Die Nachhaltigkeitsprämie
«Nachhaltigkeit» ist ein Begriff, der nun bereits seit Jahren Hochkonjunktur hat: Kein politischer Vorstoss – von der Verkehrs- über die Bevölkerungspolitik bis hin zu Rettungsaktionen für Finanzplätze –, der sich nicht mit diesem Label schmücken würde. Im Sport gibt es die «12 Prinzipien für Nachhaltigkeit», in der Vermögensanlage soll nachhaltiges Investieren Balsam für das Gewissen […]
«Nachhaltigkeit» ist ein Begriff, der nun bereits seit Jahren Hochkonjunktur hat: Kein politischer Vorstoss – von der Verkehrs- über die Bevölkerungspolitik bis hin zu Rettungsaktionen für Finanzplätze –, der sich nicht mit diesem Label schmücken würde. Im Sport gibt es die «12 Prinzipien für Nachhaltigkeit», in der Vermögensanlage soll nachhaltiges Investieren Balsam für das Gewissen und zugleich gut für das Portemonnaie sein.
Da verwundert es nicht, dass auch Unternehmen für sich in Anspruch nehmen, dem «Megatrend» der Nachhaltigkeit zu folgen. Dabei scheint – befragt man die Geschäftsberichte und Firmenbroschüren von Publikumsgesellschaften der letzten drei Jahrzehnte – ein erstaunlicher Gesinnungswandel eingetreten zu sein:
– In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war – jedenfalls in der Schweiz – kaum bestritten, dass das einzige Ziel eines Unternehmens darin zu bestehen habe, Shareholder Value, Mehrwert für die Aktionäre zu schaffen.
– Seit dem Jahrtausendwechsel haben sich die Statements gewandelt: Verlangt wird nun eine Ausrichtung unternehmerischer Tätigkeit auf alle Stakeholder. Die eine Bottom Line der Gewinnmaximierung ist dem Triple-Bottom-Line-Ansatz gewichen: In einem ausgewogenen Mass soll drei Herren zugleich gedient werden, den Investoren durch Gewinnoptimierung, der Gesellschaft durch ein sozial verantwortungsvolles Handeln – besonders auch mit Blick auf die Arbeitnehmer – und schliesslich auch der Umwelt durch ressourcenschonendes Wirtschaften.
– Dabei ist es bis heute geblieben, doch werden seit einiger Zeit die drei Stossrichtungen der Stakeholder-Betrachtung unter einem Dach zusammengefasst: dem der Nachhaltigkeit. Und damit treffen sich die Vertreter des Triple-Bottom-Line-Ansatzes mit den verbliebenen Apologeten des Shareholder Value, denn auch jene betonen, dass es darum gehe, den Unternehmenswert als Mehrwert für die Aktionäre nachhaltig und nicht etwa mit kurzen Strohfeuern zu steigern.
Als typisches Beispiel für die erstaunlich homogenen unternehmerischen Glaubensbekenntnisse mag der Sustainability-Performance-Report der ABB für 2012 dienen, der wie folgt beginnt:
«For ABB, sustainability is about balancing economic success, environmental stewardship and social progress to benefit all our stakeholders.»
Und weiter:
«Sustainability considerations cover how we design and manufacture products, what we offer customers, how we engage suppliers, how we assess risks and opportunities, and how we behave in the communities where we operate and towards one another…»
Solche Reports gehören – als selbständige Publikationen oder als gewichtiger Teil des Geschäftsberichts – inzwischen zur Good Practice von Publikumsgesellschaften, und Best Practice ist es, die Berichte und das Nachhaltigkeitsverhalten der Unternehmung durch eine unabhängige Instanz überprüfen und mit einem Zertifikat versehen zu lassen – ganz ähnlich der Prüfung und Bestätigung, wie sie aufgrund gesetzlicher Vorschriften von der Revisionsstelle für den Zahlenteil der Berichterstattung vorzunehmen sind.
Zumindest sprachlich durchziehen die Begriffe «Nachhaltigkeit» und «Sustainability» den ganzen öffentlichen Auftritt von Publikumsgesellschaften, und niemandem würde es in den Sinn kommen, sich dazu zu bekennen, nur das kurzfristige Aktionärsinteresse zu verfolgen.
Bei so viel unité de doctrine fragt es sich, wie sich eigentlich das Aktienrecht – Rechtskleid der meisten grösseren Unternehmen und ausnahmslos aller Publikumsgesellschaften – zum Postulat der Nachhaltigkeit stellt. Wird nachhaltiges Wirtschaften durch die aktienrechtlichen Bestimmungen unterstützt, ist das Aktienrecht eine wertfreie Basis oder sind aktienrechtliche Normen gar einer nachhaltigen Ausrichtung hinderlich?
Nachhaltigkeit als Maxime des Aktienrechts?
Eine Vorbemerkung: Das Schweizer Aktienrecht – und nur von diesem ist hier die Rede – ist äusserst flexibel ausgestaltet, muss es auch sein, soll diese Rechtsform – wie es bis heute der Fall ist – als Mädchen für alles zur Verfügung stehen: von der Einpersonengesellschaft mit dem Alleinaktionär als einzigem Mitarbeiter bis zur Muttergesellschaft eines weltweit tätigen Konzerns mit sechsstelligen Zahlen sowohl der Mitarbeiter wie auch der Aktionäre; von der Kleinstunternehmung mit nur lokaler Ausstrahlung bis zum Grösstunternehmen, dessen Entwicklung volkswirtschaftlich für die Schweiz und allenfalls auch weit darüber hinaus von grosser Bedeutung ist.
Da versteht es sich von selbst, dass es sich der Gesetzgeber gar nicht leisten konnte, die Aktiengesellschaften auf bestimmte Gesellschaftsziele zwingend zu verpflichten. Doch ergeben sich immerhin Indizien, die Anhaltspunkte dafür geben, wie er sich die typische Aktiengesellschaft vorstellt.
Zunächst ist offensichtlich, dass die typische AG Gewinn erzielen soll. Das erscheint derart selbstverständlich, dass es in der gesetzlichen Definition der AG nicht einmal erwähnt wird. Vielmehr schien es dem Gesetzgeber wichtig festzuhalten, dass von der Gewinnstrebigkeit ausnahmsweise auch abgewichen werden könne:
«Die Aktiengesellschaft kann auch für andere als wirtschaftliche Zwecke gegründet werden.» (Art. 620 Abs. 3 des Obligationenrechts, OR)
Dass Aktiengesellschaften prinzipiell gewinnstrebig wirtschaften sollen, ergibt sich auch aus weiteren Gesetzesbestimmungen:
– So hat der Aktionär nach Gesetz «Anspruch auf einen verhältnismässigen Anteil am Bilanzgewinn…» (Art. 660 Abs. 1 OR)
– Und noch eindeutiger verweist das Recht, Generalversammlungsbeschlüsse anzufechten, auf dieses Ziel: Jeder einzelne Aktionär kann – auch wenn er nur eine einzige Aktie besitzt – Beschlüsse anfechten, wenn sie «die Gewinnstrebigkeit der Gesellschaft ohne Zustimmung sämtlicher Aktionäre aufheben». (Art. 706 Abs. 2 Ziff. 4 OR)
Die Gewinnstrebigkeit als Endzweck der AG steht also fest. Wie aber soll dieser Endzweck verfolgt werden:
– im Interesse der Aktionäre allein oder unter Beachtung der Interessen aller Betroffenen, also auch der Mitarbeiter, der Konsumenten, der Allgemeinheit und der Umwelt?
– durch kurzfristige Gewinnmaximierung oder durch langfristig ausgerichtetes, nachhaltiges Wirtschaften?
Auch dazu nimmt das Gesetz nicht explizit Stellung, wohl aber gibt es wiederum Anhaltspunkte: Aufschlussreich ist zunächst, wie das Gesetz die Verhaltenspflichten von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung umschreibt: Diese «müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft in guten Treuen wahren». (Art. 717 Abs. 1 OR)
Von den Interessen der Gesellschaft ist also die Rede, nicht nur von denen der Aktionäre. Dass dies kein Zufall ist, zeigt sich darin, dass im zweiten Absatz das Aktionariat ausdrücklich angesprochen wird: Die Mitglieder von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung «haben die Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln». (Art. 717 Abs. 2 OR)
Dass dem Gesetzgeber ein nachhaltiges Wirtschaften vorschwebt, zeigt sich vor allem darin, dass die Verbreiterung der Kapitalbasis durch den Rückbehalt von Erträgen als Reserven durch das bisherige Aktienrecht wie auch durch das seit Anfang Jahr geltende neue Rechnungslegungsrecht gesetzlich gefördert wird: in einem Minimum durch zwingende Vorschriften, darüber hinaus auf freiwilliger Basis durch Beschlüsse der Aktionäre und schliesslich auch durch den Verwaltungsrat mittels der Bildung stiller Reserven.
Geradezu lehrbuchhaft hält ein Bundesgerichtsentscheid von 19741 diese Position fest: Danach hat der Aktionär zwar «…Anspruch darauf, dass die Gesellschaft sich bestrebt,… Gewinne zu erzielen. Dieses Recht des Aktionärs wird indessen durch das weitgehende Ermessen der Gesellschaft, welche neben der Gewinnerzielung auch andere Interessen (z.B. Existenzsicherung der Arbeitnehmer, Investitionen) wahrzunehmen hat, eingeschränkt. Der einzelne Aktionär muss sich demnach damit abfinden, dass die Gesellschaft… eine Gesellschaftspolitik betreibt, die nur auf lange Sicht gewinnbringend ist.»
Fazit also: Das schweizerische Aktienrecht steht einem nachhaltigen Wirtschaften wohlwollend gegenüber. Dazu zwingen will es die Gesellschaften freilich nicht. Zwingend ist hingegen etwas anderes, nämlich die konsequente Kapitalbezogenheit der aktienrechtlichen Mitgliedschaft, die es nur sehr beschränkt zulässt, die Aktionäre auf eine langfristige Optik auszurichten. Darauf wird zurückzukommen sein.
Fragt man nun weiter, wo innerhalb einer AG das Epizentrum für Themen der Nachhaltigkeit liegt, dann ist zunächst auf das sog. Paritätsprinzip hinzuweisen, auf eine Art «Gewaltenteilung» zwischen Aktionariat und Verwaltungsrat, die dem schweizerischen Aktienrecht zugrunde liegt:
– Zwar wird die Generalversammlung in Art. 698 Abs. 1 OR als das oberste Organ der AG bezeichnet. Sie ist es aber lediglich formell, insofern nämlich, als sie das Wahlorgan der beiden anderen zwingend vorgesehenen Organe (Verwaltungsrat und Revisionsstelle) ist und als in ihre Kompetenz die grundlegendsten Entscheide – insbesondere die Festsetzung und Abänderung der Statuten als des Grundgesetzes der AG und die Bestimmung der Eigenkapitalbasis – fallen.
– Die Generalversammlung ist jedoch nicht befugt, beliebig Kompetenzen an sich zu ziehen. Vielmehr enthält das Gesetz eine gehaltvolle Liste von ausdrücklich für unentziehbar erklärten Aufgaben des Verwaltungsrates, insbesondere die Oberleitung der Gesellschaft, die Bestimmung der Strategie und die Oberaufsicht über die Geschäftsleitung, die Festlegung der Organisation, die Finanzplanung, die Einrichtung angemessener Kontrollen, die Risikobeurteilung und die wichtigsten personellen Entscheide (Art. 716a Abs. 1 OR).
Was ergibt sich aus diesem Konzept für die Umsetzung des Postulats der Nachhaltigkeit?
Aktionäre und Nachhaltigkeit
Man hört es immer wieder und von verschiedensten Seiten: Die Aktionäre sollen «ihre Verantwortung wahrnehmen», teils verstanden als Verantwortung für die Ausübung ihrer Mitwirkungsrechte2, teils weitergehend als Pflicht, «sich als mündigen Aktionär einzubringen» und «Verantwortung für die Unternehmen in der Perspektive der Nachhaltigkeit wahrzunehmen»3.
Nach einer solchen Verantwortung und Pflicht sucht man im Gesetz freilich vergebens. Ganz im Gegenteil heisst es dort: «Der Aktionär kann auch durch die Statuten nicht verpflichtet werden, mehr zu leisten als den für den Bezug einer Aktie bei ihrer Ausgabe festgesetzten Betrag.» (Art. 680 Abs. 1 OR)
Ausser einer einmaligen finanziellen Pflicht, die bei der Neuausgabe von Aktien zu erfüllen ist, sind also Pflichten des Aktionärs – auch Loyalitätspflichten – gesetzlich verpönt!4
Dazu kommt ein zweites: Der Aktionär kann, indem er seine Aktien verkauft, seine Mitgliedschaft jederzeit aufgeben. In letzter Konsequenz ist dies so bei Inhaberaktien. Aber auch für Namenaktien können die Statuten Übertragungserschwerungen nur in engem Rahmen vorsehen. Ganz besonders gilt dies für kotierte Aktien, bei denen als Schranke grundsätzlich nur eine prozentuale Limite für den Aktienerwerb möglich ist.
Zwischenbilanz: Das Fehlen jeglicher Pflichten ausser der allenfalls längst von einem Vorgänger erfüllten Liberierungspflicht und das Recht, jederzeit auszusteigen – das sind keine guten Voraussetzungen für die Förderung der Nachhaltigkeit! Damit kein Missverständnis aufkommt:
Es gibt viele Aktionäre, die gute Gründe dafür sehen, sich längerfristig zu binden und so für Kontinuität im Aktionariat als eine Voraussetzung für Nachhaltigkeit zu sorgen:
– Zu erwähnen sind die Aktionäre der zahllosen personenbezogenen Aktiengesellschaften, die meist nicht nur finanziell, sondern auch emotional und oft mit ihrer ganzen Arbeitskraft engagiert sind und ihre Aktien über Generationen halten.
– Zu erwähnen sind aber auch die Grossaktionäre oder Aktionärsgruppen kotierter Gesellschaften, die durch ihre stimmenmässige Dominanz von 20 bis über 50 Prozent die Kontrolle innehaben und sich an langfristigen Kriterien orientieren.5
Aber es ist nicht das Aktienrecht, mit dem das langfristige und nachhaltige Engagement sichergestellt wird, sondern es sind Verträge: Arbeitsverträge und weitere Vereinbarungen aller Art zwischen der Gesellschaft und ihren Aktionären sowie Aktionärsbindungsverträge, mit denen sich Aktionäre untereinander verpflichten: durch Stimmabsprachen zur gemeinsamen Einflussnahme nach vereinbarten Kriterien und durch Erwerbsrechte zur Absicherung des noyau dur.
Im übrigen wird aber bei den Aktien kotierter Gesellschaften allenthalben eine Tendenz zur immer kürzeren Haltedauer diagnostiziert. Auch wenn der reisserische Titel eines Interviews, Aktien würden in den USA durchschnittlich nur noch 22 Sekunden gehalten6, natürlich nichts aussagt – denn diese Zahl ist durch den in Millisekunden abgewickelten Hochfrequenzhandel bestimmt –, ist jene Tendenz unübersehbar, und dies auch in der Schweiz. Realistisch dürfte es sein, im Durchschnitt von einem Anlagehorizont von 7 bis 8 Monaten auszugehen, einer sehr kurzen Zeitspanne für nachhaltiges Denken und Handeln! Und was ausserdem nachdenklich stimmt: Es sind keineswegs nur Spekulanten, die dem kurzfristigen Gewinn nachrennen, und es sind auch nicht nur Publikumsaktionäre, die sich von den rasch wandelnden Strömungen in der Wirtschaftspresse beeinflussen lassen. Das kurzfristige Denken hat auch institutionelle Investoren wie etwa Vorsorgeeinrichtungen erfasst, obwohl sich diese aufgrund ihrer erst in späterer Zukunft fälligen Verpflichtungen eigentlich langfristig engagieren könnten und – falls dies Mehrertrag bringt – auch sollten.7
Nachhaltiges Investieren scheint derzeit wenig gefragt. Die Investoren scheinen nicht davon überzeugt, dass das «Investieren mit Rücksicht auf Mensch und Umwelt» auch lukrativ ist.
Auf den Aktionär kann daher – so das Fazit – für die Umsetzung der Nachhaltigkeit nur begrenzt gesetzt werden. Bleibt der Verwaltungsrat.
Der Verwaltungsrat: Gralshüter der Nachhaltigkeit?
In der Tat: Der Verwaltungsrat trägt – es wurde erwähnt – unentziehbar die Verantwortung für die Strategie, und daraus ergibt sich ein längerfristiges Denken und Handeln eigentlich von selbst. Das Gesetz fördert – auch dies wurde schon gesagt – eine längerfristige Sichtweise, und die Gerichtspraxis hat eine Ausrichtung, die «nur auf lange Sicht gewinnbringend ist», ausdrücklich sanktioniert.
Damit erscheint der Verwaltungsrat als das geeignete Organ, um in der AG das Banner der Nachhaltigkeit hochzuhalten.
Neuere Entwicklungen sind in dieser Hinsicht freilich nicht gerade hilfreich:
– Die grossen börsenkotierten Gesellschaften sind seit längerem verpflichtet, Quartalsabschlüsse zu veröffentlichen, und für die kleineren besteht dafür ein starker Druck seitens der Finanzpresse. Im Dreimonatstakt des Quarterly Reporting ist es aber schwer, eine kontinuierliche langfristige Entwicklung überzeugend zu kommunizieren.
– Dazu kommt eine ausufernde börsenrechtliche Pflicht zur Ad-hoc-Publizität. Diese sollte eigentlich dazu dienen, dem Markt Ereignisse unverzüglich mitzuteilen, die voraussichtlich den Aktienkurs erheblich beeinflussen werden. Aber sie ist mittlerweile zu einer Verpflichtung verkommen, auch über Einzelheiten zu berichten, bei denen man beim besten Willen keine Kurswirksamkeit erwarten kann.
– Sodann gilt ab nächstem Jahr bei Publikumsgesellschaften für die Mitglieder des Verwaltungsrates zwingend eine (nur) einjährige Amtszeit. In der Praxis wird sich das zwar voraussichtlich kaum auswirken, aber im Hinblick auf nachhaltiges Denken und Handeln wird damit das falsche Signal gesetzt.
Nicht von ungefähr hat die Zahl der Börsengänge in den letzten Jahren markant abgenommen, haben sich überdies einzelne Publikumsgesellschaften zur Dekotierung entschlossen und wird in anderen über eine Reprivatisierung laut nachgedacht. Dennoch: Es bleibt Aufgabe des Verwaltungsrates, eine nachhaltige Strategie und Politik zu verfolgen, und das heisst auch, dass er als «typischen» Aktionär nicht den kurzfristigen Trader, sondern den längerfristig engagierten Investor vor Augen haben sollte.
Eine Treueprämie für loyale Aktionäre?
Wenn aber der längerfristig orientierte Anleger das Wunschbild des Aktionärs ist und wenn solche Investoren auf mittlere und längere Frist ökonomischen Mehrwert für alle Beteiligten schaffen, dann fragt es sich, ob es nicht möglich ist, nachhaltiges Investieren durch das Aktienrecht zu fördern. Auszuschliessen sind dabei – heute wie künftig – zwingende gesetzliche Vorschriften. Sie würden aktienrechtlichen Grundprinzipien – Fehlen von Loyalitätspflichten und jederzeitige Übertragbarkeit der Mitgliedschaft – diametral zuwiderlaufen.
Sehr wohl aber dürfte es sich rechtfertigen, aktienrechtliche Treue zu belohnen, durch ein verstärktes Stimmrecht oder – und dies vor allem – durch eine vermögensmässige Besserstellung.
Dem aktienrechtlichen Gleichbehandlungsprinzip würde dies nicht widersprechen, denn die Aktionäre sind nur «unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln» (Art. 717 Abs. 2 OR). Aktionäre, die sich längerfristig engagieren, geben bewusst einen Teil ihrer Freiheit zur jederzeitigen Umschichtung ihrer Anlagen preis, und sie tragen ein höheres Risiko, das abgegolten werden darf.
Eine Prämie für langfristiges Engagement ginge auch konform mit der Behandlung anderer Stakeholder: Gläubiger erhalten für langfristige Kredite einen höheren Zins, und die Mitglieder von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung partizipieren mehr und mehr – im Guten wie im Schlechten – an der längerfristigen Entwicklung, weil ein substantieller Teil ihrer Entschädigung längerfristig gesperrt und an den Unternehmenserfolg gebunden wird.
Nun sieht zwar das geltende Recht Möglichkeiten der Privilegierung einzelner Aktionäre mit den Instrumenten der Stimmrechtsaktie und der Vorzugsaktie durchaus vor. Ihr Einsatz zur Förderung der Nachhaltigkeit dürfte aber daran scheitern, dass es aktienrechtlich höchst problematisch wäre und technisch kaum umsetzbar sein dürfte, Privilegien an die Haltedauer der Aktien zu knüpfen. Sowohl das Fehlen von Aktionärspflichten wie auch der Grundsatz der freien Übertragbarkeit stehen dem entgegen.
Verlockend ist es jedoch, über eine Ergänzung des Aktienrechts nachzudenken, die eine Belohnung langfristigen Investierens erlaubt. Denkanstösse aus dem Ausland sind vorhanden8. In einzelnen Ländern kann längerfristiges Halten mit zusätzlicher Stimmkraft belohnt werden. Im Vordergrund aber stehen finanzielle Vergünstigungen, zusätzliche Ausschüttungen oder Vorzugsbedingungen für den Bezug neuer Aktien9.
In der Schweiz ist diese Option zur Förderung der Nachhaltigkeit zwar bisher noch nicht vertieft, aber in letzter Zeit immerhin als prüfenswerte Idee ins Spiel gebracht worden: aus ordnungspolitischer Sicht von Avenir Suisse10, aus Sicht der Investorin von Mirjam Staub-Bisang11, aus der des Juristen vom Verfasser.12
Solche Überlegungen sollten weitergeführt werden. Dabei wäre es vielleicht nicht einmal nötig, eine eigene Kategorie von Loyalty-Shares, Kumulus- oder Bonusaktien zu schaffen. Man könnte sich auch Modelle vorstellen, bei denen jeder Aktionär nach einer gewissen Haltedauer – im Ausland scheint eine zweijährige Frist verbreitet, für die Schweiz könnten sich drei Jahre empfehlen, aber die Gesellschaften müssten die Möglichkeit haben, die Frist statutarisch selbst zu bestimmen – eine Prämie erhielte, in Form einer Zusatzdividende oder eines attraktiven Bezugsrechts. Die Aktionäre blieben frei, ihre Aktien jederzeit zu veräussern, sie gingen dann aber des Privilegs verlustig, nicht anders als leitende Mitarbeiter,
denen es freisteht zu künden, die aber in Kauf nehmen müssen, dass sie dann ihre Anwartschaften auf gesperrte Aktien und long term incentives verlieren.
Attraktiv dürfte ein solches Modell für Investoren mit langfristigem Anlagehorizont sein, für Pensionskassen, Lebensversicherer, aber auch für Private, die sich ihre Altersvorsorge ansparen wollen. Und auszahlen würde sich die grössere Konstanz im Aktionariat für alle am Unternehmen Beteiligten.
Nach Avenir Suisse ist die Kumulusaktie eine «Idee für übermorgen». Warum nicht schon für morgen?
1 BGE 100 II 393 E.4.
2 So als Ruf aus dem Kreis der Aktionärsaktivisten, der Proxy Advisors und Proxy Services, so aber künftig auch als rechtlich festgeschriebene Pflicht für die Pensionskassen.
3 Siehe Rudolf Wehrli: Die Aktionärsdemokratie ist ein Mythos. In: Schweizer Monat 1010. Oktober 2013. S. 23–26.
4 In der Literatur ist zwar immer etwa wieder versucht worden, für einzelne Aktionärsgruppen (vor allem die Grossaktionäre) eine Treuepflicht zu begründen. Überzeugen konnten diese Anstrengungen jedoch nicht, und heute dürfte feststehen, dass den Aktionär keine Pflicht trifft, die über die selbstverständliche, für jedermann und in allen Lebenslagen geltende Pflicht hinausgeht, sich an Treu und Glauben zu halten.
5 Auch wenn solche Kontrollen – vor allem dann, wenn sie durch Stimmrechtsprivilegien abgesichert sind – nicht selten kritisiert werden: Das gesamte Aktionariat fährt damit finanziell mehrheitlich gut.
6 So die Überschrift zu einem Interview mit Marc Chesney im «Tages-Anzeiger» vom 26.7.2013;
dazu auch Marc Chesney: Der Liberalismus und die Logik des Finanzsektors. In: NZZ, 1. Juli 2013. S. 15.
7 Die Pensionskassen halten etwa 6 bis 7 Prozent der kotierten Schweizer Aktien, hätten es also in der Hand, als Gruppe erheblich Einfluss zu nehmen.
8 Grundlegend ist dazu die Studie von Patrick Bolton und Frederic Samama: L-Shares: Rewarding Long-Term Investors. ECGI – Finance Working Paper No. 342/2013.
9 Bolton/Samama erwähnen die Beispiele von Michelin, Oréal, Electricité de France, Crédit Agricole und Air Liquide aus Frankreich und von Standard Life aus dem U.K.
10 Marco Salvi: «Kumulus» – Langfristigkeit für Aktiengesellschaften. In: Gerhard Schwarz/Urs Meister: Ideen für die Schweiz. Zürich, NZZ-Verlag, 2013. S. 237–254.
11 Mirjam Staub-Bisang: Are loyalty shares a game-changer? In: Investments & Pensions Europe. Oktober 2013.
12 Scorecard vom Februar 2012.