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Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschafters
Karl Popper. Bild Imagelibrary(slash)5, www.flickr.com

Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschafters

Das Thema, das ich hier behandle, stammt nicht von mir; es wurde mir von andern gestellt. Ich erwähne das, weil ich nicht glaube, dass ich etwas wesentlich Neues sagen kann zu den schwierigen Fragen, die dieses Thema in sich schliesst. Dennoch nahm ich die Einladung an, ein Referat zu diesem Thema zu halten; denn ich glaube, dass wir in dieser Hinsicht so ziemlich alle in derselben Lage sind. Ich gehe von der Annahme aus, dass unser Thema, «Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschafters», auf das Problem der atomaren und biologischen Kriegsführung anspielt; aber ich will versuchen, diese Fragen in einem weiteren Zusammenhang zu sehen.

 

 

Man darf wohl sagen, dass das Problem der moralischen Verantwortlichkeit des Wissenschafters heute mehr als früher einen jeden von uns angeht; heutzutage sind nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch alle anderen Wissenschaften anwendbar. Es gab einmal eine Zeit – und sie liegt nur etwa vierzig Jahre zurück –, in der der reine Naturwissenschafter oder der reine Geisteswissenschafter nur eine moralische Verantwortung hatte, die hinausging über die Verantwortungen, die wir alle haben: die Verantwortung nämlich, nach der Wahrheit zu suchen. Er hatte die Entwicklung seines Fachgebietes nach Kräften zu fördern. Soviel ich weiss, hat sich Maxwell über die mögliche Anwendung seiner Gleichungen keine Sorgen gemacht, und anscheinend hat sich nicht einmal Heinrich Hertz über einen möglichen Missbrauch der Hertz’schen Wellen den Kopf zerbrochen. Diese glücklichen Zeiten gehören der Vergangenheit an. Heute kann nicht nur alle reine Naturwissenschaft zur angewandten Naturwissenschaft werden, sondern sogar alle Wissenschaft, von der Logik bis zur Urgeschichte.

Der Eid des Hippokrates

 Für die angewandten Naturwissenschaften ist das Problem der moralischen Verantwortlichkeit nicht neu. Es wurde, wie so viele andere Fragen, erstmals von den Griechen aufgeworfen. Ich denke hier an den Eid des Hippokrates, ein erstaunliches Dokument auch dann, wenn vielleicht einige seiner wesentlichsten Grundgedanken sich heute als revisionsbedürftig erweisen sollten. Als ich an der Universität Wien promovierte, legte ich selbst einen Eid ab, der sich historisch zweifellos vom hippokratischen Eid herleiten liess. Aber eines der interessanten Merkmale des hippokratischen Eides war gerade, dass es sich nicht um einen Promotionseid handelte, sondern um einen Eid, den der Lehrling des Arztes am Anfang seiner Lehrjahre leisten musste. Der Eid beeinflusste seine Einstellung; er war Teil eines Einführungsritus, der dem Neuling das Gebiet der angewandten Naturwissenschaften eröffnete.

Der hippokratische Eid bestand im wesentlichen aus drei Teilen: Erstens verpflichtet sich der Lehrling, seine tiefe persönliche Verbundenheit gegenüber seinem Lehrer anzuerkennen. Dabei wird stillschweigend angenommen, dass auch eine entsprechende Verantwortlichkeit des Meisters gegenüber seinem Schüler besteht. Zweitens verspricht der Lehrling, die Tradition seines Berufes weiterzuführen, dessen von der Idee der Heiligkeit des Lebens getragene hohe fachliche Ansprüche aufrechtzuerhalten und später an seine Schüler weiterzugeben. Drittens verspricht er, dass er jedes Haus, in welches er je gerufen wird, nur betreten wird, um dem Leidenden zu helfen, und dass er über alles, was er dort während der Ausübung seines Berufes erfahren sollte, Stillschweigen bewahren wird.

Ich halte es für wichtig und nachahmenswert, dass es sich beim Eid des Hippokrates um einen Lehrlingseid handelte. In vielen Diskussionen über unser Thema gibt man sich nämlich zu wenig Rechenschaft über die Situation des Lehrlings, das heisst heute über die Situation des Studierenden. Aber gerade die, die am Anfang ihres Studiums stehen, machen sich Gedanken über die moralischen Verantwortungen, die sie auf sich zu nehmen haben, wenn sie später selbst als praktische Wissenschafter arbeiten werden. Ich habe das Gefühl, es könnte für sie eine beträchtliche Hilfe bedeuten, wenn man ihnen Gelegenheit bieten würde, sich über diese Probleme auszusprechen. Leider neigen Diskussionen über ethische Fragen gerne dazu, sich im Abstrakten zu verlieren. Hier besteht nun die Möglichkeit, diese Probleme anhand konkreter Sachverhalte zu erörtern. Mein Vorschlag lautet daher, dass man – in Zusammenarbeit mit den Studenten – versuchen sollte, eine den heutigen Erfordernissen angemessene Formel eines bindenden Versprechens, ähnlich dem hippokratischen Eid, zu schaffen.

Es ist klar, dass dem Studierenden eine solche Formel nicht aufgedrängt werden darf. Im Gegenteil, wenn er Einwände erhebt, so würde er gerade dadurch ein höchst willkommenes Interesse zeigen, und sein Versprechen würde umso mehr ernst zu nehmen sein. Er sollte daher aufgefordert werden, Gegenvorschläge zu machen oder die Gründe für seine Einwände zu formulieren. Der Hauptzweck bestünde darin, ihn auf die Wichtigkeit der Probleme aufmerksam zu machen und die Diskussion in Gang zu halten. Es wäre gleichzeitig auch eine Diskussion über die Rolle der Tradition: der rein wissenschaftlichen und der moralischen Tradition und der Notwendigkeit, sie immer wieder zu erneuern und zu kritisieren. (Über die Beziehungen zwischen Tradition und Kritik siehe zum Beispiel mein Buch, Conjectures and Refutations, 3. Aufl. 1969, Seiten 27 f. und 120–135.) Ich möchte vorschlagen, die Reihenfolge der Abschnitte des hippokratischen Eides etwas zu ändern. Die von mir neu formulierten Absätze 1, 2 und 3 würden dann ungefähr den Absätzen 2, 1 und 3 des hippokratischen Eides, wie ich sie oben zusammengefasst habe, entsprechen. Die wesentlichen Gedanken des Eides könnten etwas allgemeiner formuliert werden, etwa anhand des folgenden Vorschlages:

Die berufliche Verantwortung

Es ist die Aufgabe jedes ernsthaften Studierenden, zum Wachstum unseres Wissens beizutragen, durch die Mitarbeit an der Suche nach der Wahrheit – oder an der Suche nach einer besseren Annäherung an die Wahrheit. Natürlich ist kein Studierender, ja nicht einmal der grösste Meister seines Faches unfehlbar; niemand ist gegen Irrtümer gefeit, auch die hervorragendsten Denker nicht. Obwohl uns dieser Umstand darin bestärken sollte, unsere Fehler nicht allzu tragisch zu nehmen, dürfen wir andererseits auch nicht der Versuchung erliegen, sich unseren eigenen Fehlern gegenüber nachsichtig zu verhalten: Wir dürfen uns nicht der Aufgabe entziehen, für die Beurteilung unserer Arbeit hohe Massstäbe aufzustellen und diese hohen Massstäbe durch angestrengte Arbeit noch dauernd zu verbessern. Zugleich müssen wir uns – und besonders was die Anwendbarkeit unserer Kenntnisse anbelangt – ständig der Begrenztheit und Fehlbarkeit unseres Wissens und der Grenzenlosigkeit unseres Nichtwissens bewusst bleiben.

Der Studierende

 Der Studierende gehört der Tradition und der Gemeinschaft derer an, die für das Wachstum unseres Wissens arbeiten; und er schuldet allen jenen Respekt, die bei der Suche nach Wahrheit mitgewirkt haben oder mitwirken. Er ist gegenüber seinen Lehrern, die ihn bereitwillig und grosszügig an ihrem Wissen und an ihrer Begeisterung teilhaben lassen, zur Loyalität verpflichtet. Zugleich ist es auch seine Aufgabe, sich selbst und andern gegenüber, seine Lehrer und Kollegen nicht ausgenommen, sachlich kritisch zu bleiben und seine kritische Unabhängigkeit zu entwickeln. Und schliesslich halte ich es für wichtig zu betonen, dass er sich intellektuellen Modeströmungen gegenüber kritisch verhalten und sich insbesondere vor intellektueller Anmassung hüten soll.

Die absolute Loyalität

Absolute Loyalität schuldet er weder seinem Lehrer noch seinen Kollegen, sondern nur der Menschheit. Man kann die Stellung jedes Wissenschafters, ja jedes Intellektuellen, mit der des Arztes vergleichen, der verpflichtet ist, den ihm anvertrauten Patienten nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen. Der Studierende muss sich stets der Tatsache bewusst bleiben, dass jede Art wissenschaftlicher Betätigung Ergebnisse hervorbringen kann, die sich unter Umständen auf das Leben sehr vieler Menschen auswirken werden. Er muss sich fortwährend bemühen, mögliche Gefahren und einen möglichen Missbrauch seiner eigenen und anderer Forschungsarbeiten im voraus abzuschätzen und über Sicherungen nachzudenken, und zwar auch dann, wenn er nicht beabsichtigt, seine wissenschaftlichen Ergebnisse praktisch anzuwenden.

Mein hier unterbreiteter Vorschlag kommt freilich nur einer provisorischen Neuformulierung des hippokratischen Eides gleich. Im besten Fall ist er geeignet, die Diskussion über das Problem neu in Gang zu bringen, und ich muss betonen, dass all dies unser Thema nur am Rande berührt. Trotzdem habe ich diese rein praktische Anregung an den Anfang meiner Ausführungen gestellt. Ich glaube nämlich sowohl an den Wert der überlieferten Grundsätze als auch an die Notwendigkeit, diese Grundsätze immer wieder kritisch zu überprüfen. Eine der wenigen Möglichkeiten, die uns in dieser Hinsicht zu Gebote stehen, liegt darin, dass wir versuchen, bei allen Wissenschaftern das Bewusstsein ihrer Verantwortung lebendig zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders auf einen Punkt hinweisen, der meiner Meinung nach mit der Krise der Universitäten zusammenhängt: Mehr und mehr Techniker werden gebraucht, und so kommt es dazu, dass mehr und mehr Doktoranden nur – oder fast nur – als Techniker ausgebildet werden. Oft lernen sie für ihre Dissertation nur eine Messtechnik und verstehen nicht einmal die Probleme, die durch jene Messungen gelöst werden sollen. Ich halte diese Situation für unentschuldbar und unverantwortlich; ich sehe in ihr einen Verrat am hippokratischen Eid von Seiten der akademischen Lehrer. Deren Aufgabe muss es sein, dem Studierenden die neuen, grossen Probleme nahezubringen, die durch die wissenschaftliche Forschung aufgedeckt werden und die ihrerseits wieder aller Forschung zugrunde liegen, sie inspirieren und motivieren.

Gegen die «Berufsethik» im engeren Sinn

 Wie man sieht, ist die schöne Tradition des hippokratischen Eides nicht gegen Missbrauch gefeit; und sie ist schon oft missbraucht oder missverstanden worden. So glaubte man den Eid im Sinne einer besonderen moralischen Verantwortung gegenüber den eigenen Berufskollegen verstehen zu müssen, und man interpretierte ihn als eine Art Zunftmoral. Aber gerade eine ernsthafte Diskussion der Kluft, die zwischen der echten Moral und der Etikette der Zünfte (dem «Berufsethos» im engeren Sinne) besteht, könnte wohl zu der so notwendigen Vertiefung und Festigung unseres moralischen Bewusstseins führen. Natürlich hege ich keine grossen Erwartungen: Ich glaube nicht, dass wir in diesen Diskussionen die grossen Probleme, denen wir heute gegenüberstehen, lösen werden. Aber Diskussionen, die sich über eine Revision des hippokratischen Eides entwickeln könnten, könnten vielleicht doch zu einer Neubesinnung auf grundlegende ethische Fragen führen. Dazu gehört beispielsweise die Frage der Verminderung der Not, des Leidens und insbesondere der sozialen Übel.

Die Aufgabe der öffentlichen Politik

 Vor vielen Jahren (in The Open Society, 1945, 5. Auflage 1969; deutsch bei Francke, Bern) habe ich vorgeschlagen, die Hauptaufgabe der öffentlichen Politik darin zu sehen, Mittel und Wege zur Vermeidung von vermeidbaren Leiden und Übeln zu finden. Ich stellte dieses Postulat dem des Utilitarianismus entgegen, der ja das grösste Glück der grössten Zahl verlangt. Ich vertrat die Ansicht, dass die Förderung des Glücks hauptsächlich der persönlichen Initiative überlassen werden soll; die Behebung vermeidbaren Leidens hingegen gehört zu den Aufgaben der öffentlichen Politik. Desgleichen wies ich darauf hin, dass nicht wenige Anhänger des Nützlichkeitsprinzips, wenn sie von der Verwirklichung eines Höchstmasses von Glück sprechen, wohl an die Verminderung der Not dachten.

Natürlich habe ich nie vorgeschlagen, das Postulat über die möglichst weitgehende Verminderung von sozialen Übeln zum höchsten, allgemeingültigen Moralprinzip zu erheben. Ich glaube nicht an die Gültigkeit eines einzigen höchsten und auf alle Einzelfälle anwendbaren ethischen Grundsatzes. Ich wies darauf hin, dass wir uns im politischen Leben immer wieder neu darauf besinnen müssen, welchen unserer Aufgaben der Vorrang gebührt. Und wenn wir Prioritäten aufstellen, so sollten wir uns nicht so sehr vom Wunsch leiten lassen, das Glück zu vermehren, als vielmehr vom Willen, das Leiden zu vermindern. Möglicherweise wird dieses Postulat nicht für immer die Liste der Prioritäten bestimmen. Es kommt vielleicht einmal eine Zeit, wenn uns die Behebung vermeidbaren Leidens weniger wichtig erscheinen wird, als es heute der Fall ist.

Krieg, Freiheit, Demokratie

Heute ist – niemand wird das bestreiten – die Vermeidung von Kriegen die bei weitem wichtigste praktische Aufgabe; mit ihr lässt sich nur die Vermeidung eines Anwachsens von Unfreiheit und tyrannischer Unterdrückung vergleichen. Meines Erachtens müssen wir heute alle – sei es als Naturwissenschafter oder Geisteswissenschafter, als Bürger oder ganz einfach als Menschen – alles tun, das in unseren Kräften steht, um Kriege aus der Welt zu schaffen. Ein Teil unserer Bemühungen muss in dem Versuch bestehen, jedermann bewusst zu machen, was Krieg bedeutet, und zwar nicht allein an Tod und Zerstörung, sondern auch an sittlicher Entartung. Besonders besorgniserregend ist die wachsende Popularität des Kults der Gewalt. Wir alle kennen jene Erzeugnisse der sogenannten «Unterhaltungsindustrie» und ihre dauernde Verherrlichung der Gewalt, die angeblich harmlosen Wildwestfilme und Kriminalromane, die auch nicht vor der unverhüllten Zurschaustellung von brutalen Grausamkeiten haltmachen. Es ist tragisch, dass selbst echte Künstler und Wissenschafter dieser Propaganda erliegen. Leider lassen sich auch unsere Studenten – wie der um Che Guevara betriebene Kult zeigt – von ihr beeinflussen.

Aber ich glaube nicht, dass sich der Erste oder der Zweite Weltkrieg oder die sich zurzeit in Vietnam abspielende Tragödie als Ausdruck menschlicher Aggressivität erklären lassen. Heute zumindest kommt die Hauptgefahr von der Notwendigkeit, Widerstand gegen Angriffe zu leisten, und von der Furcht vor einem Angriff. Die Notwendigkeit, Widerstand zu leisten, und die Angst bilden, zusammen mit intellektueller Verwirrtheit und Hartköpfigkeit, manchmal vielleicht auch Grössenwahn, die Hauptquellen der Kriegsgefahr, die mit unseren ungeheuren Zerstörungsmitteln wächst.

Viele haben daraus gefolgert, der Wissenschafter sei nunmehr moralisch verpflichtet, alle Mitarbeit an Kriegsrüstungen zu verweigern und für die Abrüstung um jeden Preis, ja selbst für einseitige Abrüstung einzutreten. Aber diese Dinge sind nicht so einfach. Wir dürfen nicht übersehen, dass bis jetzt ein Atomkrieg gerade wegen gegenseitiger Bedrohung mit Vernichtung vermieden wurde. Die Abschreckungsmittel erfüllten bis heute ihren eigentlichen Zweck: Sie wirkten tatsächlich abschreckend. Aus diesem Grunde halte ich es für unrichtig, für eine einseitige Abrüstung einzutreten. Der Umstand, dass Japan keine Atombomben besass, hinderte uns seinerzeit nicht, unsere Atombomben zu verwenden. Es ist aber unwahrscheinlich, dass wir in moralischer Hinsicht minderwertiger sind als unsere Konkurrenten im Rüstungswettlauf. Die Frage, ob es richtig war, die Atombomben über Japan abzuwerfen, ist äusserst schwierig. Jene Wissenschafter, die für den Einsatz der neuen Waffe stimmten, waren zweifellos höchst verantwortungsbewusste Menschen. Sie scheinen mir aber einen wichtigen Punkt nicht hinreichend überlegt zu haben: Sie hätten darauf bestehen können, dass die Bombe, ungeachtet der höheren damit verbundenen Risiken, nur auf rein militärische Ziele abgeworfen werden darf, zum Beispiel auf eine Konzentration von Kriegsschiffen. (Solche Konzentrationen existierten damals.) Natürlich ist es furchtbar, eine Entscheidung von dieser Tragweite treffen zu müssen. Es ist leicht, diese Probleme im Nachhinein theoretisch zu diskutieren. Aber ganz anders ist die Lage jener, die mitten in der Auseinandersetzung stehen und sich darüber schlüssig werden müssen, welche Entscheidung zu weniger Leiden, Unglück und Zerstörung führen wird. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass die Politiker, die für die endgültige Entscheidung verantwortlich waren, als Beauftragte ihrer Wählerschaft handelten. Für viele mag das Grund genug sein, nie Politiker zu werden; aber wir sollten uns davor hüten, die Politiker leichtfertig abzuurteilen.

Verteidigung ist oft klar vom Angriff unterscheidbar

Niemand hat das Recht oder auch nur die Möglichkeit, sich von den grossen Problemen unserer Zeit zu distanzieren: Wir müssen alles tun, um einen Krieg zu vermeiden und, falls er doch ausbrechen sollte, ihm ein Ende zu setzen. Das bedeutet nicht, dass ich zugebe, dass es einen gerechten Krieg, nämlich einen Verteidigungskrieg, nicht geben kann. Zwischen Angriff und Verteidigung liegen Welten. Alles, was man zugeben kann, ist, dass es manchmal nicht leicht fällt zu entscheiden, wer angegriffen hat.

Aber wer glaubt im Ernst, dass Länder wie die Schweiz oder Schweden heutzutage einen Angriffskrieg führen würden. Wer glaubt wirklich, dass Serbien im Juli 1914 Österreich angriff oder dass Finnland am 30. November 1939 Russland überfiel? Wer zweifelt daran, ob es die Tschechoslowakei oder die Sowjetunion war, die in 1968 zu den Waffen griff?

Kriegsdienstverweigerung

 Man darf einen Wissenschafter, der sein Land bedroht sieht, nicht verurteilen, wenn er für die Verteidigung seines Landes arbeitet. Aber auch ein gerechter Krieg, ein Verteidigungskrieg, kann jeder Kontrolle entgleiten. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass es je einen Krieg gegeben hat, in dem nicht auf beiden Seiten Kriegsverbrechen begangen wurden, oder dass es einen solchen Krieg geben kann. Wenn ein Krieg einmal ausgebrochen ist, so befindet sich der Wissenschafter, wie jeder andere Bürger auch, in einer schwierigen moralischen Zwangslage, und niemand kann ihm hier mit allgemeinen Rezepten helfen; in letzter Linie muss er sein Gewissen befragen.

Aber ein Punkt kann klargemacht werden: Es waren die zuständigen Politiker und Rechtsberater der Regierungen der alliierten Mächte, die die Nürnberger Prozesse durchführten und die damit das Prinzip der Strafwürdigkeit von Kriegsverbrechen aufstellten. Damit anerkannten sie, dass das Gewissen eines jeden Menschen die letzte Berufungsinstanz ist, die entscheidet, ob er einem bestimmten Befehl Widerstand leisten soll oder nicht. Aber damit ist es heute den gleichen Politikern und Juristen verwehrt, zu behaupten, dass der Staatsbürger – und das heisst in unserem Fall der Wissenschafter – verpflichtet sei, jedem Befehl zu gehorchen, ohne auch nur nach dem «Warum» zu fragen: Sie würden sich sonst widersprechen. Die Freiheit, für die zu kämpfen wir bereit sein müssen, besteht gerade darin, dass wir auch frei sein müssen, uns einem Befehl zu widersetzen, wenn wir überzeugt sind, es sei verbrecherisch, ihm Folge zu leisten. Es ist daher in einem demokratischen Staatswesen die unumgängliche Pflicht eines jeden loyalen Politikers, den Gewissenskonflikt zu verstehen, in dem sich ein Wissenschafter oder ein Soldat befinden kann, und für die Rechte des Dienstverweigerers aus Gewissensgründen, sei er nun Wissenschafter oder Soldat, zu kämpfen.

Die heute in den Vereinigten Staaten geltende gesetzliche Regelung des Problems der Dienstverweigerer aus Gewissensgründen ist daher unzulänglich. Sie verlangt vom Dienstverweigerer, der sich auf sein Gewissen beruft, die Erklärung, er sei aus religiösen Gründen gegen alle Kriege schlechthin. Nun gibt es aber Menschen, die sich verpflichtet fühlen, für die Vereinigten Staaten zu kämpfen, falls ein Krieg zur Verteidigung ihres Landes geführt wird, die aber davon überzeugt sind, dass sie nicht mit gutem Gewissen in Vietnam kämpfen können. Moralische Bedenken dieser Art sollten respektiert werden: Sie sind moralisch ebenso wichtig wie die Gründe, die unter die heute gültige Definition der Dienstverweigerung aus Gewissensgründen fallen. Wie in anderen Fällen glaube ich auch hier an den Wert einer ernsthaften und kritischen Diskussion über diese komplizierten Sachverhalte und an den Unwert eines von beiden Seiten mit billigen Schlagworten geführten Meinungsstreites.

Wissen und Macht

 Robert Oppenheimer soll einmal gesagt haben: «Wir Wissenschafter sind in diesen Jahren bis zum Rand des Abgrunds der Vermessenheit gegangen. Wir haben gesündigt.» Aber auch hier handelt es sich nicht um ein neues Phänomen. Schon Bacon hat seinerzeit versucht, die Naturwissenschaften dadurch mehr anziehend zu machen, dass er erklärte: «Wissen ist Macht.» Damit stand auch er am Rande der Vermessenheit. Er hat zwar nicht über viel Wissen oder über grosse Macht verfügt; aber er strebte nach Wissen, weil er nach Macht strebte – oder mindestens erweckte er diesen Eindruck.

Ich will mich nicht auf philosophische Reflexionen über das Böse der Macht im allgemeinen einlassen, obwohl meine eigenen Erfahrungen die Bemerkung Lord Actons bestätigen, dass Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert. Was die Naturwissenschaften anbelangt, so meine ich, dass es eine Sünde wider den Heiligen Geist wäre, sie im wesentlichen als Mittel zur Vermehrung unserer Macht anzusehen. Das beste Gegenmittel gegen diese Versuchung ist, uns immer daran zu erinnern, wie wenig wir wissen. Die Bedeutung der höchsten geistigen Errungenschaften des Menschen liegt nicht so sehr darin, dass sie den Bereich unseres Wissens erweitert haben; es ist, glaube ich, von noch grösserer Bedeutung, dass sie uns neue Kontinente unseres Nichtwissens erschlossen haben.

Die Sozialwissenschaften: Entdeckung der ungewollten Folgen unserer Handlungen

Der Sozialwissenschafter trägt hier eine ganz besondere Verantwortung, denn sein Studium bezieht sich oft ganz direkt auf das Problem des Gebrauchs und des Missbrauchs der Macht. Ich glaube, dass besonders eine moralische Verpflichtung des Sozialwissenschafters allgemein anerkannt werden sollte: Wenn er neue Instrumente der Macht entdeckt, insbesondere Instrumente, die eines Tages der Freiheit gefährlich werden könnten, so muss er die Öffentlichkeit vor den drohenden Gefahren warnen und sich auch bemühen, wirksame Gegenmittel ausfindig zu machen. Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Wissenschafter – wenigstens die meisten schöpferisch tätigen Wissenschafter – den Wert unabhängigen und kritischen Denkens sehr hoch einschätzen. Die meisten unter ihnen verabscheuen schon die blosse Idee einer von den Technologen der Massenmedien manipulierten Gesellschaft; sie würden der Meinung zustimmen, dass die Gefahren der Sozialtechnologie nicht geringer sind als die des Totalitarismus. Aber obwohl wir die Atombombe gebaut haben, um die Ausbreitung des Totalitarismus zu bekämpfen, so betrachten es doch nur wenige als ihre Aufgabe, über Massnahmen nachzudenken, um die Gefahren der Manipulation der Massen zu bekämpfen. Dabei könnte zweifellos viel in dieser Hinsicht getan werden, und zwar ohne Einführung einer Zensur oder ähnlicher Beschränkungen der Freiheit.

Man könnte fragen, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine besondere Verantwortung des Wissenschafters, die sich von der jedes anderen Staatsbürgers oder jedes anderen Menschen unterscheidet. Ich würde antworten: Jedermann trägt dort eine besondere Verantwortung, wo er entweder über besondere Macht oder über besonderes Wissen verfügt. Nur die Wissenschafter können die Begleiterscheinungen und Folgen ihrer eigenen Leistungen abschätzen. Nichtfachleute, wie beispielsweise Politiker, wissen dazu nicht genug. Dies gilt für die Entwicklung neuer Chemikalien zur Erhöhung landwirtschaftlicher Erträge wie für die Herstellung neuer Waffen. Gerade wie es in früheren Zeiten hiess: noblesse oblige, so muss es heute heissen – der Ausdruck stammt von Professor André Mercier –: sagesse oblige. Es ist die Zugänglichkeit zu neuem Wissen, die neue Verpflichtungen schafft.

Die Naturwissenschaft und das Problem der ungewollten Folgen

 Nur Naturwissenschafter können beispielsweise die Gefahren des Bevölkerungswachstums voraussehen oder die des zunehmenden Verbrauchs von Erdölprodukten oder der für friedliche Zwecke verwendeten Atomenergie (wegen des sich anhäufenden Atommülls). Wissen sie auch genug darüber? Sind sie sich namentlich der Grösse ihrer Verantwortung bewusst? Einige unter ihnen zeigen sich der Aufgabe gewachsen, andere nicht, so scheint es. Manche sind wohl zu sehr mit konkreten Aufgaben beschäftigt; andere geben sich vielleicht ganz einfach nicht genügend Rechenschaft. Aus diesem oder jenem Grunde scheint es niemand als seine Aufgabe zu betrachten, sich zum Beispiel um die ungewollten Auswirkungen der bedenkenlos vorangetriebenen technischen Entwicklung zu kümmern. Die Möglichkeiten der praktischen Anwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse sind betörend. Obgleich schon viele Leute daran gezweifelt haben, ob uns der technische Fortschritt in allen Fällen wirklich glücklicher mache, halten es doch nur wenige für ihre Pflicht, herauszufinden, wie viele vermeidbare neue Leiden die zwar ungewollten, aber oft unvermeidlichen Folgen des technischen Fortschrittes mit sich bringen.

Das Problem der ungewollten Folgen unserer Handlungen – Folgen, die nicht nur unbeabsichtigt, sondern oft auch nur schwer vorauszusehen sind – ist das grundsätzliche Problem des Sozialwissenschafters.

Da sich der Wissenschafter nun einmal unentwirrbar in die Anwendung seiner Wissenschaft verwickelt hat, so sollte er darin eine seiner besonderen Verpflichtungen sehen, die ungewollten Folgen seiner Tätigkeit so weit als möglich vorauszusehen. Dann kann er, bevor es zu spät ist, die Aufmerksamkeit auf jene ungewollten Folgen lenken, die wir vermeiden müssen.

 

 Nach einem am Internationalen Philosophenkongress 1968 in Wien im Rahmen der Gruppe «Wissenschaft und Ethik» gehaltenen Referat. © Copyright by Sir Karl Popper, 1970.


Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 50 (1970-1971), Heft 7

 

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