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Die Marktwirtschaft floriert in den Slums

Markt oder Staat? Im Westen diskutieren wir, ob das Heil in mehr Markt oder mehr Staat zu suchen sei. Dabei kennen wir Märkte nur noch aus den Lehrbüchern. Anders die Asiaten. Sie reden nicht über den Markt. Sie praktizieren ihn. Und wie.

Zu den verhängnisvollsten Irrtümern der letzten zwei Jahrhunderte gehört die Vorstellung, dass die Marktwirtschaft ein Anliegen der Wohlhabenden sei und dass ihre kompetentesten Verteidiger hochgelehrte Intellektuelle und Wissenschafter seien. Beides ist grundfalsch. Die Marktwirtschaft floriert nicht in den Chefetagen von Konzernen, und ihre Verteidiger sind weder Friedrich August von Hayek noch die Mont Pélerin Society. Die Marktwirtschaft ist viel älter als Adam Smith, und sie ist seit Urzeiten ein Anliegen der Armen und Ärmsten. Um eine florierende Marktwirtschaft funktionieren zu sehen, sollte man nicht die City of London, die Zürcher Bahnhofstrasse oder die Wall Street besuchen. Man muss sich in die Slums von Mumbai, Jakarta und Dacca aufmachen. Dort sieht man, wie Menschen sich am Markt bewähren, am Markt scheitern – und dies alles ohne Fallschirme und Auffangnetze.

Fette Wohlstandsuntertanen in westlichen Sozialverwaltungsstaaten hegen, je nach parteipolitischer Präferenz, die Vorstellung, dass Armut eine Folge von Unterdrückung oder Faulheit sei. Die Linke attackiert mit Vorliebe die Vertreter des Kapitalismus, des Manchesterliberalismus und die Neoliberalen als die Schuldigen an der Armut in der Welt. Derweil unterschlägt sie, dass die Massenvernichtung von Menschen und Vermögen im 20. Jahrhundert fast ausschliesslich von Sozialisten betrieben worden ist, von Lenin und Stalin, von Hitler und Mussolini, von Mao Zedong und Kim Il Sung. Die Rechte wiederum sieht die Armut als eine Folge von Faulheit und überbietet sich in gutgemeinten, aber zumeist nutzlosen, da abstrakten Appellen an die Eigenverantwortung.

In Tat und Wahrheit kann man auf unzähligen Reisen durch die sogenannte Dritte Welt feststellen, dass gerade die Armen, die am Markt und vom Markt leben, nie der Trägheit huldigen. Sie sind bereit, um des Überlebens willen stets noch mehr zu leisten. Im Slum gibt es keinen Achtstundentag und keine Fünftagewoche. Wer einen Job findet, möchte lieber längere als kürzere Zeit arbeiten, und wer eine Teilzeitstelle hat, sieht sich nach einer zweiten und dritten Teilzeitarbeit um. Stets herrscht grösste Emsigkeit. Jedermann weiss, dass Faulheit den Absturz ins Bodenlose, ins Nichts mit sich bringt.

Die Verächtlichmachung des Reichtums und des Strebens nach mehr Besitz und Vermögen ist ein Privileg der Sozialisten. Den Marktliberalen ist zugutezuhalten, dass sie nicht in die sozialistische Falle tappen und Armut und Elend idealisieren. Im Gegenteil. Für Marktliberale ist jedes Fleckchen Armut, das auf diesem Globus existiert, eine Schande und, dies vor allem, eine Aufforderung, es besser zu machen. Fragt sich bloss, auf welche Weise dieses hehre Ziel erreicht werden kann. Für Marktliberale ist klar: der Kampf gegen die Armut lässt sich allein durch den Ausgang des Menschen aus seiner selbst- und fremdverschuldeten Unmündigkeit siegreich bestehen.

Was heisst dies nun? Wir müssen zuvörderst alles dafür tun, dass die Hindernisse beseitigt werden, die Menschen, die ihr Alles zu geben bereit sind, in der Armutsfalle festhalten. Die wichtigsten Gegenpole in der Zivilisationsgeschichte sind Markt und Hof. Der Markt ist der Hort der Freiheit. Auf dem Marktplatz tummeln sich die Menschen, kaufen und verkaufen und versuchen, sich mit einem gesunden Instinkt für Profit ein besseres Leben zu sichern. Der Hof ist der Hort der Unfreiheit. Am Hof tummeln sich die Höflinge um einen unproduktiven Herrscher und tun alles, um sich ihre fette Existenz durch Arschkriecherei und Bücklinge zu sichern.

Für den Gegenpol zum Markt lassen sich im Verlaufe der Geschichte stets neue Varianten aufzeigen. Im Laufe der Zeit haben die Feudalherren zu Bürokraten, der Hof zum Versorgungsstaat mutiert. Die Werkzeuge und Institutionen der Unfreiheit haben sich modernisiert und sich attraktive Mäntelchen umgelegt. Intellektuelle, die sich schon immer an den Höfen um des guten Lebens und Ruhmes willen prostituiert haben, tun alles dafür, dass in der öffentlichen Debatte die Zuordnung der Werte klar und fraglos sei. Der Linken wird das Monopol für Fortschritt und Menschlichkeit zugeteilt, derweil die Rechte der Inbegriff von Rückständigkeit und Menschenfeindlichkeit ist. Selbstverständlich gehören Marktliberale, Manchesterliberale und Neoliberale zum Lager der Rechten.

Geschichtsklitterung ist ein wohlfeiler Beruf, der unzähligen Diktatoren nützliche Dienste zur Interpretation der Welt geliefert hat. Erstaunen muss daher, wie leicht es offensichtlich dennoch ist, Clichés ein für allemal festzumachen. Ein klassisches Beispiel dafür ist der bereits zitierte Manchesterliberalismus. Manchester, eine der Wiegen der industriellen Revolution, steht für all das, was während der letzten zwei Jahrhunderte das Leben von Hunderten von Millionen Menschen verbessert hat. Während der Hof in London die knappen Ressourcen verprasste, machten sich die Pioniere von Manchester als Techniker, Industrielle, Banker und Händler dazu auf, der Welt die weitreichendste Wohlstandsrevolution der Geschichte zu verpassen.

Das Werk der Manchesterliberalen ist noch lange nicht vollendet. Es bleibt unfertig, solange es auf diesem Globus noch Armut und Elend gibt. Bemerkenswert an dieser Aufgabe ist, dass sie sich mit stets neuen Herausforderungen konfrontiert sieht. Eigentlich sollte man denken, dass die ganze zivilisierte Menschheit am gleichen Strang zieht, wenn es darum geht, der Armut, dem Elend den Kampf anzusagen. Dies ist leider nicht der Fall. Vielmehr erfinden wohlstandsverfettete Höflinge stets neue Hemmnisse, um den Marktliberalen die ohnehin schon schwierige Aufgabe der Beseitigung von Armut und Elend zusätzlich zu erschweren.

Ein jüngstes Beispiel dafür ist die ganze Klimadebatte. Hier soll nicht darüber befunden werden, ob es nun eine von Menschen verursachte Erwärmung des Weltklimas gibt oder nicht. Hier geht es einzig und allein darum, dass unter dem Deckmantel der Sorge um das Klima erneut versucht wird, das Gewinnstreben der Menschen und die marktwirtschaftlichen Kräfte in Zaum zu nehmen und damit einmal mehr Reichtum zu vernichten anstatt zu schaffen. Es ist auffällig, wie wenig Platz die Medien im Rahmen der Klimadebatte Vorschlägen zur produktiven Nutzung dieser Herausforderung widmen.

Dabei steht eines fest: der Mensch wird den Klimaveränderungen nicht tatenlos zusehen, sondern er wird Massnahmen ergreifen, um die negativen Folgen zu bekämpfen. Wenn die Meeresspiegel steigen, so bedeutet dies eben auch, dass man Häfen und Uferzonen höher und besser verbauen muss. Dies alles wiederum schafft Arbeit und Gelegenheit zum Geschäft. Und ganz abgesehen davon – schon heute sollte es darum gehen, die neuen Chancen optimal zu nutzen, die sich aus der Klimaerwärmung ergeben. Man denke beispielsweise an positive Veränderungen für die Landwirtschaft. Neben Verlierern wird es auch im Prozess der Klimaveränderung Gewinner geben. Vertreter des politischen Mainstreams tun aber lieber so, als gäbe es bloss Verlierer – die natürlich durch Umverteilung entschädigt werden müssten. Davon profitieren jene Politiker selbst am meisten, und die Medien machen brav mit.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Medien von den Wohlhabenden dominiert werden. Dies trifft sowohl auf deren Besitzer als auch auf die Medienschaffenden zu. Daraus resultiert eine sehr einseitige Sicht der Welt. Die Armen und Sprachlosen der Welt werden nur durch die Optik der Wohlhabenden wahrgenommen. Diese wiederum haben in der Regel ihre Meinung bereits gemacht, bevor sie sich der Konfrontation mit den Realitäten der verschiedenen Orte der Welt aussetzen, und die anschliessende Erfahrung wird bloss noch dazu genutzt, die einmal gefassten Vorurteile zu bekräftigen. So gilt es als ausgemacht, dass Armut und Elend in der «Dritten Welt» zu einem grossen Teil fremdverschuldet seien. Wir alle kennen die Schuldigen. Es sind die multinationalen Gesellschaften, die Vertreter des Raubtierkapitalismus, der Imperialismus, die Weltbank etc. etc. An jeder Demonstration der Globalisierungsgegner bekommt man die Liste der Schuldigen vorgeführt.

Auch gehört es zum guten Ton, dass die dominanten Medienschaffenden ihre Probleme und ihre Psychosen auf das Befinden der gesamten Welt projizieren. Wenn nun westliche Automobilhersteller mit einem Einbruch der Nachfrage zu kämpfen haben, so taucht gleich das Gespenst der Überproduktion auf. Es wird das Ende der Zuwachsraten im Automobilgeschäft prophezeit. Dabei wird das völlig irreale Bild eines globalen Produktionsüberhangs hervorgerufen. In Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall. Es herrscht weltweit ein immenser Nachfrageüberhang. Hunderte von Millionen Menschen möchten sich ein Auto leisten und kümmern sich bei diesem Herzenswunsch einen Deut um das Schicksal des Weltklimas.

Es gehört den Wohlhabenden, ihren Höfen und Höflingen ins Stammbuch geschrieben, dass bei allem und jedem, was auf dieser Welt produziert wird, ein riesiger Nachfrageüberhang besteht. Das Problem ist der Kaufkraftmangel. Dieser wiederum ist nicht durch behördliche Erlasse, nicht durch Umverteilung, sondern allein durch die Freisetzung der menschlichen Schaffenskraft zu beheben. Wird einmal die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit der nötigen Distanz geschrieben, so wird Deng Xiaoping unter die bedeutendsten Politiker dieses so katastrophengeplagten Jahrhunderts gereiht werden müssen. Der grosse Reformer, der das Reich der Mitte von 1979 bis 1997 faktisch führte, hat es so umfassend verändert und modernisiert wie kaum jemand zuvor.

Im Mittelpunkt des monumentalen Aufbruchs Dengs steht der Slogan «Reich zu werden, ist wunderbar». Abgesehen davon, dass kaum ein bürgerlicher Politiker in unseren Breitengraden sich getrauen würde, mit diesem Slogan anzutreten, ist der tiefere Sinn dieses scheinbar so simplen Merksatzes zu bedenken. Deng macht nicht einfach ein selbstverständliches Statement. Hinter dem Slogan steht die chinesische Pragmatik und vor allem die Abrechnung mit beinahe drei Jahrzehnten maoistischen Steinzeitkommunismus’.

Unter Mao Zedong wurden Besitz, Reichtum und Profit verteufelt. Eine ganze Nation sollte gegen diese kapitalistischen Übel geimpft werden. Wollte man aus der sozialistischen Zwangsjacke ausbrechen, die der «Grosse Vorsitzende» seinen Untertanen übergezogen hatte, so musste erst einmal das Reichwerden zum erstrebenswerten Ziel erklärt werden. Dass man sich in den westlichen Industriestaaten diesbezüglich eine scheinbar vornehme Diskretion erlauben kann, hat nur damit zu tun, dass man bislang noch vom Reichtum profitieren kann, den frühere Generationen geäufnet haben, die mit dem Manchesterliberalismus nicht auf Kriegsfuss standen.

Sozialismus und Etatismus sind ein Luxus, den sich auch die – noch – reichen Länder eigentlich schon lange nicht mehr leisten können. Erst recht können sich aber die Armen und Elenden in den Slums von Mumbai und Karachi diesen Luxus nicht leisten. Sie müssen sich auf dem Markt bewähren und sind auch dazu bereit, dies tagtäglich ohne jede Absicherung zu tun. Nach den Gesetzen des Marktes müssten sie es mit Eifer und Risikobereitschaft zu etwas bringen, müssten sie im Verlaufe ihres Lebens Vermögen akkumulieren können. Dass dies häufig nicht gelingt, hat seinen Grund darin, dass marktfremde Mächte, eben die Höflinge, die Crème abschöpfen. Der Kokosnussverkäufer mit seinem Bauchladen muss selbstverständlich dem lokalen Polizisten, der die staatliche «Ordnungsmacht» vertritt, einen Obolus entrichten. Sauerverdientes Geld wird durch staatliche Korruption abgeschöpft.

Doch auch der Slumlord will seinen Anteil. Dieser, so wird nun der linke Kritiker, endlich triumphierend, einwenden, ist aber doch der typische Vertreter des ausbeuterischen Kapitalismus. Tatsache ist, dass der Slumlord eine Kreatur der Politik ist. Politiker, die ihre Wahlen unter dem Vorwand gewinnen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und die im Falle Indiens sich in der überwältigenden Mehrheit auf den Sozialismus berufen, benötigen Geld und Stimmen. Beides beschafft der Slumlord, natürlich gegen entsprechende Privilegien. Die Macht des Slumlords beruht einzig darauf, dass die Bewohner des Slums nie einen Rechtstitel auf ihre Behausung erhalten, sondern stets in der Illegalität hängenbleiben. Im Verein mit der Brachialgewalt, die der Slumlord mobilisieren kann, bedeutet diese Unsicherheit, dass der Slumbewohner problemlos ausgebeutet werden kann. Bemerkenswerterweise sind beide Machtmittel des Slumlords, seine Verfügungsgewalt wie sein Gewaltpotential, das Resultat einer unheiligen Allianz zwischen ihm und dem Staat und dessen Repräsentanten, namentlich den Politikern und Bürokraten.

Wir kommen zurück zum Anfang unseres Textes. Es sind die Armen und Elenden, die sich am Markt bewähren müssen und die auch willens sind, sich dem harten Wettbewerb ohne Sicherheitsnetz zu stellen. Das einzige, was sie verlangen und das ihnen durch ebenjene Staatsmacht – die das angeblich so wünschenswerte Gegengewicht zum Markt sein soll – vorenthalten wird, ist die Rechtssicherheit. Ohne diese Sicherheit aber kann kein Marktmechanismus funktionieren. Es waren die politischen Protagonisten des Manchesterliberalismus, die als Whigs die Macht der Höflinge brachen, der industriellen Revolution gegenüber dem Feudalismus zum Durchbruch verhalfen und die Fundamente des britischen Wohlstands schufen. Auch in den Slums von Mumbai und Kolkata wird erst dann breiter Wohlstand Platz greifen, wenn die staatlichen Lakaien durch die Marktkräfte abgelöst werden.

Urs Schoettli, geboren 1948, hat Philosophie studiert und berichtet aus Süd- und Ostasien für die NZZ. Zuletzt erschien von ihm «Indien – Profil einer neuen Grossmacht» (2009). Er lebt in Tokyo und Mumbai.

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