Die Lyrik Felix Philipp Ingolds (1/2) Gabe gegen Gabe
Wo im Gedicht liegt der Sinn? Wo findet sich die Bedeutung? Oder sind schon die Fragen falsch gestellt, da moderne Lyrik weder sinnvoll im alltäglichen Wortverständnis sein kann, noch Bedeutungen vermitteln will, die uns geläufig sind? Eine Antwort für die Gedichte Felix Philipp Ingolds gibt der Germanist Wolfram Malte Fues: der Zugang zu Ingolds Gedichten finde sich dort, wo das
Zusammenspiel der Wörter ihren gewohnten Gebrauch hinter sich lasse. Fues macht anhand der Ingoldschen Gedichte «Idyll» und «Oder» auch gleich eine Probe aufs Exempel. Zwei weitere Gedichte zum eigenen Ausprobieren folgen auf Seite 49.
Wo und wie arbeitet ein Lyriker? Einem berühmt-berüchtigten Gedicht zufolge geht er, so fernab wie möglich von aller Zivilisation, in Feld und Wald vor sich hin, streng darauf achtend, dass er nichts suche, damit ihn das, was er nicht sucht, finden und bei der Schreibhand nehmen kann. Wo und wie arbeitet der Lyriker Felix Philipp Ingold? «Der öffentliche Raum ist der Resonanzraum, aus dem ich die ersten noch unverbundenen Daten für mein Schreiben gewinne. Die Verbindung und Entfaltung von alltäglichen Klangereignissen zu einem Text, in dem Wörter und Laute enggeführt und immer wieder neu zum Sprechen gebracht werden, ist das, was ich unter Dichtung verstehe und als Dichtung praktiziere», so schreibt er in «Gegengabe» (2009).*
Stellen Sie sich vor, Sie gingen durch eine Bahnhofshalle, eine Ladenstrasse und über einen Marktplatz auf einen Verkehrsknotenpunkt zu. Stellen Sie sich weiter vor, Ihr Bewusstsein verlöre auf diesem Weg die Fähigkeit, Wahrnehmung von Lauten und Wörtern nach seinen Bedürfnissen zu sortieren und anzuordnen, zu staffeln und auszublenden. Demnach ineins und uneins: Lautsprecherdurchsagen, Zeitungsausrufe, Stimmengewirr. Ihre Kopfhörer. Ihr Handy. Vor Ihren Augen die noch stummen, aber auf ihr Lautwerden drängenden Wörter der Minuten-, Tages- und Wochen-Zeitungen, der Schaufensterauslagen und Projek-tionswände, vor Ihrem inneren Auge das Internet mit seinem Link-Universum, das jederzeit auf Sie wartet. In diesem Resonanzraum einander wieder- und überholender, durchdringender und zersetzender, steigernder und zerstreuender Laute und Wörter, Sätze und Texte leben wir heute.
Als die Warenwelt noch jung war, bot sie sich als Erfüllung unserer Wünsche und Träume lediglich an und wartete auf unsere bejahende oder verneinende Antwort. Heute antwortet sie selber mit einer Zungenfertigkeit, die niemanden ausser ihr zu Wort kommen lassen will und unsere Entscheidungen schon weiss, bevor wir auch nur an sie gedacht haben. «Dem Begehren des anderen entsprechen, sein Verlangen wie ein Spiegel abbilden, es sogar antizipieren: man kann sich kaum vorstellen, welche enttäuschende, vernichtende, verlockende und irreführende Kraft … in dieser plötzlichen Verführung enthalten ist» (Jean Baudrillard).
Wir verfallen der Warenwelt nur deshalb nicht völlig, weil wir uns längst angewöhnt haben, das, was da von allen Seiten und aus allen Seiten auf uns eindringt, in vorbewusster, reflexhafter Abwehr und Absonderung zu durchqueren, «gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend» (F. Nietzsche). Was hat ein Lyriker in dieser Welt zu suchen? Was hofft er, da zu finden? Er, der Hegel zufolge in der heranwachsenden Warenwelt «die ganze äussere Umgebung zum symbolischen Ausdruck des Innern zu benutzen weiss» und dabei «tiefe objektive Gedanken nicht scheut»? In einer Welt, die Aussen und Innen alltäglich gegeneinander tauscht, die an die Stelle der Tiefe die Aktualität und an die des Objekts das Arrangement setzt? Gemäss Ingold hofft er auf die in ebendiesem Alltag Täuschung mit Enttäuschung ausgleichende, bejahende, verlockende Kraft der sich von ihrer festen Bedeutung losmachenden Wörter: «Im Gedicht hat ein Wort dann seine höchste Richtigkeit, wenn möglichst viele seiner Bedeutungen – und gerade die am weitesten auseinanderliegenden – gleichzeitig zum Tragen kommen; wenn sie als Sinnbildungselemente eingesetzt werden, die kraft ihrer Assoziationsfähigkeit weiter reichen als diese oder jene vom Wörterbuch … bereitgehaltne Einzelbedeutung.»
Die Welt, in deren öffentlichem Raum wir heute leben, mag ja mehr und mehr aus den Fugen, insbesondere aus den Wort- und Satzfugen gehen. Ihre sinnbildende Kraft aber lebt in diesen Fugen fort, am Treffpunkt aller wirklich möglichen Verbindungen und Vermittlungen, die in jener Welt ausgelegt sind und auf die sich der Lyriker zu besinnen vermag, indem er sich auf ihre Auslagen besinnt. Das Wort, so Ingold, hat im Gedicht dann seine Richtigkeit, wenn diejenige Bedeutung, die es an seiner Stelle hat, mit denjenigen Bedeutungen, die es von da aus an sich ziehen kann, zur Einheit verdichtet ist. «Es gibt keine Synonyma», warnt Lichtenberg. Aber eben deswegen gibt es eine Synergie zwischen den Wörtern, die ihren alltäglichen Gebrauch bestätigt wie übertrifft. So weit die Theorie. Aber bewährt sich das auch in der Praxis? An einem Ingold-Gedicht aus dem Band «Gegengabe»?
Das Zittern der Espe beim Gemaltwerden
macht den Schein aus und in spe
das Warten voll. Das Bild verschwindet
während es entsteht. Vollendet sich
die Täuschung oder wird mal so
mal anders Tausch.
Titel: «Idyll». Der passt auf den ersten Blick, auf den zweiten aber schon nicht mehr. Verwirrend. Vielleicht hilft die griechische Wortbedeutung weiter. «Idylle» ist eine Diminutivbildung zu eidos, griechisch für äussere Erscheinung oder Gestalt. «Idylle» bedeutet also eigentlich Bildchen.
Schauen wir uns das Bildchen auf seine Gestalt, auf seine Form hin an. Espen zittern nicht beim Gemaltwerden. Im Gegenteil, sie hören, ins Bild gesetzt, zu zittern auf und halten still. Den aber, der sie malt, oder den, der das werdende Bild betrachtet, erinnern die Blätter unablässig an ihre im Sprachgebrauch unerlässliche Bewegung. Espenlaub zittert im Sprichwort, das, als erstarrte Wendung, sich wieder- und wiederholend, andere Wendungen aufliest und an sich zieht. So entstehen zusammenwachsende Bedeutungen, die Sinn machen, weil sie mehr ergeben als die Summe ihrer Teile. Auf die Erfüllung dieser Idee lässt das werdende Bild hoffen.
Aber so spricht die Welt nicht, in der wir leben. «Das Bild verschwindet / während es entsteht», in den vielfältigen Bild-Bedeutungen und Bedeutungs-Bildern, die im öffentlichen Resonanzraum laut werden und ihn füllen, «wird mal so / mal anders Tausch». Enttäuschend. Was bleibt? Bleibt etwas? Die Antwort, die Gegengabe, folgt erst beinahe 500 Seiten später. Dazwischen schiebt sich eine Vielzahl anderer Texte «aus kritischen, poetischen und privaten Feldern», eine Vielzahl, die das Zittern der Espe so vermannigfaltigt, dass es in seiner eigentümlichen Metaphorik untergeht. Nun taucht es wieder auf:
Das Zittern der Espe beim Gemaltwerden
macht den Schein aus und in spe
das Warten voll. Das Bild – seht! seht! – verschwindet
während es entsteht. Vollendet sich
die Täuschung oder [bricht ab]
Titel diesmal: «Oder». Was soll da gesehen werden? Die Einheit von Verschwinden und Entstehen? Müssen wir das Entstehen des Reims wegen wichtiger nehmen? Wer ist gemeint mit dem Imperativ? Wir? Die Lesenden? Weshalb? Und was bricht da ab? Wovon? Wohin?
Wenn ich recht sehe, liegen in diesem eigentümlichen Widerspiel von Gabe und Gegengabe Originalität und Aktualität von Ingolds Lyrik. Versuchen wir, dem Spiel auf die Spur zu kommen und seine Regel zu begreifen.
«Je est un autre» lautet der Kernsatz der «Lettre du Voyant», die Arthur Rimbaud im Mai 1871 an seinen Lehrer Georges Izambard richtet. Der Beifall, der diesen Satz nun seit gut hundert Jahren begleitet, übertönt bis heute immer wieder, dass dieser Satz nach einer Ergänzung verlangt. Je est un autre – que qui? Que moi. Rimbaud spielt hier die beiden Bedeutungen gegeneinander aus, die das Konzept des Ichs seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in der europäischen Moderne annimmt. Je meint «Ich» als reines Pro-Nomen, als allseits verfügbares Subjekt der Sätze, die den Resonanzraum gegenwärtiger Öffentlichkeit schaffen. Je meint «Ich» als jemanden, der jeden Namen anzunehmen vermag, den ihm die ihn auf dem Weg durch den Bahnhof und die Ladenstrasse über den Marktplatz zum Verkehrsknotenpunkt ansprechenden Reden und Texte geben. Moi hingegen holt aus all diesen Pro-Nomina seinen eigenen Namen zurück, indem es über die Sätze entscheidet, zu deren Subjekt es ihn macht. So weiss es das gesamte Äussere des öffentlichen Resonanzraums zum symbolischen Ausdruck, zur Sinngestalt seines Innern, seines Selbsts, auszuwerten und anzuordnen. Dem Französischen fehlt ein dritter Begriff für die Einheit dieser Unterscheidung, während das Ich des Deutschen auf dieser Einheit beharrt, aber nun seinerseits für ihren Unterschied keine Worte hat. Ingold schreibt in «Gegengabe»: «Kein Ich ist für das Wort Ich / gross genug. Wie kein Gesicht fürs Licht.»
Dieses von Rimbaud in die Geschichte der modernen Lyrik eingeführte Spiel zwischen je und moi eröffnet meines Erachtens auch den Resonanzraum, in und mit dem Ingolds Lyrik arbeitet, den Ort, an dem sie alltägliche Klangereignisse zu einem Text verbindet, «in dem Wörter und Laute enggeführt und immer wieder neu zum Sprechen gebracht werden». Wie? Von wem? Und schliesslich: für wen?
Je malt als lyrisches Subjekt das Zittern der Espe, lässt es im Bild still und in den Erinnerungen, Assoziationen, Stichwörtern, die das Bild hervorruft, wieder laut werden. Je malt mit Lauten und Wörtern, die Sätze spenden, Sätze in spe für den Anschein des scheinbaren Gleichgewichts, der immer vorläufigen Ordnung zwischen den sich vervielfältigenden Bildchen, in die sein Bild beim Malen zerfällt. «Das Bild – seht! seht! – verschwindet / während es entsteht.» Wer ist hier aufgefordert? Wer gemeint? Ich meine: Wir, die Leserinnen und Leser. Seht zu, wie in den Sätzen des Gedichts Wörter und Laute dadurch neu zum Sprechen gebracht werden, dass «möglichst viele Bedeutungen gleichzeitig zum Tragen kommen». Seht, wie sein Gegenstand durch das ständige Um- und Neuschreiben seiner Erscheinung verschwindet, während er entsteht, seht in seinem Spiegel euer eigenes Ich, dem jeden Tag bewusstlos widerfährt, was das Gedicht in seinen Augenblick zusammenfasst, um es sichtbar, lesbar, gegenwärtig zu machen. Ich ist im Sprachraum unserer Öffentlichkeit bei jedem Schritt, den es durch ihn tut, ein anderes, und bleibt nur bei sich, indem es sich verneinend, verweigernd, ausfällend gegen ihn abschottet. Et moi? Moi verschwindet in, aber nicht aus den so vorgehenden Gedichten. Es geht unter, aber nicht verloren. «Vollendet sich / die Täuschung oder [bricht ab]».
Vollendet sich die gegenseitige Täuschung einander verführender Resonanz-Sätze und ihrer Pro-Nomina, löst sich das moi endgültig im je auf. Oder wird die sich selbst beschleunigende Bewegung, in der es als Bildchen-Folge pulsiert, durch aus ihr hervorgehende und ihr widerstehende Sinnsetzung und Bildgebung angehalten? In diesem «Oder» liegt die Sollbruchstelle von Ingolds Gedichten. Die Gegenbewegung, in die sie abbrechen, ist Sache des Lesens und Verstehens. Das Gedicht erweist die Gegenbewegung als möglich, führt an sie heran, aber vollzieht sie nicht für seine Leser. Ob die Leser sich von den Resonanzen und Redundanzen des öffentlichen Sprach-Raums weiter und weiter täuschen lassen, oder ob sie die Täuschung zu enttäuschen trachten, bleibt ihnen überlassen. «Diesem Leser, jener Leserin, kommt es nicht … darauf an …, das Gelesene als Verstandenes zu haben, vielmehr darauf, lesend etwas damit anzufangen, ihm einen Sinn zu geben, der über jede (immer bloss nachvollziehbare) Bedeutung hinausreicht.»
Aber wie fangen wir das an, dem Gelesenen einen Sinn zu geben, der über jede feststellbare Bedeutung hinausreicht? Wo im Gedicht gibt es Anlass zu so einem Sinn? In der Engführung, dem Ineinanderklingen seiner Laute und Wörter, dessen Akkord mehr verspricht als die Summe seiner Töne? In der Gleichzeitigkeit der Wortbedeutungen, die in ihm zum Tragen kommen und deren Zugleich sie über ihre Addition hinausträgt? «Aber der Unsinn, Text auf Musik zu reduzieren.» So also nicht. Dann eben anders. «Aber der Unsinn», heisst es leider schon im übernächsten Satz, «Text auf ein Sinnkonstrukt zu reduzieren.» Was nun? Nun: Minus mal Minus gibt Plus. Sinn, wie ihn Ingolds Gedichte nahelegen, kommt zustande, wenn man lesend den musikalischen wie den Bedeutungszusammenhang ihrer Texte aneinander führt und ineinander auffaltet, sie also verstehend zu einem privaten Resonanzraum komponiert, der den öffentlichen an Buntheit und Gestaltung, an Differenz und Intensität und damit an Selbst-Entwurfs-Kraft weit übertrifft. «Komposition natürlich!» ist zwischen die beiden Unsinns-Thesen gesetzt. Bei Oskar Pastior («Das Unding an sich», 1994) steht sie mit Ausrufezeichen. Bei Felix Philipp Ingold geht sie kursiv.
* Felix Philipp Ingold: «Gegengabe aus kritischen, poetischen und privaten Feldern». Basel/Weil am Rhein: Urs Engeler Editor, 2009.