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Die Literatur hat es  längst erahnt
Die «Épouvante» aus Jules Vernes Roman «Maître du monde» aus dem Jahr 1904 ist Flugzeug, Auto und U-Boot in einem. Bild: imago images / KHARBINE-TAPABOR.

Die Literatur hat es
längst erahnt

Die Relation von Möglichkeitsraum und Wahrscheinlichkeitsraum: Weshalb Dichter oft die besseren Prognosen machen.

 

Der britische Schriftsteller Herbert George Wells ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bekannter Autor, dessen Romane, darunter «Die Zeitmaschine» (1895) und «Der Krieg der Welten» (1898), nicht nur in der englischsprachigen Welt gelesen werden. Fünf Jahre nach dem ersten Motorflug der Wrights, also 1908, erscheint sein Roman «Der Luftkrieg» («The War in the Air»). In dem Roman entwirft der Autor das Szenario eines Weltkriegs und verwendet zu Recht diesen Begriff, denn der Krieg wird tatsächlich rund um den Globus geführt. Im Fokus seines Romans stehen die Luftstreitkräfte der Gegner, die sich Luftkämpfe liefern und Städte bombardieren. Die deutsche Luftwaffe, der Luftschiffe und Flugzeuge zur Verfügung stehen, greift sogar New York an, stellt doch die Überquerung des Atlantiks keine Herausforderung dar.

Eine Antwort auf diese Horrorvision folgt prompt, und zwar aus profundem Munde. Wilbur Wright höchstpersönlich äussert sich 1909 unmissverständlich gegenüber der Presse: «Kein Luftschiff wird jemals von New York nach Paris fliegen. Das scheint mir unmöglich zu sein.» Auch der Möglichkeit, Bomben und Waffen tragen zu können, erteilt er eine Absage: «Das Luftschiff wird immer ein besonderer Bote sein, niemals ein Lastschiff.»

Damit scheint das Horrorszenario vom Tisch zu sein, denn Wright ist ein sogenannter involvierter Experte, also jemand, der unmittelbar in einen Inventions- oder Innovationsprozess involviert oder als Wissenschafter an entsprechenden Forschungsprojekten beteiligt ist. Als solcher geniesst der involvierte Experte in der Öffentlichkeit einen grossen Vertrauensbonus, den Wells als Autor fantastischer Literatur nicht für sich in Anspruch nehmen kann. Wright ist ein anerkannter Experte, Wells ein literarischer Fantast.

Und dennoch kommt es nur fünf Jahre nach Erscheinen von Wellsʼ Buch und der Verlautbarung von Wilbur Wright zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Luftkämpfen und Bombardierungen aus der Luft, während die erste Atlantiküberquerung im Nonstopflug am 14. und 15. Juni 1919 durch John Alcock und Arthur W. Brown absolviert wird. Wells ist beim Beginn des Ersten Weltkriegs bereits mit dem nächsten beschäftigt. 1914 erscheint sein Roman «Befreite Welt» («The World Set Free»), in dem er detailliert die Entdeckung der Atomenergie schildert, die schliesslich zum Bau einer neuartigen Superwaffe führt, die Wells «Atomic Bomb» tauft, womit er zum Namensgeber jener Waffe wird, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung. Denn seine neue Horrorvision wird von der Fachwelt komplett ignoriert oder ins Reich der Fantasie verwiesen. Noch 1932 schliesst Albert Einstein jede denkbare Nutzung oder Anwendung von Atomenergie kategorisch aus.

Lediglich dem aus Ungarn stammenden Kernphysiker Leó Szilárd, einem namhaften Mitarbeiter des 1942 initiierten Manhattan-Projekts und Entdecker des Potenzials der kritischen Masse, kommt der Roman 1933 wieder in den Sinn, als er in London über die atomare Kettenreaktion spekuliert: «Dies war, glaube ich, das erste Mal, dass das Konzept der kritischen Masse entwickelt wurde und dass eine Kettenreaktion ernsthaft diskutiert wurde. Da ich wusste, was dies bedeuten würde – und ich wusste es, weil ich H. G. Wells gelesen hatte – ich wollte nicht, dass dieses Patent öffentlich wird.»

«Wir leben in einer Welt, die von Literaten für möglich,

aber vom Gros der Experten für unmöglich gehalten wurde.»

Drohnen, soziale Medien, Elektroautos, Solarenergie

Diese Geschichte ist exemplarisch und wiederholt sich, ob als Tragödie oder als Farce, wie Karl Marx zu wissen glaubte, ist nicht immer leicht zu entscheiden, zumal auch noch die Ideengeschichte oft genug der Geschichte vorauseilt. Die Definition der Erstmaligkeit eines Ereignisses bleibt eine Herausforderung.

So haben etwa Autoren wie Kurd Lasswitz, Carl Grunert oder Friedrich Thieme noch vor dem Ersten Weltkrieg den Cyberspace literarisch ausgelotet, ohne dass das plausible Zu-Ende-Denken medientechnologischer Entwicklung von wissenschaftlicher Seite reflektiert wird. Der englische Autor Edward Morgan Forster schildert in seiner 1909 erschienenen Erzählung «Die Maschine steht still» («The Machine Stops») eine künftige Welt, in der die Erde zur nahezu unbewohnbaren ökologischen Wüste verkommen ist, während die Menschen sich in kleine, weitgehend automatisierte Wohneinheiten zurückgezogen haben, um dort mit «unzähligen Freunden» sozial zu netzwerken. Das Internet wird 1909 ebenso thematisiert wie das Taschentelefon und andere Inventionen späterer Dekaden. Der Nürnberger Autor Ludwig Dexheimer liefert 1930 in seinem Roman «Das Automatenzeitalter» eine noch umfassendere Beschreibung des Internets. Und die Nanotechnologie, inklusive Nanoroboter, «Mikrohomaten» genannt, wird von ihm auch gleich überzeugend in Szene gesetzt.

Die Energieversorgung basiert selbstverständlich auf erneuerbaren Quellen, allen voran die Solarenergie. Aber die ist längst Standard in der neuen Gattung, die seit 1929 Science-Fiction heisst. Im Roman «Im Reiche der Homunkuliden» des Österreichers Rudolf Hawel, 1910 erschienen, erleben Zeitreisende die Versöhnung von Natur und Industrie: «Wir haben ja keine Dampfmaschinen, wozu brauchen wir denn Schlote und Essen, die die Luft verpesten und den Umwohnern tausendfach Krankheit und Verderben bringen?» Dass die Autos elektrisch angetrieben werden, versteht sich von selbst. Aber das ist auch in anderen Romanen wie etwa in Hugo Gersbacks Roman «Ralph 124C 41+» von 1911 der Fall. Längst kämpfen Drohnen, erfunden von Jules und Michel Verne für den Roman «Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac» (1919), auf den imaginären Schlachtfeldern der Literatur und fliegen Raumschiffe zu Mond und Mars.

Und wieder folgen ihnen nur wenige, die als Raketenpioniere alles daransetzten, die literarischen Entwürfe zu realisieren. Das ist hinlänglich bekannt. Doch als die Pioniere die Schwelle zur Realisierung tatsächlich überschreiten, verweisen namhafte Vertreter der Scientific Community das Projekt weiterhin ins Reich der Fantasie. So versichert Sir Harold Spencer Jones, Königlicher Hofastronom in Greenwich, im Wissenschaftsmagazin «New Scientist» vom 10. Oktober 1957 in einem Beitrag unter dem Titel «How Soon to the Moon?», dass trotz des Sputnik-Erfolgs der Sowjetunion weiterführende Pläne als illusorisch zu bezeichnen seien: «Ich bin der Meinung, dass Generationen vergehen werden, bevor der Mensch überhaupt auf dem Mond landet.» Lee De Forest, Erfinder der Audionröhre, schliesst im selben Jahr in einem Interview mit der «Lewiston Morning Tribune» eine bemannte Mondlandung ebenfalls aus: «All das ist ein wilder, Jules Verne würdiger Traum. Ich bin alt genug, um zu sagen, dass eine solche von Menschen gemachte Mondreise ungeachtet aller künftigen wissenschaftlichen Fortschritte niemals stattfinden wird.»

De Forest setzt auf ein seinerzeit allgemein akzeptiertes Argument: Die in den Visionen der Science-Fiction implizierten Prognosen dienen als Beleg ihrer Nichtrealisierbarkeit aufgrund ihrer literarischen Provenienz. Eine bemannte Landung auf dem Mond ist schon allein deshalb unmöglich, weil ein Schriftsteller sie imaginiert hat. Die literarischen Visionen dekuvrieren sich quasi selbst. Mit Science, so die Prämisse dieser Argumentation, hat Science-Fiction nichts zu tun, denn deren Basis ist weiter nichts als «ein wilder Traum», dem bekanntlich keinerlei adäquate wissenschaftliche Methoden zugrunde liegen. Zwei Jahre später, 1959, erscheint C. P. Snows Analyse «Zwei Kulturen» und unterstreicht die Dichotomie der literarischen und der naturwissenschaftlichen Welt.

Die Realität entwickelt sich unabhängig von der Prognose

Die Prognose, und das ist nicht nur die Intention von Jones und De Forest, sondern von grossen Teilen der Scientific Community, soll ein Ressort involvierter Experten, Naturwissenschafter und Mathematiker bleiben. Sie definieren mit ihrem Expertenwissen und der Wahrscheinlichkeitsrechnung den limitierten Wahrscheinlichkeitsraum. Demgegenüber steht der letztendlich unlimitierte Möglichkeitsraum der Literatur, in dem Lukian von Samosata in seinen «Wahren Geschichten» bereits um 150 n.Chr. Menschen auf den Mond schickt.

Doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts triumphiert der Möglichkeitsraum immer öfter über den Wahrscheinlichkeitsraum, nicht nur in bezug auf die Mondlandung. Ob Cyberspace, Robotik, Internet oder Nanotechnologie: Die oft schon betagten Zukunftsbilder aus dem Fundus der Science-Fiction werden nach und nach Realität. Und das trotz einer Vielzahl an Unmöglichkeitsprognosen involvierter Experten und exakt berechneter Wahrscheinlichkeiten, wie zuletzt Joachim Radkau in seinem Buch «Geschichte der Zukunft» so umfassend dargelegt hat. Der Wahrscheinlichkeitsraum produziert reihenweise pro­gnostische Irrtümer, die sogar zum Problem von Ethikkommissionen werden, wie der Philosoph Bernward Gesang darlegt: «Dass man 1974 die Sequenzierung des gesamten menschlichen Genoms noch für unmöglich erklärt hatte, gibt Grund zur Vorsicht gegenüber Prognosen, auch Unmöglichkeitsprognosen. Hinter Schutzwällen der (angeblichen) technischen Unmachbarkeit darf man sich nicht verschanzen, sonst fehlen ethische Massstäbe, sobald uns die Technik ein weiteres Mal vor vollendete Tatsachen stellt. Vielmehr muss offensiv gefragt werden: Was wäre, wenn…?»

Das mitunter verblüffend hohe Irrtumspotenzial hat indes auch objektive Gründe, allen voran die Offenheit der Zukunft, die auch die Mathematik nicht zu überlisten vermag. Die italienische Soziologin Elena Esposito weist 2007 überzeugend nach: «Wahrscheinlichkeiten lassen sich berechnen, man kann auf ihrer Grundlage Prognosen erstellen. Dabei ist jedoch vollkommen klar, dass es sich um reine Fiktionen handelt, denn die zukünftigen Gegenwarten werden nicht mehr oder weniger wahrscheinlich sein, sie werden sich nicht zu 40 oder 75 Prozent verwirklichen, sondern genauso, wie sie sein werden. Die Dinge entwickeln sich völlig unabhängig von allen Prognosen.»

Man kann auch sagen, sie entwickeln sich unabhängig vom limitierten Wahrscheinlichkeitsraum, aus dem Konvergenzen, Emergenzen, Diskontinuitäten und andere Zukunftsfaktoren so gerne ausgeschlossen werden. Genau mit diesen Unwägbarkeiten aber gehen die Literaten geradezu verschwenderisch um, um den Möglichkeitsraum mit opulenten Zukunftsbildern aller Art auszustatten. Gerade weil ihre künstlerische Fantasie das Unwahrscheinliche nicht ausblendet und dafür das Ausdenkbare impliziert, sind uns so viele (wissenschaftlich unmögliche) Zukünfte vertraut, in denen kleine Taschentelefone, Raumflüge, das Internet, soziale Medien, Avatare, Datenklone, ubiquitäre Observationstechnologie, Nanoroboter, Drohnen, Exoplaneten, maschinelle Sprachübersetzung und virtuelle Realitäten längst zum Alltag gehören. Wir leben in einer Welt, die von Literaten für möglich, aber vom Gros der Experten für unmöglich gehalten wurde.

«Ob Cyberspace, Robotik, Internet oder Nanotechnologie:

Die oft schon betagten Zukunftsbilder aus dem Fundus

der Science-Fiction werden nach und nach Realität.»

Wissenschaftliche Publikationen zitieren Science-Fiction

Natürlich waren die beiden Räume nie ganz getrennt, sondern interferierten immer, sonst hätte es keine Raumfahrtpioniere gegeben, die sich Verne anvertraut hätten, oder Atomphysiker, die Wells beherzigt haben. Immer gab es Wechselwirkungsprozesse. Doch war die Interferenz zu Beginn des technischen Zeitalters geringer als heute. Inzwischen taugt der Hinweis auf Science-Fiction nicht mehr, um die Unmöglichkeit einer Realisierung zu untermauern. Im Gegenteil, der Verweis auf Science-Fiction dient heute dazu, das Gegenteil zum Ausdruck zu bringen. Als in den letzten Jahren Technologien entwickelt wurden, die Menschen oder Dinge unsichtbar erscheinen lassen, wie etwa Quantum Stealth, fehlte auch in wissenschaftlichen Publikationen der Hinweis auf Science-Fiction nicht. Es ist möglich, denn das literarische Zukunftsbild existiert ja bereits.

Doch auch für unsere möglichen Zukünfte und die literarische Fantasie hat die zunehmende Interferenz Folgen. So stellt der Ingeborg-Bachmann-Preisträger Peter Glaser die treffende Frage: «Wenn die Gegenwart immer mehr dem ähnelt, was vor noch nicht allzu langer Zeit pure Science-Fiction war – was hält dann die Zukunft noch bereit?» Diese Frage richtet sich nicht nur an die literarische Fantasie, an sie jedoch explizit.

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