Die moralische Unvollkommenheit des Mehrheitsprinzips
Politische Autorität ist nur dann legitimiert, wenn sie der Minderheit genügend Möglichkeiten zur gleichberechtigten Teilhabe einräumt. Im Dauerprovisorium Schweiz sollte diese Einsicht eine Bürgertugend sein.
Politische Autorität kann heute nie allein nur deshalb legitim sein, weil eine Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern an ihre Legitimation glaubt. Der demokratische Rechtsstaat hat darüber hinaus die ethisch relevante Herausforderung zu meistern, dass die siegreiche Mehrheit nicht immer recht hat. Denn was ist die Mehrheit? Sogenannte «Mehrheitsentscheide» werden in der Schweiz von rund 20 Prozent des Volkes gesprochen: Beim Souverän handelt es sich nämlich um die Bevölkerung minus die Menschen ohne Schweizer Bürgerrecht. Von diesem Schweizervolk bleiben die Stimmberechtigten übrig, minus die unterliegende Mehrheit der Teilnehmenden an einer Abstimmung.
Die Problematik des Mehrheitsprinzips offenbart sich also überdeutlich dadurch, dass der Souverän in unserm Land eine Minderheitsmehrheit ist. Umso mehr kommt es darauf an, wie mit den unterlegenen Minderheiten umgegangen wird, also jenen Minderheiten, die die Auswahl der Entscheidungsberechtigten, die Verfahren zur Entscheidungsfindung und die Art der Durchsetzung der Entscheide durch die politische Autorität zumindest nicht gut, vielleicht sogar falsch finden.
«Soll die Minderheit politische Autorität auch dann anerkennen, wenn diese Autorität für sie falsche Entscheide durchsetzen muss, wie sie von der Mehrheit gewollt sind?»
Wenn die gleichberechtigte Teilhabe aller am Entscheidungsprozess ein demokratiepolitisches Gebot sein soll, kann sich politische Autorität nicht allein über die Volkssouveränität legitimieren. In der Schweiz müssen Bürgerinnen und Bürger beispielsweise auch Grundwerte wie die direkte Demokratie, den Föderalismus, den Minderheitenschutz oder die Subsidiarität als Möglichkeiten der Partizipation und Interessenvertretung im Rechtsstaat anerkennen. Es ist anzunehmen, dass sich aufgrund solcher Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zusätzliche Legitimationsgewinne für die politischen Autoritäten in unserem Land ergeben. Das ist zu prüfen, denn der Glaube von Mehrheiten an die Rechtmässigkeit politischer Autorität ist im Sinne Max Webers zwar eine notwendige, aber meines Erachtens längst keine hinreichende Legitimationsquelle für die Ausübung von Herrschaft im demokratischen Rechtsstaat.
Zum Zweiten spricht die ethische Unvollkommenheit des Mehrheitsprinzips beispielsweise gegen idealistische Auffassungen, welche Legitimation als Legitimationsglauben oder dergleichen postulieren. Der demokratische Rechtsstaat hat immer normative Überschüsse, die von den Bürgerinnen und Bürgern angestrebt werden, aber nicht verwirklicht sind. Die Verfassung stimmt nie mit der Verfassungsrealität überein. Deshalb rechnet die direkte Demokratie mit einem hohen Revisionsbedarf und ist offen für höhere moralische Ansprüche. Die erkenntnisleitende Frage für diesen Text lautet folglich: Soll die Minderheit der Herrschaftsunterworfenen politische Autorität auch dann anerkennen, wenn diese Autorität für sie falsche Entscheide durchsetzen muss, wie sie von der Mehrheit gewollt sind?
Der Staat als Lernprozess
Kann die Aussage vom Mehrheitsprinzip als alleinige Legitimationsressource für politische Autorität widerlegt werden? Schliesslich sind schon nur ein überwiegender Grossteil der in Bundesbern anfallenden politisch relevanten Entscheide solche des Parlaments und nicht des Volkes. Bei der Begründung politischer Autorität muss es seit Aristoteles darum gehen, ob sie den Menschen ermöglicht, im besten Fall als moralisch vollkommene Wesen zu handeln. Aristoteles geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus ein politisches und staatenbildendes Wesen ist und seinen höchsten ethischen Status erst als Bürger erreicht. Mit Sokrates hat dieser Bürger sogar die moralische Pflicht zum Gehorsam gegenüber Gesetzen.
Doch Gehorsam allein genügt heute nicht mehr. Entscheidend für die Legitimierung politischer Autorität ist, dass sie den Herrschaftsunterworfenen autonomes Denken und Handeln im Staat ermöglicht. Und zwar unabhängig davon, welche Zwecke politische Herrschaft verfolgt. Egal, ob sie das Schlimmste verhindert, ein gutes Leben für alle oder allen ein Leben in Freiheit ermöglicht, stets hat sie eine Begründungspflicht gegenüber den Herrschaftsunterworfenen. Legitimationsgrundlage der politischen Autorität ist seit Thomas Hobbes der Vertrag, der das Individuum mit Autonomie ausstattet und die Autorität Gottes und der Natur durch das Recht ersetzt. Bestimmend wird die Vorstellung, dass die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger nur durch solche Gesetze eingeschränkt werden darf, auf die sie sich mit allen andern im Rahmen fairer Verfahren und Diskurse und auf der Grundlage gleichberechtigter Teilhabe einigen können.
Über den staatsphilosophischen Kontraktualismus der klassischen Neuzeit (Hobbes, Locke) resultierte über Kant mit dem gerechtigkeitsphilosophischen Kontraktualismus (Rawls, Habermas) eine politische Philosophie, gemäss der sich politische Autorität und Herrschaftsunterworfene in bestimmten Modi der Selbstgesetzgebung vereinigen sollen. Bürgerinnen und Bürger der Moderne sollen die Rolle eines hypothetischen Gesetzgebers einnehmen und dabei auf Einigungsverfahren oder auf Verfahren argumentativer Rechtfertigung Bezug nehmen. Sie sollen nur denjenigen Normen folgen, von deren Richtigkeit sie sich selbst haben überzeugen können. Teilhabe ist ethisch relevant: Je besser die Möglichkeiten der direkten Mitwirkung bei politischen Entscheidungen, desto zufriedener die Menschen. Das zeigt die Glücksforschung. Bürgerinnen und Bürger mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen und konfligierenden Auffassungen wollen im demokratischen Rechtsstaat mitreden können. Das Gefühl, als Beteiligte am Staat ernst genommen zu werden, erhöht die Chance, dass sie politische Autorität in einem umfassenderen Sinn anerkennen können.
«Ziviler Ungehorsam will eine Änderung der Gesetze und der Regierungspolitik herbeiführen, eben weil der Idealzustand des Staates für gewisse Bürgerinnen und Bürger offensichtlich noch nicht erreicht ist.»
Die Begründung dafür liefert Rawls. Nach seinen Gerechtigkeitsprinzipien – einer Variante von Kants Prinzipien – hat jeder das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben Recht aller andern verträglich ist. Hierbei geht es nun offensichtlich um Gerechtigkeit und die Einsicht in die Sinnhaftigkeit und Zweckmässigkeit politischer Autorität, nicht mehr bloss um deren Legitimation. Faire Verfahren und offene Diskurse sollten für diese Art von Legitimation politischer Autorität mindestens so entscheidend sein wie das Mehrheitsprinzip.
Einsicht und politische Autorität scheinen sich sogar gegenseitig zu bedingen: Staaten werden autoritär, wenn sich der Herrschaftsanspruch einzelner oder weniger von der Zustimmung aller ablöst. Die antiautoritäre Reaktion darauf wäre aber ebenso falsch. Autoritarismus und Anarchie schliessen moralisches Handeln der einzelnen Menschen im aristotelischen Sinne aus. Die eine Position aufgrund mangelnder Selbstbestimmung des einzelnen, die andere wegen fehlender Übereinstimmung. Der demokratische Rechtsstaat dagegen kann als politische Ordnung gar nie genug legitim, gut und gerecht sein. Aus Sicht der politischen Ethik ist er nie fertig. Dieser liberale Staat ist kein Zustand. Er ist ein Prozess: ergebnisoffen und in seiner direktdemokratischen Form ein institutionalisiertes Provisorium. Es bildet den Rahmen für einen permanenten Lernprozess der ganzen Gesellschaft.
Ziviler Ungehorsam
Auch wenn wir annehmen, dass die Mehrheitsregel von allen akzeptiert ist, die Verfahren fair, die Diskurse offen geführt und transparent sind, gibt es in einer (fast) gerechten Ordnung immer noch ausreichend Konfliktpotenzial: Es kann Streit geben über die richtige Verfassung, Recht und Gerechtigkeit, den Schutz des Lebens, die Machtausübung im Staat oder die äussere Souveränität des Staates. Und die politische Autorität muss allzu oft Entscheide fällen, die sie, aber auch andere in Dilemmata und Konflikte stürzen.
Gehen wir weiter davon aus, die Mehrheit im demokratischen Rechtsstaat hätte in fairen Verfahren freiwillig Lösungen zu den erwähnten Konflikten zugestimmt. Sie hätte dabei auch alle legalen Mittel zum Widerstand und zur Verfassungs- und Gesetzesänderung ausgeschöpft. Wäre in diesem idealtypischen Fall der Lernprozess der Bürgerinnen und Bürger abgeschlossen, die politische Autorität im besten Sinn legitimiert? Keinesfalls.
Einer politischen Autorität, die behaupten würde, am Ende des Lernprozesses bei einem idealen Endprodukt angelangt zu sein, müsste die Zustimmung verweigert werden. Diese Autorität wäre totalitär, weil sie ihren Zweck erfüllt sähe und meinte, das friedliche Zusammenleben der Menschen im Staat und das Überleben des Staates in seinem Umfeld gesichert zu haben. Womöglich hätten zusätzliche extralegale Formen des Widerstands solche politischen Autoritäten rechtzeitig davor bewahren können, einer Ideologie der Lernverweigerung im umfassendsten Sinne nachrennen zu müssen.
Ziviler Ungehorsam ist deshalb unter bestimmten Voraussetzungen geboten, den Lernprozess im Rechtsstaat am Leben zu erhalten. Ziviler Ungehorsam – eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte und gesetzeswidrige Handlung, so definierte es Hugo Adam Bedau 1971 – will eine Änderung der Gesetze und der Regierungspolitik herbeiführen, eben weil der Idealzustand des Staates für gewisse Bürgerinnen und Bürger offensichtlich noch nicht erreicht ist. Doch erst die von Habermas (1983) und Rawls (2017) formulierten Zusatzbedingungen qualifizieren zivilen Ungehorsam als Mittel in einem Verfahren, das politischer Autorität den postulierten Zugewinn an Legitimation verschafft. Es sind dies die folgenden Bedingungen:
• Ziviler Ungehorsam muss Regeln verletzen! Nur so erzielt er die Appell- und Signalwirkung, dass der demokratische Rechtsstaat mit seinen legitimierenden Verfassungsprinzipien über seine positiv-rechtliche Verkörperung hinausweist. Fälle, in denen der Staat Normen schafft und durchsetzt, die nicht auf moralischen Grundsätzen beruhen, müssen öffentlichkeitswirksam an den Pranger gestellt werden. Solche (spektakulären) Aktionen sind besonders geeignet, kollektive Lernprozesse auszulösen.
• Ziviler Ungehorsam darf die Verfassungsordnung als Ganzes nicht gefährden.
• Alle legalen Einflussmöglichkeiten sollen erschöpft sein, bevor ziviler Ungehorsam zum Einsatz kommt (Ultima-Ratio-Regel).
Systembedingte Rechtfertigungsprobleme der Teilhabe
Aber auch ziviler Ungehorsam ist abhängig vom Kontext, in dem er zur Anwendung kommt. In einer repräsentativen Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland, in der die Bürgerinnen und Bürger zwar alle vier Jahre das Parlament und die Regierung wählen, aber nicht darüber abstimmen können, ob auf dem eigenen Staatsgebiet Raketen mit Atomsprengköpfen aufgestellt werden sollen, scheint ziviler Ungehorsam als Ultima Ratio besonders gerechtfertigt zu sein.
Zugespitzter stellt sich die Frage für die direkte Demokratie in der Schweiz: Ist ziviler Ungehorsam als extralegales Mittel ethisch gerechtfertigt, wenn den Bürgerinnen und Bürgern eine Vielzahl legaler Möglichkeiten zum Widerstand und zur Verfassungs- oder Gesetzesänderung zur Verfügung stehen? Die Schweiz ist – wie gesehen – ein liberaler Staat, der nie fertig ist. Unser Land ist geprägt von der direkten Demokratie, einem Instrument, das für höchstmögliche politische Legitimation sorgt. In den Regierungen und Parlamenten ist die Macht unter den Parteien geteilt, was Stabilität schafft und die Reibungsverluste in der politischen Auseinandersetzung begrenzt. Der Föderalismus sorgt für Selbstbestimmung der Gliedstaaten, ermöglicht Ausgleich und beschränkt Ungleichheit. Die Subsidiarität ermöglicht einen schlanken und kostengünstigen Staat. Dazu kommt der Pragmatismus als Handlungsprinzip. Die Verträge, auf denen diese Zustimmungsmodi für die politischen Autoritäten auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene beruhen, werden fortlaufend nachgebessert. Die politische Autorität muss sich ständig erklären und rechtfertigen, jedenfalls solange es noch eine kritische Öffentlichkeit gibt. Die Förderung der Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger wäre heute das prioritäre Ziel einer neuen Aufklärung im digitalen Zeitalter, eine Bildungsoffensive gegen die selbstverschuldete Abhängigkeit durch Reizüberflutung infolge Orientierungslosigkeit.
«Entscheidend für die Legitimierung politischer Autorität ist, dass sie den Herrschaftsunterworfenen autonomes Denken und Handeln im Staat ermöglicht.»
Diese Ergebnisoffenheit hat jedoch ihren Preis. Weil es landauf, landab so viele Abstimmungen, Verfahren und Diskurse auf den unterschiedlichsten Staatsebenen gibt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Entscheide richtig oder falsch sein können. Oder dass keine Entscheide gefällt werden. Politische Probleme lösen wir ja häufig über Verfahren, weil die Inhalte so komplex sind. Der um sich greifende Reformstau als vermeintliches Gebot mehrheitsfähiger Politik ist ein zeitraubender Umweg, den wir uns offensichtlich (noch) leisten können. Dank den vielen Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, aus denen sich eben auch Problemlösungsdefizite ergeben können, muss sich politische Autorität im Dauerprovisorium Schweiz jenseits des Mehrheitsprinzips umfassender legitimieren als anderswo.
Immer noch missachtet dieser Rechtsstaat auf Bundesebene beispielsweise, dass mitbestimmen sollte, wer Steuern bezahlen muss. Wer nicht eingebürgert ist, besitzt aber weder ein Stimm- noch ein aktives oder passives Wahlrecht. Für ein Land mit einem Ausländeranteil von rund 25 Prozent ist das problematisch. Die meisten dieser Menschen zahlen seit Jahren brav Steuern. Ebenso wie alle Schweizerinnen und Schweizer sind sie von kollektiven Entscheiden betroffen. Sie dürfen aber nicht mitentscheiden, ob in ihrer Gemeinde eine Umfahrungsstrasse gebaut oder das Schulhaus erweitert werden soll. Und wenn sich in einer Berufsschulklasse die eine Hälfte für politische Teilhabe interessiert, aber im Gegensatz zur satten andern Hälfte, die dafür nicht zu haben ist, sich weder als Wählende noch als Abstimmende einbringen kann, solange sie sich nicht «einbürgern» lässt, muss uns das für die Zukunft unserer Demokratie ganz besonders zu denken geben.
Die moralische Unvollkommenheit des Mehrheitsprinzips
Die Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz haben zum Glück viele Möglichkeiten, die moralische Unvollkommenheit des Mehrheitsprinzips zu erkennen und zu bereinigen. Deshalb müssen die Verfahren und Diskurse für das Aushandeln und Durchsetzen von Regeln in diesem ergebnisoffenen Rechtsstaat – zusätzlich zum Mehrheitsprinzip – normative Bestandteile für seinen Fortschritt sein. Dazu gehört auch das Mittel des zivilen Ungehorsams. Im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie greift es in der direkten Demokratie als Ultima-Ratio-Regel einfach etwas später. Es liegt an der politischen Autorität in unserem Land, sich über diese Zustimmungsmodi zusätzliche Legitimation zu verschaffen. Meine These lautet also wie folgt: Politische Autorität ist dann und nur dann legitimiert, wenn die Minderheit genügend Möglichkeiten zur gleichberechtigten Teilhabe hat. Das Mehrheitsprinzip ist für die Legitimierung politischer Autorität zwar notwendig, aber längst nicht hinreichend.
Für Aristoteles ist der Mensch ein politisches, aber auch ein sprechendes Tier. Politik ist der Ort, in dem das Wort herrscht. Gleichberechtigte Teilhabe im demokratischen Rechtsstaat ermöglicht es dem Menschen, zum rechten Zeitpunkt das richtige Wort zu finden, um ein Handeln im Interesse der Gesellschaft auszulösen. Der Klimastreik der Jungen gehört definitiv dazu, sofern die politische Autorität ihre Worte begreift und klug handelt.
Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht nur an Wahl- und Abstimmungssonntagen zu Wort kommen, sondern auch in fairen Verfahren und offenen Diskursen sowie allenfalls sogar zum extralegalen Mittel des zivilen Ungehorsams greifen, legitimieren sie politische Autorität viel besser, als dies das Mehrheitsprinzip jemals könnte. Die gleichberechtigte Teilhabe aller bei möglichst vielen Gelegenheiten hat schliesslich den moralischen Zweck, politische Autorität vor dem Irrglauben zu schützen, eine höchste Gemeinschaft von Gemeinschaften (Aristoteles) zu sein oder schlimmer noch, ein Königreich der Philosophinnen und Philosophen errichten zu wollen (Platon).