Die Medizin der Zukunft
Welche Dienstleistungen muss ein Spital künftig erbringen? Auf wen kommt es an? Und welche Rolle spielt das Menschsein dabei? Provokante Gedanken zu einer falsch geführten Debatte.
Zum Einstieg ein Gedanke:
«Erwartungsmanagement» heisst ein Gebot der Stunde. Ob Berufspolitiker, Profisportlerin oder Klinikdirektor: Heutzutage soll man sich bewusst sein, was von einem erwartet wird, um niemanden zu enttäuschen – und hat damit selber ein mächtiges Instrument in der Hand, um nicht enttäuscht zu werden. Erwartungen zu «managen» bedeutet, Meinungen und Haltungen nicht mehr entstehen zu lassen, sondern sie zu schaffen, sie aktiv zu steuern.
Für mich heisst das in diesem Moment: Ich bin mir bewusst, dass an einen Text mit dem Titel «Die Medizin der Zukunft» ganz unterschiedliche Erwartungen gestellt werden. Ich vermute, dass ich einen guten Anteil derselben erfüllen könnte, wenn ich in verschiedenen Szenarien technologische Zukunftsvisionen mit zu erwartenden wissenschaftlichen Sprüngen in Medizin, Genetik, Pharmazie und Biochemie kombinieren und dann die mir wahrscheinlichste Kombination als «probable case» erläutern würde. Diese Erwartung wage ich zu enttäuschen. Ich werde mich auf lediglich zwei Entwicklungslinien festlegen, die die Medizin der Zukunft – parallel, aber auch sich umschlingend – prägen werden: die technologische Entwicklung einerseits, das Menschsein andererseits.
Betrachten wir zuerst die technologische Entwicklung:
Die Medizin der Zukunft beginnt immer heute. Die Entwicklungen sind stets nur prognostizierbar, nie gewiss. Wir stehen, dessen bin ich mir sicher, am Anfang einer grossen Entwicklung unter dem Titel «personalisierte Medizin». Wir werden in Zukunft immer mehr Krankheiten schon an der Wurzel packen und massgeschneidert therapieren können. Bei Krankheiten, die durch einzelne oder wenige Ursachen ausgelöst werden (etwa ein Gendefekt, der zur Bildung eines Tumors führt), werden wir einen unglaublichen therapeutischen Profit erleben. Durch die höchst spezifizierte, personalisierte Behandlung wird eine deutliche Lebensverlängerung und Lebensverbesserung im Sinne von Leidverminderung möglich sein. Auch die Diagnostik wird immer genauer, immer präziser. Patienten mit Krankheitsbildern, die bis vor kurzem nicht therapiert werden konnten, werden in Zukunft stabilisiert oder sogar geheilt werden können. Dies gilt sowohl in medizinisch-internistischen Bereichen – Tumorerkrankungen, Entzündungen – als auch im Bereich der Traumatologie, Prothetik oder bei Rückenmarksverletzungen.
Dieselbe technologische Entwicklung, die unter anderem diese diagnostischen und therapeutischen Fortschritte ermöglicht, wird dazu führen, dass alles, was automatisierbar ist, automatisiert werden wird. Die Möglichkeiten sind riesig, ihre Grenzen noch kaum absehbar. Patiententransporte via Roboter, das automatisiertes Umlagern vom Bett auf den OP-Tisch, die automatische Medikamentenapplikation durch «Chippen» der Patienten, so dass individuelle, personalisierte Informationen zu Unverträglichkeiten direkt berücksichtigt, die Standardmedikation adaptiert und anschliessend programmiert werden können – was paradox tönen mag, wird hier Wirklichkeit: Eine individuumsunabhängige Technologisierung und Algorithmisierung wird dem einzelnen – und immer einzigartigen – Patienten einen grossen Gewinn an Sicherheit und Behandlungsqualität bringen.
Dazu ein weiterer Gedanke:
Medizin ist meine Leidenschaft. Ich hätte mir nicht vorstellen können, etwas anderes zu studieren und heute noch Tag für Tag zu lernen. Auch wenn ich seit mehreren Jahren nicht mehr primär klinisch tätig bin, kenne ich keinen schöneren Beruf als den des Arztes. Meine Leidenschaft, unsere Klinik zu leiten und für unsere Patientinnen und Patienten täglich das Beste aus uns allen herauszuholen, speist sich direkt aus meiner Leidenschaft für die Medizin. Und Medizin ist ja wohl letztendlich eine Leidenschaft für den Menschen. Oder war…? Ein Kollege vertrat kürzlich die Meinung, es sei heute jeder Arzt ein Mediziner, aber nicht jeder Mediziner noch ein Arzt. Gemeint war wohl: es kann in der persönlichen Identität und Identifikation eines Mediziners mit seinem Beruf die Leidenschaft für den Menschen im Vordergrund stehen – es kann aber auch die Faszination für die Technologie, die Forschung und die Entwicklung vorrangig sein. Beides ist legitim. Wichtig ist, zu spüren und zu wissen, wofür man brennt – welche Leidenschaft einen antreibt. (Und um den Ärzte-Bashern den gedanklichen Wind gleich aus den Segeln zu nehmen: Selbstverständlich gibt es auch Mediziner, bei denen irgendwann die Faszination für das Geld im Vordergrund steht. Ich schätze mich glücklich, mit vielen Kolleginnen und Kollegen arbeiten zu dürfen, bei denen das nicht der Fall ist.)
Nun zum Menschsein in der heutigen Zeit:
Die Idee, die Vergänglichkeit aufzuhalten, ist ein zentrales Thema in unserer Gesellschaft. Bewusst plakativ formuliert: im Versuch, dem durch das Bewusstsein der Vergänglichkeit hervorgerufenen Gefühl innerer Sinnlosigkeit zu entfliehen, umgeben wir uns mit möglichst vielen materiellen Dingen. Wir wollen möglichst wenig arbeiten und dabei möglichst viel verdienen. Wir haben den Anspruch, als Gesellschaft nachhaltig und als Unternehmen sozial verantwortlich zu sein, wollen aber als Individuen möglichst uneingeschränkt konsumieren. Wir wollen länger leben, mehr reisen, besser in Form sein, einfach mehr «machen» können, ohne uns dabei mehr anzustrengen. Um ein prägnantes Bild zu zitieren: wir brettern mit einem übermotorisierten Schnellboot über den See – auf der ruhelos krampfhaften Suche nach einem Ort der Stille.
So haben wir eine relativ dünne gesellschaftliche Basis, die in einem inneren und äusseren, seelischen und körperlichen Gleichgewicht ist und mit dem Thema Vergänglichkeit in einem humanistischen Sinne umgehen kann. Oder wie es der Publizist Ludwig Hasler formuliert: Wir leben in metaphysischer Obdachlosigkeit. Es fehlt uns das grosse Ganze.
Ein erheblicher Teil der Menschen in unserem Kulturkreis ist bereits von den Auswirkungen dieses beschleunigten, aber sinnentleerten Lebensstils betroffen: Stress, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel führen zu einer Zunahme an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und krankhaftem Übergewicht, aber auch zu psychischen Erkrankungen, zu Depressionen und Angstzuständen. Körper und Geist scheinen aus dem Gleichgewicht geraten.
Ein Teil dieser Entwicklung kann dank moderner Technologie algorithmisiert behandelt werden.
Für den anderen, wohl bedeutenderen Teil braucht es: Beratung, Sinngebung (oder besser: Sinnfindung), einen Zugang zur spirituellen Dimension, zum Metaphysischen eben, ein Loslassenkönnen. Hier – und das ist mir der wichtigste Gedanke in diesem Blick in die Zukunft – ist das Menschsein des Patienten das Zentrale. Und das Menschsein des Patienten erfordert das Menschsein des Gegenübers, des begleitenden Umfelds.
Diese Herausforderung ist gross. Für uns alle, in all unseren Rollen. Sie ist sehr gross für das Gesundheitswesen und speziell für jenen Ort, an dem viele schwierige und schwere Etappen eines Lebens stattfinden, nämlich für das Spital.
Und wer soll denn das alles zahlen? Ich will Ihre Erwartungen, bei der Diskussion um die Medizin der Zukunft die Kosten nicht ausser Acht zu lassen, nicht enttäuschen. Eines ist für mich klar: Die Kosten werden weiter steigen. Das ist eine grundsätzliche, ökonomisch-gesellschaftliche Realität, der sich die Medizinindustrie nicht entziehen kann – auch die öffentliche Hand als Besitzerin von Spitälern nicht. Nur: wer spricht auch dann noch über die Kosten, wenn er selbst zum Patienten wird, wenn ein Freund oder eine Familienangehörige verunfallt oder krank wird? Hier liegt für mich der Schlüssel zu einer Medizin der Zukunft, die wir uns leisten können: Es geht nicht ohne Verantwortung. Ohne Selbstverantwortung aller Akteure. Ohne Konsequenz und Klarheit im eigenen Handeln, in der eigenen Motivation. Man kann nicht die absolute Freiheit wollen und keine Verantwortung tragen, wenn’s schwierig wird. Man kann nicht möglichst ohne Staat auskommen wollen, aber nach dem Staat rufen, sobald etwas nicht funktioniert. Umgekehrt kann man nicht staatlich-planwirtschaftlich das letzte Detail regeln und kontrollieren wollen und dann im Fall der persönlichen Betroffenheit Wahlfreiheit reklamieren.
Freiwillig Verantwortung übernehmen für sich selber, für die ganze Gesellschaft – ein hehres Ideal. Ich glaube, dass wir über kurz oder lang dazu gezwungen werden.
Also: in welchem Spital der Zukunft kann die Medizin der Zukunft stattfinden?
Im Spital der Zukunft nutzen wir den technologischen Fortschritt, um Ressourcen freizumachen und dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden. Die Ressourcen für unsere Spitäler werden begrenzt bleiben. Sie müssen somit noch klarer und eindeutiger, noch bewusster und gezielter verwendet werden. Die Fokussierung wird so stattfinden, dass wo immer möglich intelligente, automatisierte Systeme eingeführt werden, die in linearen Problemstellungen höchst zuverlässige Ergebnisse erzielen.
Das Ziel dieser Fokussierung muss sein, so viel menschliche Kraft und Präsenz wie möglich dort einzusetzen, wo es sie braucht – wo Menschen mit ihrer Zeit, ihrem Können und ihrem Sein anderen Menschen dienen können.
Dafür brauchen wir ausgezeichnet geschulte und vielseitig gebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auch das ist eine Herausforderung. Die Spezialisierung innerhalb der ärztlichen Disziplinen, aber auch in anderen medizinischen und paramedizinischen Berufsgruppen wird weitergehen. Dies birgt die Gefahr, dass unsere Leistung für den Patienten immer fragmentierter wird. Genau das soll nicht sein. Das Spital der Zukunft braucht Spezialisten, die Generalisten bleiben. Denn: der Mensch ist ein Mensch, nicht sein Knie oder sein Herz.
Ein letzter Gedanke:
Die aktuellen gesundheitspolitischen Diskussionen drehen sich, ich habe es bereits angetönt, immer konzentrischer um eines: Geld. Es scheint den meisten Akteuren kaum mehr möglich, die Frankenbrille abzulegen und einen grösseren Blickwinkel einzunehmen. Selbstverständlich ist es wichtig und richtig, die Kosten im Blick zu behalten. Diesen aber mit einem gleichberechtigten Blick durch die Nutzenbrille zu erweitern, scheint mir ebenso wichtig. Es ist nicht alles in betriebswirtschaftlichen Kennzahlen messbar. Nicht jeder Wert lässt sich in Franken ausdrücken.
Was zum Beispiel erhält einen enormen Wert (und eine entscheidende, nicht in Franken messbare Kraft), wenn Sie als Patient oder Angehörige im Spital sind, vor einer schwierigen und vielleicht schwerwiegenden Entscheidung stehen oder einen anspruchsvollen therapeutischen Weg vor sich haben? Sie vermuten richtig: menschliche Präsenz – durch jede Pflegefachfrau, jeden Hotelleriemitarbeiter, jede Ärztin und jeden Mitarbeiter aus der Hauswirtschaft. Durch Menschen, die Patienten nicht als Objekt ihrer Tätigkeit, sondern als ebensolche Menschen wahrnehmen und behandeln. Es braucht Mitarbeitende, die eine fundierte Ahnung von ihrem Fach und all seinen technologischen Möglichkeiten haben – und im Menschsein reflektiert sind.
Dominik Utiger
ist Arzt und Direktor der Klinik St. Anna in Luzern.