein Zurück ins Wallis, sei aber keine Option. Eine «Atheistin mit Herz» trifft man im Wallis höchstens zu Besuch. Ihr Nichtkatholizismus, sagt sie, sei eine Gegenreaktion auf ihre weihrauchvernebelten Kindheitsjahre. «Der erste weibliche Priester könnte die Rettung der katholischen Kirche sein», glaubt sie und macht sich damit daheim hinter allerhand vorgehaltenen Händen unbeliebt. «Das werden wir aber wohl nicht mehr erleben.» Sie  geht einige Schritte rückwärts, lächelt einen Hauch von Lethargie. Auch rund um die Familie werde zu ihrer Haltung lieber geschwiegen. «Das Wallis hat sich diesbezüglich kaum verändert. Schon als Jugendliche ist mir das oft zu viel gewesen. Der Prozess der Befreiung dauerte Jahre, aber ist wohl der übliche Weg zum Erwachsenwerden.» Das andere Wallis also: Enge und Zwänge. Wer als Kind nicht im Gottesdienst war, sorgte mit blosser Abwesenheit dafür, dass die Familie Schaden nahm. «Glauben ist wichtig, kann Kraft geben. Aber tatsächlich befreiend ist allein die Selbstverantwortung.»

Es begann damit, dass sie das «Ich widersage dem Satan» irgendwann nicht mehr mitsprach. Einzig der Gesang und der «mantramässige Sound» einer ganzen Gemeinde habe das Knien- und Betenmüssen in der Dorfkirche aufgewogen. Die Wurzeln einer der wenigen grossen Mundart-Musikkarrieren liegen folglich in einer Kirche im Rhonetal: Seit 18 Jahren kann Sina nun von ihrer Stimme, die gerade ein weiteres Mal blubbernd vom Inhalator reanimiert werden muss, leben. «Walliserdeutsch», sagt sie, «ist ein sehr melodischer Dialekt. Einige Wörter erinnern ans Italienische und ans Französische. Ideal für Chansons.»

Sina bleibt kurz stehen, schaut über den abendlich eingedunkelten Hallwilersee auf die in der Ferne liegenden Alpen. Nur kurz ist sie weg, vielleicht dort drüben – einige Bergketten hinter Eiger, Mönch und Jungfrau. «Ich bin in einer Arbeiterfamilie gross geworden. Meine Mutter war Rebbäuerin, mein Vater Postautochauffeur. Ich weiss, wie Erde schmeckt. Ich weiss, wie blaue und schwarze Fingernägel aussehen und wie viel eine Handvoll Weintrauben wiegt.» Pinot und Syrah. Geerdet. Buchstäblich. Unter unseren Füssen knirscht der grobe Kies einer alten Erschliessungsstrasse. Ob sie politisch sei, will ich wissen. Wieder das Wallis: «Mein Vater kümmerte sich um die Nachrichten. Politische Entscheide fällte er. Auch meine.» Sie habe das Ventil für Freude und Trost in der Musik gefunden und mit melodischen Kleinigkeiten zu beeinflussen versucht. Sie mache nun ihre Kreuzchen selber, lacht sie, und ihre Texte, die seien unpolitisch. Nicht jeder müsse ein Bono sein.

Für den Posten der «Botschafterin vom Wallis», wie sie gern genannt wird, hat sie sich nie beworben. Dennoch freut er sie. «Wenn ich alle zwei, drei Wochen mal einen Walliser treffe, weiss ich, wie er tickt, auch wenn er nur einen einzigen kurzen Satz zu mir sagt. Wir sind früher gegen dieselben Felsen unmittelbar links und rechts von uns gelaufen – das prägt und gibt mir ein Gefühl von Heimat.» Dann wieder Stille, die Sonne ist verschwunden. Sina bleibt stehen und zieht unvermittelt ihre Schuhe aus. Sie watet barfuss und leise in ein bemoostes Kneipp-Becken am Wegrand. Setzt sich auf die Kante und hebt die nassen Füsse in die Luft. «Ich mag Wasser», sagt sie leise. Nein, sie schnurrt… und wirklich erwachsen ist Sina an diesem Abend mit fast 45 glücklicherweise doch noch nicht.

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