Die Lust am eigenen Untergang
Fukushima, Klimawandel, Waldsterben, Vogelgrippe: wir sind katastrophenvernarrt. Bleiben die angekündigten Katastrophen aus, sind wir enttäuscht statt erfreut. Und warten schon auf das nächste Unheil. Warum eigentlich?
Eigentlich hätte die Welt am 21. Mai um 18 Uhr untergehen sollen. Doch der kalifornische Prediger Harold Camping hatte sich, wie er kurz darauf einräumte, vertan; die Apokalypse wurde nun auf den 21. Oktober terminiert.
Solche religiösen Untergangsprophezeiungen ringen den meisten Menschen bloss ein müdes Lächeln ab. Dennoch steht apokalyptisches Denken heute hoch im Kurs: es beeinflusst das Handeln der Menschen, sowohl im privaten Leben als auch in Politik und Gesellschaft, und es beschwört die Schuld und Verdorbenheit des Menschen beziehungsweise dessen Unfähigkeit, dem Untergang zu entrinnen.
Widerhall findet dieses Denken als zunehmende Bereitschaft, die Folgen von Unfällen und Naturereignissen zu dramatisieren und sozusagen stets vom Schlimmsten auszugehen. Dabei sind die Folgen dieses Denkens für die Gesellschaft dramatischer als alle Unfälle und Katastrophen zusammen. Die Menschen verlieren nicht nur die Fähigkeit, zwischen echten und gefühlten Bedrohungen zu unterscheiden, sondern auch das Vermögen, auf wirkliche Bedrohungen überlegt und angemessen zu reagieren.
Fukushima: Tschernobyl 2.0?
Die grösste Schockwelle der letzten Jahre wurde durch den Atomunfall im japanischen Atomkraftwerk Fukushima ausgelöst. Noch immer sickern Einzelheiten über die tatsächlichen Ereignisse in den Unglücksreaktoren an die Öffentlichkeit, was den Eindruck erweckt, die Lage vor Ort verschlechtere sich fortlaufend. Dabei ist gerade die Tatsache, dass wir mehr und mehr Informationen über den Unfallhergang erhalten, ein Indiz dafür, dass die Lage allmählich unter Kontrolle gerät.
Verstärkt wurde der Fukushima-Schock durch das Zusammenwirken mit einem Ereignis, das seit 25 Jahren die Politik in Deutschland prägt: der Unfall im Atomkraftwerk in Tschernobyl im Jahre 1986. Dass der Unfall in Fukushima offiziell der höchsten Stufe der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) zugeordnet wurde, verstärkte den Eindruck, man habe es mit einem «zweiten Tschernobyl» zu tun. Und so kam es, dass die deutsche Anti-Atom-Bewegung eine Wiederauferstehung erlebte. Doch trotz der öffentlichen Hysterie gehen der direkte Vergleich beider Ereignisse und die in der Folge zu beobachtende Potenzierung der «gefühlten Bedrohung» an der Wirklichkeit vorbei. Bis Anfang Juni sind im Kontext des Atomunfalls in Fukushima drei Arbeiter ums Leben gekommen. Unabhängige Messungen lokaler Behörden und Universitäten in verschiedenen japanischen Städten zeigten nur an ersten Tagen und nur in einem einzigen Fall erhöhte Werte in einem Bereich von maximal 3 Mikrosievert/Stunde. Zum Hintergrund: Hätte diese Dosis ein Jahr lang angehalten, läge sie noch immer deutlich unter der natürlichen Hintergrundstrahlung an einigen Orten Europas, Indiens oder des Mittleren Ostens. Die radioaktive Verseuchung des Meerwassers in der Region vor Fukushima überstieg zwar den geltenden Grenzwert um das 1250-Fache, doch im Vergleich zu der 1986 in Tschernobyl freigesetzten Strahlung lag sie bei weniger als einem Prozent.
Zieht man weitere Fakten über die Ereignisse in Tschernobyl zu Rate, wird der hysterische Charakter der Atomdiskussion endgültig offensichtlich. In der Schweiz und in Deutschland gilt Tschernobyl als der Inbegriff der atomaren Apokalypse. Insbesondere in der Anti-Atom-Bewegung ist bis heute von Zehntausenden Todesopfern die Rede, die der Unfall gefordert haben soll. Tatsächlich zeichnet der 2005 veröffentlichte Bericht des «Tschernobyl-Forums», dem u.a. die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) sowie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angehören, ein anderes Bild: 50 Todesfälle können direkt mit der Strahlung aus der Katastrophe in Zusammenhang gebracht werden. Fast alle Todesopfer gehörten zu den Rettungskräften, die besonders starker Strahlung ausgesetzt waren.
In seinem im April im «Spiegel» veröffentlichten Artikel «Die wahre Gefahr» bestätigt Robert Peter Gale, der nach dem Unfall in Tschernobyl als Leiter eines internationalen Ärzteteams in die Krisenregion gereist war, dass die Folgen der Strahlung auf die menschliche Gesundheit «weitaus weniger drastisch» waren als angenommen. Er erklärt diese Fehleinschätzung damit, dass die anfänglich angenommenen Zahlen aufgrund des Krebsrisikos der Überlebenden der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki extrapoliert worden seien, obwohl die dortigen Bedingungen gänzlich andere waren. Ebenso sinnvoll bzw. sinnlos wäre es, aus der Tatsache, dass eine Temperatur von 200 Grad Celsius 100 Prozent aller Menschen töte, abzuleiten, dass eine Temperatur von 20 Grad Celsius für 10 Prozent tödlich sei.
Die Ereignisse in Fukushima können also hinsichtlich des Ablaufs, der Ursachen und der Konsequenzen keineswegs mit Tschernobyl verglichen werden. Zudem hat auch das «tatsächliche Tschernobyl» mit dem, was sich in unserem Krisengedächtnis eingebrannt hat, wenig gemein. Gale betont die hohe Emotionalität des Themas Atomkraft, die dazu führt, dass Fakten überinterpretiert oder schlicht verdrängt werden. Zur Einordnung der aktuellen Situation in Japan schreibt er: «Im Kohlebergbau sterben jedes Jahr mehr als 10’000 Menschen, auch der Transport und die Weiterverarbeitung der Kohle fordern Menschenleben.» Auch wenn die Aufrechnung von Toten des Zynismus nicht entbehrt: das sind Tote, die in der Aufregung um die angeblich gefährlichste Art der Energieerzeugung vergessen werden.
Dass der Atomunfall in Fukushima dennoch weitreichende politische Konsequenzen hat – gerade haben die Schweiz und Deutschland Fahrpläne zum Atomausstieg beschlossen –, offenbart die Anfälligkeit der Politik für angstgetriebene und emotionale Überreaktionen. Die tatsächliche Risikolage hat sich hingegen nicht verändert. Weder sind die erst im Herbst 2010 überprüften deutschen Atommeiler seither unsicherer geworden, noch ist die Wahrscheinlichkeit von Tsunami auslösenden Erdbeben in Mitteleuropa angestiegen.
Politik im 21. Jahrhundert: Angstproduktion am Fliessband
Die Überreaktionen auf die Ereignisse in Fukushima gehören mittlerweile zur Normalität. Die «gefühlte» Anzahl von Katastrophen ist in den letzten zehn Jahren so rapide gestiegen, dass der Kampf gegen den Weltuntergang zur Alltagsroutine geworden zu sein scheint. Schon zum Jahrtausendwechsel wurden aufgrund des angeblichen Millennium Bugs das Kollabieren der weltweiten Computernetze und die Rückkehr in die kommunikationstechnologische Steinzeit vorhergesagt. Der eigentliche Übergang ins neue Jahrhundert der Angst ereignete sich dann aber am 11. September 2001. Der seither geführte Krieg gegen den Terror – mit seinen innenpolitischen Konsequenzen wie der im Namen erhöhter Sicherheit intensivierten Telekommunikationsüberwachung sowie der Vorratsdatenspeicherung – hat das bereits zuvor in westlichen Gesellschaften grassierende Gefühl der Unsicherheit weiter verschärft. Schon hier zeigte sich, dass Bedrohungen als umso grösser wahrgenommen werden, je weniger sichtbar beziehungsweise nachweisbar sie sind. Die Angst vor dem Unbekannten wurde 2003 im Irakkonflikt gar zum Kriegsgrund: die Aussage des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, es gebe auch «unbekannte Unbekannten», die man zu beachten habe – gemeint war das Fehlen von Beweisen für die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen –, wurde zum Symbol westlicher Desorientierung im Kampf gegen mehr oder minder reale Bedrohungen.
Auch in den folgenden Jahren wurde die Angstproduktion durchaus erfolgreich vorangetrieben – in so unterschiedlichen Gebieten wie Medizin, Finanzwirtschaft oder Umwelt. Sie erinnern sich? Im Jahr 2005 hielt die Vogelgrippe (SARS) die Welt in Atem: Gesundheitsexperten der UNO warnten davor, dass bis zu 150 Millionen Menschen weltweit von der Epidemie, die in überdrehter Art und Weise als «Kombination aus Klimawandel und Aids» bezeichnet wurde, dahingerafft werden könnten. 2009 – diesmal war es nicht das Vogel-, sondern das Schweinegrippevirus H1N1 – sah die Chefin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, gar die gesamte Menschheit einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Äusserungen von Wissenschaftern, das Virus löse in der Regel lediglich eine relativ milde verlaufende Grippe aus, wurden als unverantwortliche Verharmlosungen gebrandmarkt. Die Staaten investierten Milliarden in Impfstoffe – und blieben auf diesen sitzen.
Ebenfalls wie ein Virus verbreiteten sich Angst und Schrecken angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008 in den USA ihren Anfang nahm. Die öffentlichen Diskussionen offenbarten, wie wenig Platz hysterische Krisenreaktionen für rationale und besonnene Argumente lassen. Selten gingen die Erklärungsversuche über das Anprangern menschlicher Gier hinaus – ganz so, als seien ökonomische Prozesse aus dieser naiven kindlichen Perspektive auch nur ansatzweise zu verstehen. Anstatt grundlegende Miss-stände wie die fehlende Innovationsfähigkeit und die seit Jahrzehnten zu beobachtende Wachstumsschwäche der westlichen Ökonomien zu thematisieren, geschah das Gegenteil: problematisiert wurde das Wachstumsstreben an sich, und die Regierungen wälzten die Verantwortung für die Krise auf Banker und Fondsmanager ab.
Anlässlich der Explosion der Ölbohrplattform «Deepwater Horizon» im Golf von Mexiko im April 2010 hagelte es erneut Schreckensmeldungen. Dass sich nur ein Jahr nach dem Unfall Umweltwissenschafter verwundert die Frage stellten, wo die ausgelaufenen insgesamt rund 780 Millionen Liter Erdöl geblieben seien, fand hingegen weniger Aufmerksamkeit. «Wir hatten die Ökologie des Golfs und die Fähigkeit der Bakterien, Kohlenwasserstoffe zu verwerten, nicht richtig eingeschätzt», wurde William Reilly, Leiter der US-Untersuchungskommission, im Magazin «Focus» zitiert. Offenbar kamen die Erdöl fressenden Bakterien, die im Golf von Mexiko ohnehin jährlich rund 160 Millionen Liter aus natürlichen Quellen sprudelndes Erdöl vertilgen, auch mit dem Öl der «Deepwater Horizon» gut zu Rande.
Ereignisse wie diese, selbst wenn sie in der vorhergesagten Form ausbleiben, treffen viele Menschen ins Mark und lösen nachhaltige emotionale Reaktionen aus. Diese ebben zwar zumeist in ihrer Heftigkeit schnell ab, setzen sich aber in vielen Köpfen in Form einer emotional gefärbten «Vorsorgekultur» fest. Sie basiert auf der Vorstellung, dass es sinnvoll sei, zunächst einmal das Schlimmste anzunehmen. Tritt der worst case nicht ein, so die Logik, ist man zumindest kein verantwortungsloses Risiko eingegangen. Das Problem dabei: das Verkünden einer endgültigen Entwarnung oder das Eingeständnis einer Fehleinschätzung ist in diesem Denken nicht nur nicht vorgesehen, sondern gilt sogar als verantwortungslos. Bedrohungslevels werden so gut wie nie nach unten korrigiert – man könnte die Menschen ja in falscher Sicherheit wiegen und die allgemeine Wachsamkeit gefährden.
Evergreens der grünen Apokalyptik: Klimawandel und Waldsterben
Neben Katastrophenmeldungen mit kurzer Halbwertszeit beeinflussen auch apokalyptische Dauerbrenner das Denken der Menschen. In regelmässigen Wellen, zeitlich gekoppelt an Weltkonferenzen oder extreme Wetterphänomene, schwappt der Klimawandel zurück in die Schlagzeilen und die Köpfe der Menschen. Das Bedrückende an den fortdauernden Auseinandersetzungen über den Klimawandel ist ihre Untergangsfixierung. Die eigentliche zentrale Fragestellung, wie mit Klimaveränderungen konstruktiv umgegangen werden könne, wird nur selten thematisiert. Stattdessen dominieren Schuldzuweisungen und die fatalistische Darstellung untergehender Inseln und sich ausbreitender Wüsten – als sei die Menschheit solchen Veränderungen schutz- und hilflos ausgeliefert.
Ein Klassiker ökologischer Schwarzmalerei, und insbesondere in Deutschland tief verankert, ist der Mythos vom Waldsterben. Anfang der 1980er Jahre – damals gingen Experten noch von einem weltweiten Sinken der Temperaturen aus – wurde dieses Thema zum Dreh- und Angelpunkt in der politischen Auseinandersetzung sowie zum Schlüsselthema der erstarkenden grünen Bewegung in Deutschland. Bis heute rückt das Waldsterben mindestens einmal im Jahr anlässlich der Veröffentlichung des Waldzustandsberichts der deutschen Bundesregierung ins Rampenlicht. Dabei ist von den einstigen apokalyptischen Vorhersagen, die mit dramatischen Umschreibungen wie dem nahenden «ökologischen Hiroshima» in die Schlagzeilen gehievt wurden, nichts geblieben. Im Gegenteil – schon 1995 wies eine Studie des Europäischen Forstinstituts nach, dass der europäische Wald in seiner Gesamtheit immer schneller wachse und die Bäume immer älter würden. Insgesamt ist zwischen 1992 und 2008 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Waldfläche in Deutschland jährlich um durchschnittlich 176 Quadrat-kilometer gewachsen – das entspricht ungefähr der Fläche der Stadt Karlsruhe. Selbst prominente Verfechter der These vom Waldsterben wie der Forstwissenschafter Bernd Ulrich, der 1982 das Sterben der ersten grossen Wälder für 1987 prognostiziert hatte, rückten von ihren einstigen Untergangsthesen ab – jedoch ohne ihre offensichtliche Fehleinschätzung im nachhinein zu bedauern.
Tot ist der Mythos vom Waldsterben dennoch nicht. Heute erfährt er auf globaler Ebene und im Kontext des Klimawandels eine Renaissance. Die apokalyptischen Reiter haben kurzerhand die Pferde gewechselt. Und wieder wird ein Zusammenhang einseitig negativ konstruiert: Dass sich durch eine Klimaerwärmung Wälder in Regionen ausbreiten können, in denen es bislang zu kalt für Baumwuchs ist, wird zumeist ausgeblendet. Auch die weit verbreitete Vorstellung, dass eine Temperaturerhöhung und das Ansteigen des CO2-Gehaltes der Luft zwingend eine Bedrohung für die tropischen Regenwälder darstellten, ist wissenschaftlich alles andere als unumstritten. Ein Forscherteam vom Smithso-nian-Tropenforschungsinstitut in Panama berichtete im November 2010 in der Zeitschrift «Science», dass der Regenwald während einer extremen Warmphase vor 56 Millionen Jahren bestens gedieh – und das bei um drei bis fünf Grad höheren Temperaturen und bei atmosphärischen CO2-Konzentrationen, die um das Zweieinhalbfache höher lagen als heute.
Die globale Erwärmung könnte sogar zu einer Wiederbegrünung vieler Wüsten führen, argumentiert der Geoarchäologe Stefan Kröpelin von der Forschungsstelle Afrika der Universität Köln. Die Klimaerwärmung löse eine verstärkte Wasserverdunstung über den Weltmeeren sowie die Stärkung des Monsunsystems aus, was zur Folge habe, dass Feuchtigkeit heute sehr viel weiter in die Wüsten hineingetragen werde. Eine tatsächlich grosse Bedrohung für die Wälder der Welt geht heute indes von Brandrodungen aus, u.a. für die Schaffung von Ölpalmenplantagen in Indonesien, die wiederum in der Produktion von Biodiesel eine wichtige Rolle spielen – ein makabrer Zusammenhang, der leider in der grün angehauchten Presselandschaft kaum Erwähnung findet.
Malthus reloaded: zu viele Menschen?
Wesentlich älter als der Glaube an das Waldsterben ist der Mythos von der Überbevölkerung unseres Planeten. Bis heute gilt die Ansicht, dass das Bevölkerungswachstum der Menschheit an natürliche Grenzen stosse, da die Erde irgendwann voll und Nahrung nicht mehr im notwendigen Umfang herzustellen sei, als ein unumstössliches Dogma. Als prominentester historischer Vertreter dieses Denkens gilt der britische Ökonom Thomas Malthus – er ist sozusagen der Erfinder des Konzepts der Überbevölkerung. Im Jahr 1798 hatte Malthus in seinem «Essay on the Principle of Population» behauptet, dass die die Erde überfordernde «Vermehrungskraft der Bevölkerung» letztlich nur durch Seuchen, Kriege und Hungersnöte eingedämmt werden könnte.
Heute leben mehr als siebenmal so viele Menschen auf dem Globus wie zu Malthus‘ Zeiten. Allein seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltbevölkerung verdoppelt, im gleichen Zeitraum konnte jedoch die globale Getreideproduktion verdreifacht werden. Pro Kopf produziert die Menschheit heute – auch dank der «grünen Revolution», die die landwirtschaftlichen Erträge in die Höhe schiessen liess – 40 Prozent mehr Nahrungsmittel als vor 60 Jahren. Neue effizientere Technologien in der Landwirtschaft bergen das Potential weiterer massiver Ertragssteigerungen. Auch von einer weltweit unerträglichen räumlichen Enge kann nicht die Rede sein. Allein in Frankreich, das weniger als ein halbes Prozent der globalen Landfläche ausmacht, könnten, würde im ganzen Land eine Bevölkerungsdichte wie in Paris herrschen, problemlos 16 Milliarden Menschen leben. Angesichts dieser Fakten ist der zu erwartende Anstieg der Weltbevölkerung auf 10 Milliarden bis zum Jahr 2050 eine Herausforderung, die handhabbar erscheint.
Heute werden die Ängste vor der Bevölkerungsexplosion in der Regel mit ökologischen Argumenten wie etwa der Endlichkeit natürlicher Ressourcen und der Überlastung von «Mutter Erde» unterfüttert. Die Betonung natürlicher Grenzen lässt jedoch ausser Acht, dass mit dem Anstieg der Weltbevölkerung nicht nur die Anzahl zu stopfender Mäuler, sondern auch die vorrätige Intelligenz und Kreativität wächst. Grundlegend für das malthusianische Denken ist ein statisches und von der Entwicklung moderner Technologien unabhängiges Verständnis dessen, was eine Ressource ist bzw. sein kann. Die Existenz von Hunger und Armut ist angesichts unserer bereits jetzt bestehenden Fähigkeit, Lebensmittel im Überfluss zu produzieren, nicht auf äussere Grenzen zurückzuführen, sondern auf regionale wirtschaftliche Unterentwicklung – ein Missstand, der behoben werden kann.
Vorsorgekultur: der Mensch als Opfer
In der Rückschau auf viele reale wie ausgebliebene Katastrophen fällt auf, dass deren Bewertung nicht mehr nur auf nachprüfbaren wissenschaftlichen Fakten beruht. In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» war im April 2011 zum ersten Jahrestag der Explosion der «Deepwater Horizon» zu lesen, die Folgen der Katastrophe seien «mit vermeintlich neutralen oder gar rationalen Analysen … nicht zu erfassen». Vielmehr sei «der psychologische Schaden … unkalkulierbar». Insbesondere in Umweltschützerkreisen werden Versuche, Ereignisse aufgrund von wissenschaftlichen Analysen und Berechnungen einzuordnen und Risiken zu kalkulieren, heftig kritisiert. Häufig stellen sie die Berechenbarkeit langfristiger Schäden in Frage und halten Analysen daher für irrelevant. Stattdessen setzen sie auf Imagination, Intuition sowie auf das Dramatisieren von Konsequenzen und das Schüren von Ängsten, um ihren Zielen und Ansichten Nachdruck zu verleihen.
Die reflexartige Überbetonung von nicht abschätzbaren Spätfolgen geschieht in der «Vorsorgekultur» nahezu automatisch. Ohne genau zu wissen, was passiert ist, agiert die Gesellschaft wie das Kaninchen vor der Schlange: sie verfällt in eine Schockstarre, verschliesst die Augen vor der Realität und verfällt in einen panischen Fatalismus. Problematisch ist nicht nur die darin zum Ausdruck kommende Passivität angesichts real existierender Herausforderungen. Fast noch gefährlicher ist die Ignoranz gegenüber der Wissenschaft, die dazu beitragen könnte, zwischen gefühlten und realen Gefahren zu unterscheiden, diese besser einzuschätzen und somit die Passivität zu überwinden. Dieser einzigartigen menschlichen Fähigkeit beraubt, reagiert die Gesellschaft kopf- und orientierungslos – was insbesondere in tatsächlich katastrophalen Situationen schlimme Konsequenzen haben dürfte – anstatt rational und besonnen.
Die populäre Vorstellung, dass der schlimmste Fall der Normalfall sei, treibt die Menschen in einen emotionalen Dauerzustand der Wehrlosigkeit und Verletzlichkeit gegenüber allen künftigen Bedrohungen. Diese «Katastrophilie» ist gleichzusetzen mit einer Schwächung des menschlichen Selbstbewusstseins auf gesellschaftlicher Ebene. Der wie Mehltau auf der Gesellschaft liegende Kulturpessimismus vernebelt den Blick sowohl auf tatsächliche Bedrohungen als auch auf Lösungen und Auswege. Mehr noch: das kontinuierliche Beschwören des Untergangs wird somit zur eigentlichen Gefahr, da es die Menschen kollektiv zu Opfern erklärt und daran hindert, überlegt und entschlossen zu handeln.