
Die Maschine als Schöpferin
Die Freiheit, Kunst hervorzubringen, ist heute nicht mehr Vorrecht des genialen Malers. Mit den Werkzeugen der KI erhält auch jeder unbegabte einzelne die Möglichkeit, Schönes zu schaffen.
Im Westdeutschen Rundfunk wurde am 6. Februar 1970 eine wegweisende Sendung mit dem Titel «ende offen. Kunst und Antikunst» ausgestrahlt. Sie zeigte ein Forumsgespräch zum Thema «Provokation, Lebenselement der Gesellschaft», das kurz zuvor als Podiumsdisput an einer Düsseldorfer Schule stattgefunden hatte. Veranstalter war die Arbeitsgemeinschaft Sozialpädagogik und Gesellschaftspädagogik (ASG). Moderator war der deutsch-österreichische Kunsthistoriker Wieland Schmied, Teilnehmer waren der deutsche Philosoph Max Bense, der Schweizer Künstler Max Bill, der deutsche Soziologe Arnold Gehlen – und Aktionskünstler und Professor Joseph Beuys. Letztgenannter galt damals immerhin als Inbegriff des künstlerischen Provokateurs. Er hatte insbesondere die avantgardistisch-aktionistische «Fluxus»-Bewegung mit einer Reihe von aufsehenerregenden Performances und Kunstinstallationen wesentlich geprägt.
Im Verlauf der eineinhalb Stunden andauernden, überaus hitzigen Diskussion, die unter schweisstreibendem Scheinwerferlicht und zwischen dichten Tabakrauchschwaden in einem zum Bersten mit lautstark sich einmischendem Publikum gefüllten Saal stattfand, fielen Sätze, die heute, also mehr als ein halbes Jahrhundert später, die Gegenwart der Kunst einmal mehr eingeholt zu haben scheinen. Denn im wesentlichen drehte sich der Schlagabtausch darum, wer und was Kunst eigentlich hervorbringe: ein einzigartiges kreatives, schöpferisches menschliches Individuum, das dazu begabt und befähigt ist und einer Idee folgt, die zweckfrei ist, und hierfür Mittel einsetzt, die ein Werk erschaffen – oder schlicht jeder, der sich dazu bemüssigt sieht? Wenig überraschend konnte keine Einigung erzielt werden.

Umso dringlicher wird dieser Befund angesichts der weit fortgeschrittenen technologischen Möglichkeiten sogenannter künstlicher Intelligenz. Hier sind es am Ende gar keine Menschen mehr, sondern vielmehr «Maschinen», die in Form von Software, Algorithmen und Datenbanken sowie in Gestalt künstlich-neuronaler Netzwerke den Anschein erwecken, regelrecht selbständig Kunst zu generieren. Jüngstes populäres Beispiel für diese Entwicklungen wären, was durchaus auch die poetische Texterstellung anbelangt, die Fähigkeiten des Chat-Bot-Programms ChatGPT, das wenigstens menschenähnlich kommuniziert. Um Kunst und KI zu thematisieren, eignen sich aber Bilderzeugungsprogramme wie Midjourney, DALL-E oder Stable Diffusion besser. In der Gesamtschau mit ähnlich gelagerter Software verspricht diese Art von Innovation, nicht nur die KI-Kunst zu perfektionieren, sondern selbst als autonome Kunstschöpferin oder autonomer -schöpfer zu agieren. Benötigt wird lediglich eine Aufgabe, die es auszuführen gilt – etwa der Auftrag, ein Kunstobjekt in der Fluchtlinie von Joseph Beuys zu erzeugen.
Wer oder was vermag es, Kunst zu «machen»?
Wenn es aber (beinahe) ununterscheidbar wird, wer Kunst hervorbringt, ist die Frage nach dem, was Kunst ist und wer sie erschafft, falsch gestellt. Wichtig bleibt die Funktion, die Kunst in einer sozialen Praxis erfüllen kann – 1970 genauso wie 2023. Die oben beschriebene Podiumsdiskussion war denn auch wegweisend, weil sie über den Verdacht der Kunstlosigkeit reflektieren wollte, wenn es die, wie es in der Einleitungsansprache hiess, klassisch in sich geschlossenen Kunstgattungen immer weniger gibt, die Übergänge zwischen ihnen aber immer mehr. Zum damaligen Zeitpunkt drehte sich die folgende Kontroverse primär um die Rolle des Künstlersubjekts bei der Erschaffung von Kunstwerken. Es ging zunächst bezeichnenderweise darum, was die einzelne Künstlerin und der einzelne Künstler unternimmt, wenn sie oder er Kunst «macht». Beuys antwortete getreu seiner eigenen schematischen Formel, dass für ihn im Kunst- und Antikunstbegriff immer die Frage nach dem Menschen auf eine spezielle, neue Weise gestellt sei, indem diese Auffassung von Kunst auf jede menschliche Tätigkeit erweitert werde. Zu sagen, jeder Mensch sei Künstler, heisse ebenfalls, jeder Mensch sei ein Kreativer. Und eine solche Kunst – als Antikunst – erzeuge…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1105 – April 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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