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Die Maschine als Schöpferin
Oliver Ruf, zvg.

Die Maschine als Schöpferin

Die Freiheit, Kunst hervorzubringen, ist heute nicht mehr Vorrecht des genialen Malers. Mit den Werkzeugen der KI erhält auch jeder unbegabte einzelne die Möglichkeit, Schönes zu schaffen.

Im Westdeutschen Rundfunk wurde am 6. Februar 1970 eine wegweisende Sendung mit dem Titel «ende offen. Kunst und Antikunst» ausgestrahlt. Sie zeigte ein Forumsgespräch zum Thema «Provokation, Lebenselement der Gesellschaft», das kurz zuvor als Podiumsdisput an einer Düsseldorfer Schule stattgefunden hatte. Veranstalter war die Arbeitsgemeinschaft Sozialpädagogik und Gesellschaftspädagogik (ASG). Moderator war der deutsch-österreichische Kunsthistoriker Wieland Schmied, Teilnehmer waren der deutsche Philosoph Max Bense, der Schweizer Künstler Max Bill, der deutsche Soziologe Arnold Gehlen – und Aktionskünstler und Professor Joseph Beuys. Letztgenannter galt damals immerhin als Inbegriff des künstlerischen Provokateurs. Er hatte insbesondere die avantgardistisch-aktionistische «Fluxus»-Bewegung mit einer Reihe von aufsehenerregenden Performances und Kunstinstallationen wesentlich geprägt.

Im Verlauf der eineinhalb Stunden andauernden, überaus hitzigen Diskussion, die unter schweisstreibendem Scheinwerferlicht und zwischen dichten Tabakrauchschwaden in einem zum Bersten mit lautstark sich einmischendem Publikum gefüllten Saal stattfand, fielen Sätze, die heute, also mehr als ein halbes Jahrhundert später, die Gegenwart der Kunst einmal mehr eingeholt zu haben scheinen. Denn im wesentlichen drehte sich der Schlagabtausch darum, wer und was Kunst eigentlich hervorbringe: ein einzigartiges kreatives, schöpferisches menschliches Individuum, das dazu begabt und befähigt ist und einer Idee folgt, die zweckfrei ist, und hierfür Mittel einsetzt, die ein Werk erschaffen – oder schlicht jeder, der sich dazu bemüssigt sieht? Wenig überraschend konnte keine Einigung erzielt werden.

«Mona Lisa» von Leonardo da Vinci, neu interpretiert mit der KI-Software Midjourney als Astronautin im Weltall.

Umso dringlicher wird dieser Befund angesichts der weit fortgeschrittenen technologischen Möglichkeiten sogenannter künstlicher Intelligenz. Hier sind es am Ende gar keine Menschen mehr, sondern vielmehr «Maschinen», die in Form von Software, Algorithmen und Datenbanken sowie in Gestalt künstlich-neuronaler Netzwerke den Anschein erwecken, regelrecht selbständig Kunst zu generieren. Jüngstes populäres Beispiel für diese Entwicklungen wären, was durchaus auch die poetische Texterstellung anbelangt, die Fähigkeiten des Chat-Bot-Programms ChatGPT, das wenigstens menschenähnlich kommuniziert. Um Kunst und KI zu thematisieren, eignen sich aber Bilderzeugungsprogramme wie Midjourney, DALL-E oder Stable Diffusion besser. In der Gesamtschau mit ähnlich gelagerter Software verspricht diese Art von Innovation, nicht nur die KI-Kunst zu perfektionieren, sondern selbst als autonome Kunstschöpferin oder autonomer -schöpfer zu agieren. Benötigt wird lediglich eine Aufgabe, die es auszuführen gilt – etwa der Auftrag, ein Kunstobjekt in der Fluchtlinie von Joseph Beuys zu erzeugen.

Wer oder was vermag es, Kunst zu «machen»?

Wenn es aber (beinahe) ununterscheidbar wird, wer Kunst hervorbringt, ist die Frage nach dem, was Kunst ist und wer sie erschafft, falsch gestellt. Wichtig bleibt die Funktion, die Kunst in einer sozialen Praxis erfüllen kann – 1970 genauso wie 2023. Die oben beschriebene Podiumsdiskussion war denn auch wegweisend, weil sie über den Verdacht der Kunstlosigkeit reflektieren wollte, wenn es die, wie es in der Einleitungsansprache hiess, klassisch in sich geschlossenen Kunstgattungen immer weniger gibt, die Übergänge zwischen ihnen aber immer mehr. Zum damaligen Zeitpunkt drehte sich die folgende Kontroverse primär um die Rolle des Künstlersubjekts bei der Erschaffung von Kunstwerken. Es ging zunächst bezeichnenderweise dar­um, was die einzelne Künstlerin und der einzelne Künstler unternimmt, wenn sie oder er Kunst «macht». Beuys antwortete getreu seiner eigenen schematischen Formel, dass für ihn im Kunst- und Antikunstbegriff immer die Frage nach dem Menschen auf eine spezielle, neue Weise gestellt sei, indem diese Auffassung von Kunst auf jede menschliche Tätigkeit erweitert werde. Zu sagen, jeder Mensch sei Künstler, heisse ebenfalls, jeder Mensch sei ein Kreativer. Und eine solche Kunst – als Antikunst – erzeuge eine Bewusstseinsveränderung in der Gesellschaft, eine Position, von der sogleich Bense verlangte, sie zu präzisieren, um ihre Implikationen vom Vorwurf der Phrasendrescherei zu befreien.

«Wenn es (beinahe) ununterscheidbar wird, wer Kunst hervorbringt,
ist die Frage nach dem, was Kunst ist und wer sie erschafft, falsch gestellt.»

Das an diesem Gezanke für die heutige Gegenwart Interessante ist jedoch vor allem der Diskurs, den beide Streithähne jeweils repräsentieren. Auf der einen Seite derjenige der Kunstrevolution in Form von Happenings, repräsentiert von Joseph Beuys, und auf der anderen Seite derjenige der Kybernetik, und das heisst hier: der theoretischen Entdeckung, Förderung und Rahmung früher computergenerierter Kunst, repräsentiert von Max Bense. Der Widerspruch zwischen den Standpunkten beider Persönlichkeiten, wie er von diesen radikal und zugleich emotional geäussert wurde, entzündet sich genau dort, wo sich deren Ideen berühren: im Moment der Autorschaftsfrage von Kunst schlechthin. Gemeinsam ist ihnen, was keiner von ihnen selbstverständlich zugeben will (und kann), dass es ihnen nicht so sehr um die Figur des Genies im künstlerischen Schaffensprozess geht, nicht um ein angeborenes Talent, mit dem man der Kunst die Regeln gibt und das sich (ganz im Sinne Immanuel Kants) unter anderem qua Originalität, Exemplarität und Unerklärbarkeit auszeichnet. Vielmehr sprachen der radikale Künstler (Beuys) wie auch der kritische Ästhetiker (Bense) von einer Wesenhaftigkeit von Kunst, die sie von solchen Zuschreibungen selbst befreit – und die es mittlerweile greifbar macht, dass KI womöglich künstlerisch zu agieren scheint. Neuere Technikanwendungen demonstrieren, dass diese aus sich selbst heraus eigene Regeln postulieren, Kunst zu «erfinden», und in einem Kunstwerk realisieren können – und mithin ein Vermögen zur Willkür jenseits ihrer maschinell-induzierten Inputgebundenheit versprechen. Selbst in den Diskussionsminuten, in denen Bense auf einem «bewussten Engagement» beharrte, das Kunst initiiere, woraufhin Beuys von den Prinzipen seines Konzepts der «sozialen Plastik» mit «Formgestalt» sprach, die sich in «Wille» und «Ratio» als «plastischen Vorgang» aufsplitten, deutete sich ein bleibender Befund an: Kunst kann dann entstehen, wenn «etwas Neues» bzw. ein «Produkt» in die Welt gesetzt wird und «Denken» bereits die Kunstkreation ist. Zu einer solchen «Kunstarbeit» freiheitlichen Ursprungs, bei der die Schöpfung spontan, also aus sich selbst heraus beginnt, ist KI in der Lage – «willentlich» wie «rational», fähig, «eine bestimmte Form zu erzeugen» (Beuys).

«Selbstbildnis mit Affe» von Frida Kahlo, modifiziert und neu interpretiert als Mann mit der KI-Software Midjourney.

Sicherlich rückten zwar bislang mittels KI erschaffene Kunstprodukte nach wie vor in die Nähe von blossen Fälschungen respektive von reinen Nachahmungen oder Kopien. Doch ist anzunehmen, dass mit zunehmenden Rechnerleistungen und -geschwindigkeiten genau dieser «Makel» von KI-Kunst ad absurdum geführt werden wird. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis «echte» künstlerische Muster durch KI hervorgebracht werden und kein Widerspruch mehr zur logischen Strukturiertheit ihrer zugrunde liegenden programmierten Codierung besteht. Die Sphäre des Genialen, die noch bei Kant das Ideal «schöner Kunst» ausprägt und sich im ästhetischen Urteil bezüglich der Schönheit eines Objekts als positive ästhetische Anmutung manifestiert, wäre so nicht länger eine fundamentale Voraussetzung von Kunst. Die schaffende Freiheit von Kunst bliebe nicht mehr allein dem menschlichen Künstler-Ich eingeschrieben.

KI-Applikationen hatten zudem von Anfang an das Vermögen, Regeln, Kenntnisse von Wissen sowie die Anwendung erlernter Fertigkeiten zu befolgen wie zu beherrschen. Eine Kunst-KI ist daher auch nicht die theologisch verklärte Umsetzung eines zum eigenständigen Denken befähigten «Dings», wie es Fantasien etwa des Golems innerhalb der jüdischen Mystik, des Homunkulus der Alchemisten im Mittelalter oder von Frankensteins Monster fiktional verhandeln; sie ist auch nicht die Einlösung transhumanistischer Ideen, die von autark denkenden Cyborgs erzählen. In diesem Zusammenhang ist es im übrigen bezeichnend, was oft in Science-Fiction-Geschichten geschieht. Der entscheidende Moment, in dem die dort auftretenden Roboter ihrer erhofften Menschwerdung näherkommen, umfasst regelmässig eine künstlerische Tätigkeit. Beispielsweise wenn Lieutenant Commander Data als Androide in der «Star Trek»-Serie «The Next Generation» auch dadurch sukzessive menschlicher wird, indem er eigene Gemälde malt.

«KI-Applikationen hatten von Anfang an das Vermögen, Regeln,
Kenntnisse von Wissen ­sowie die Anwendung erlernter ­
Fertigkeiten zu ­befolgen wie zu beherrschen.»

Ein «offenes Werk»

Zurück zur eingangs erwähnten Sendung. Vor dem aufgespannten Hintergrund ist es zu verstehen, dass Arnold Gehlen sich in der Rückschau als mahnender Diskussionsteilnehmer erweist, der immer wieder Kriterien einfordert («was taugt, was ist Mumpitz?»), an historische künstlerische Provokationen (Marcel Duchamp, Dada) erinnert und überhaupt die gesellschaftliche Dimension von Kunst punktiert. Max Bill gibt sich moderater oder besser: neu­traler. Ihm ist ebenfalls das Messen der Qualität von Kunst wichtig, doch interessiert ihn mehr der Sinn, Kunst zu machen. Indem von Bill hier betont wird, ein Problem, das sich gestellt habe, mit Kunst weiterzubringen und nach allen Seiten zu durchleuchten (und zwar unabhängig der Folgen, die dies zeitigt), argumentiert er in einem Kontext, der gerade nicht auf das Selbst der eigenen Künstlerschaft schielt. Der Fall «künstliche Intelligenz» ist kein grundsätzliches abstraktes Hindernis, Kunst zu erschaffen. Die ihr zugrunde liegende, gleichsam lebendige Mathematik (von Gottlob Frege, Gottfried W. Leibniz und Leonhard Euler über Kurt Gödel und Ada Lovelace bis hin zu John McCarthy und Alan Turing) umfasst Varianten der Problembegegnung gemäss Bill, die das Bewusstsein gemäss Beuys erweitern: Sei es in alltagspraktischer Hinsicht in den Phänomenen der Sprachsteuerung, der Wissensdarstellungen in Datenverarbeitungssystemen, des automatisierten Wahrnehmens, der Bildanalyse, der Robotik oder des maschinellen Lernens; sei es in künstlerischer Perspektive mittels der unmittelbaren Reizung der Sinne oder auch des sinnlichen Begehrens. Wenn dadurch auch die Gefahr besteht, in Sinnesreizen zu «versaufen», wie Beuys es formuliert, oder dem «epikureischen Weltgenuss», der «Lusterzeugung» zu folgen, wie Bense es ausdrückt, dann wirkt KI-Kunst genauso wie Kunst-KI, indem genau diese Effekte bei den Kunstbetrachtenden auszumachen sind. Diese Kunstresultate sind schliesslich wirklich meist schwerlich als KI-Produktionen zu klassifizieren.

«Das Mädchen mit dem Perlenohrring» von Jan Vermeer, modifiziert und neu interpretiert mit einem Erdmännchen mit der KI-Software Midjourney.

Bei der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und KI geht es also in nuce darum, ästhetische Erfahrung zu ermöglichen und währenddessen eine spezifische Ästhetik zu lokalisieren, die nicht ergebnisfixiert, sondern prozessorientiert ist – Wieland Schmied nannte dies auf dem Podium, freilich ohne KI meinen zu können, ein «offenes Werk». Kunst befindet sich, anders gesagt, dank KI noch immer ostinat in Bewegung; sie ist permanent im Fluss und bedeutet auch deshalb eine Herausforderung, da sie darin inspirierend ist: affizierend. Kunst affiziert hier die Medien der KI, das heisst Medien der algorithmisierten Darstellung, der Berechnung, des Datenaustauschs und so weiter. Kunst wird aber gleichzeitig durch Medien, die KI-basiert sind, affiziert. Es handelt sich folglich um eine Art wechselseitige Übertragung, um einen, wenn man so will, um sich greifenden viralen Infekt. Der kann die Gesellschaft als Ganzes schwerlich verschonen. Viel zu sehr ist sein Antrieb auf Verkettung, Ausbreitung und andauernde Infizierung, wie klar vor Augen steht, ausgelegt. «Kunst und KI» ist ansteckend.

Deren Konstellation hat, um im Sprachgebrauch des telemedial gesendeten Gesprächs aus dem Jahr 1970 zu bleiben, die Funktion, «Lebenselemente der Gesellschaft» zu identifizieren. Derzeit handelt es sich bei diesen mittlerweile deutlich um solche digitaler Provenienz, womit KI-Erscheinungen jeglicher Ausprägung eingeschlossen sind. Max Bill hat von ästhetischen Objekten gesprochen, die (positiven wie negativen) Modellcharakter gerade in der Verschiedenheit der Kunst haben, indem sie Einfluss ausüben auf die Entscheidungen, die unsere Umwelt betreffen. Auch KI betrifft diese Variante gesellschaftsbezogener Kunst. Ohne sie ist, wie Beuys rekapituliert, kein Mensch lebensfähig; ohne sie würde jener «kein Gehirn» mehr haben. «Ohne Kunst verarmt die Menschheit als Ganzes», sagt Bill. Indem Kunst aber heute – auch – von «künstlicher Intelligenz» gleichermassen konsumiert wie potentiell produziert wird, steht sie an einem Punkt, der mit der «neuen» Frage nach «Kunst und KI» auch die «alte» Beziehung «Mensch und Maschine» aufruft. Beide provokativ zu konfrontieren, impliziert, die Wahl zu haben, dies zu tun.

Ein neuer «Keith Haring», interpretiert von der KI mit der KI-Software Midjourney.

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