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Die mageren und die fetten Kühe

Die Folgen der Finanzkrise sind noch nicht absehbar. Aber eines ist gewiss: die fetten Jahre für den westlichen Wohlfahrtsstaat sind vorbei.

Zuerst wollen die Leute keine Kinder zeugen, und dann wollen sie nicht sterben: das ist die Lage des deutschen – aber nicht nur des deutschen – Sozialvertrags, der allen nützen soll und es bald nicht mehr kann. Unterdessen dreht sich das Karussell immer schneller: der Nationalstaat, in Wirtschaft, Finanzwelt, Ökologie und Strategie veraltet, überlebt in der Dreiecksbeziehung von Wohlfahrtsstaat, Steuerstaat und der Erzeugung legitimen Politikmanagements. Dieser Staat ist machtvoll und zugleich hilflos, und wenn er sich selbst eine Schlankheitskur verordnet, so schafft er zuerst einmal eine neue Bürokratie, wie um die Bürger zu verspotten. Getrieben vom Instinkt, Wahlen durch Wohltaten zu kaufen, mit dem Geld anderer Leute – der Leistungsträger und der künftigen Generationen –, beisst der Staat immer tiefer in den Apfel des Gemeinwesens.

Wen wundert es dann, dass die öffentlichen Schulden unaufhaltsam steigen (dank staatlichen Rettungs- und Konjunkturprogrammen gegenwärtig noch stärker als sonst), Steuerprüfung und Zollfahndung sich immer neue Befugnisse zugestehen und die jungen Eliten, jedes Jahr an die 150’000, das Land verlassen, als sei die Pest ausgebrochen.

Dabei arbeiten nationale und europäische Gesetzgeber um die Wette, und was zu Hause an Volks- und Gruppenbeglückung nicht zu schaffen ist, das kommt via Brüssel zurück. Die zwanghafte Lust am Vielregieren, Regulieren und Kontrollieren, der sich die Schreiberkaste in den Ministerien und der Brüsseler Kommission ergibt, nimmt die Luft zum Atmen und gefährdet nicht nur die Demokratie, sondern auch die Freiheit, die doch die Triebfeder des Ganzen ist.

Der Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts, der wenig Steuern verlangte, die Menschen weitgehend sich selbst und den Fährnissen des Lebens überliess und nicht mehr tat, als einen Rechtsrahmen zu setzen, verwandelte sich im Zuge der Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts in den Daseinsvorsorgestaat. Und dieser Staat – das zeigt sich nun deutlich – lässt sich auf die Dauer nicht mehr finanzieren.

Der deutsche Nachkriegs-Wohlfahrtsstaat hatte einen fundamentalen Konstruktionsfehler: er war gegründet auf hohes Wachstum der Kinderzahlen, der Wirtschaft, der Einkommen. Was aber für die Wirtschaftswunderjahre galt, gilt seitdem nicht mehr – seither ist die Schieflage des Systems zum System geworden. Ausserdem trat in den letzten Jahrzehnten zur Umverteilungspolitik teure Umweltpolitik und eröffnete dem Staat ein neues Universum der Intervention, manches davon segensreicher als anderes, vieles abwegig und alles überaus kostspielig. 1’500 Milliarden öffentliche Schulden vor der Finanzkrise und unabsehbar viele Milliarden weitere Schulden im Zuge der Finanzkrise sind nicht ermutigend für knappe Kinder und noch knappere Enkel.

Wenn das die Lage ist, dann gibt sie wenig Anlass zu Hoffnung. Überall in Europa ist der Staat zugleich überlastet und interventionsfreudig, überschuldet und spendierlustig (auch die Schweiz passt sich zunehmend den europäischen Standards an). Alle Spar- und Rückbauversprechen gehen nach dem Gebet des Heiligen Augustinus: «O Herr, gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, aber nicht jetzt.»

Man soll nicht müde werden, an Einzelheiten mit der kleinen Stellschraube heranzugehen. Dafür sind Standesorganisationen da, politische Parteien, die Öffentlichkeit der Medien, aber auch das Gespräch der Bürger untereinander. Aber das alles reicht nicht. Man muss die Petitio Principii wagen, das heisst Ziele und Mittel bestimmen und dafür einstehen.

Der Feind ist, was die Briten, irritiert und hilflos, den «nanny state» nennen. Der deutsche Mammi-Staat ist noch perfekter als perfekt. Mammi weiss alles und alles besser, und sie handelt unerbittlich nach dem Prinzip: du weisst zwar nicht warum, aber es ist gut für dich. Mitunter erlaubt sich der Mammi-Staat Scherze und fügt dem Schaden noch den Spott hinzu: die Aufhebung des Bankgeheimnisses in Deutschland beispielsweise – für Schweizer besonders brisant – wurde anfangs von Hans Eichels Bundesministerium der Finanzen begründet mit Abwehr des Terrorismus, bis man der Sache den neckischen Namen gab: Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit. Der frei gewählte Deutsche Bundestag hat allen Ernstes die Farce mitgespielt. Dass man auf diese Weise Osama Bin-Laden fangen oder seine Emissäre dingfest machen werde, gilt allerdings in Fachkreisen als eher unwahrscheinlich.

Kommen wir zum Wesentlichen. Jedes politische System trägt in sich den Keim seiner Zerstörung. Die Demokratie ist davon, erwiesenermassen, nicht ausgenommen. Vor einem Jahr noch grasten die sieben fetten Kühe auf den Weiden. Nun sind die sieben mageren Kühe an Land gestiegen und haben die fetten gefressen. Es gab zwar den einen oder anderen Josef, der uns warnte, aber niemand wollte dergleichen hören. Bleibt zu hoffen, dass in der gegenwärtigen Krise die Realisten und Mahner über jene obsiegen, die weiterhin das Blaue vom Himmel versprechen – auf Kosten künftiger Generationen.

Michael Stürmer, geboren 1938, ist emeritierter Professor der Universität Erlangen-Nürnberg und Autor u.a. von «Welt ohne Weltordnung» (2006).

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