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Die liberale Utopie liegt vor  unserer Haustür
Gerhard Schwarz, zvg.

Die liberale Utopie liegt vor
unserer Haustür

Statt von Freiheit jenseits der Staatsgrenzen zu träumen, sollten Liberale ihre eigenen Gesellschaften freier machen. Das genossenschaftliche Staatsverständnis der
Schweiz ist dafür die ideale Basis.

Der Liberalismus hat sich in Opposition zum Feudalismus, zur Herrschaft des Adels und der Kirche, von Kaisern, Königen und Kardinälen, entwickelt. Da diese Schichten den Staat verkörperten, haftet dem Liberalismus oft eine grundsätzliche Staatsfeindlichkeit an. Davon hat er sich bis heute nicht befreit. Nach diesem Verständnis sind Bürger und Staat grundsätzliche Gegensätze: Der Staat unterdrückt, der Bürger wehrt sich und versucht seine Freiheit zu verteidigen. Auf die Spitze getrieben haben dieses Bild Libertäre und Anarchokapitalisten, für die praktisch jede staatliche Tätigkeit ein inakzeptabler Eingriff in die persönliche Freiheit ist. Der logische Schluss daraus ist, dass die Freiheit am besten gesichert ist, wenn sich das Individuum aus den Klauen des Staats befreien und jenseits des staatlichen Einflussbereichs eine neue Gemeinschaft bilden kann, basierend auf rein privaten, freiwilligen Beziehungen.

Staatstätigkeit ist Bürgertätigkeit

Der Liberalismus nach schweizerischem Verständnis basiert auf einem anderen Gedanken: dem Staat als Genossenschaft. In diesem Verständnis sind Bürger und Staat nicht unvereinbare Gegensätze. Vielmehr bildet der Staat einen Zusammenschluss freier Bürgerinnen und Bürger.

Die liberale FDP (beziehungsweise ihre Vorgänger) war von Beginn des Bundesstaates 1848 an staatstragend und versteht sich bis heute so. Der Staat ist in diesem Sinne Ausdruck des gemeinsamen Anpackens von Dingen, die sich nur kollektiv lösen lassen. Ausfluss davon sind das Milizprinzip und das genossenschaftliche Staatsverständnis, das die Schweiz von ihren Nachbarn und fast allen europäischen Staaten unterscheidet. «Der Staat, das sind wir alle», ist hier keine leere Floskel. Tatsächlich nehmen die Bürgerinnen und Bürger viele staatliche Aufgaben wahr, oft in der Freizeit und gegen lausige Bezahlung, und Politiker, die ihr Leben lang nur Politik betreiben, gibt es zum Glück nach wie vor wenige. Vor diesem Hintergrund ist nicht alle Staatstätigkeit des Teufels, sondern nur mehr jene, die über die zwingenden kollektiven Aufgaben hinausgeht.

Leider ist die Tendenz, die Staatstätigkeit stetig auszudehnen und zu erweitern, auch in der Schweiz sehr stark. Dass sie nicht noch ausgeprägter ist, ist allerdings erstaunlich. Es ist nämlich schwieriger, sich gegen Überregulierung und Staatsaufblähung zu stemmen, wenn der Staat nicht als aussenstehend verstanden wird, sondern als Genossenschaft aller Bürgerinnen und Bürger. Die Expansion des Staates erhält dann mehr Akzeptanz und Legitimität. Darin liegt ein Paradox des genossenschaftlichen und direktdemokratischen Staates.

Egalitär und anarchisch

Im basisdemokratischen Genossenschaftsgedanken steckt einerseits etwas Solidarisches und Egalitäres. Alle Wahlberechtigten haben das gleiche Wahl- und Stimmrecht und können nicht, wie in der Aktiengesellschaft, Eigentums- und Stimmrechte dazukaufen. Dementsprechend wird, wer zu sehr herausragt, nicht etwa bewundert, sondern kritisch beobachtet. Andererseits steckt in diesem Staatsverständnis etwas Anarchisches. Man reiht sich nicht in eine von oben diktierte Ordnung ein, sondern will selbst von unten her die Ordnung gestalten und die Verfassung mit Volksentscheiden weiterentwickeln.

«Im basisdemokratischen Genossenschaftsgedanken
steckt etwas Anarchisches.»

Das genossenschaftliche Staatsverständnis ist mit dem republikanischen verwandt, aber nicht deckungsgleich. Im Gegensatz zu letzterem ist es nämlich antielitär. Das Gemeinwohl soll von unten definiert und getragen werden und nicht von einer zwar gewählten, aber sich doch meist aristokratisch-elitär gebärdenden Regierung. Das tönt für alle Länder ausser der Schweiz utopisch, denn überall sonst wurde trotz Aufklärung, Revolutionen und einem in der Regel gewaltsamen Übergang vom Feudalismus zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat dem Obrigkeitsdenken nicht wirklich abgeschworen. Der Staat wird von oben her gedacht und als ein dem breiten Volk überlegener Lenker verstanden. Die Obrigkeitsgläubigkeit gegenüber einem einzelnen, einem Monarchen oder Autokraten, wurde ersetzt durch die Obrigkeitsgläubigkeit gegenüber dem Staat als Ganzem.

Gemäss dem Grundsatz der Subsidiarität müsste man möglichst viel Freiheit und Verantwortung bei den Individuen und den unteren Staatsebenen belassen. Dass das in der Schweiz eher der Fall ist als in Deutschland oder Frankreich, hat mit dem anderen Staatsverständnis zu tun.

Aus dem Genossenschaftsgedanken folgt ein Verständnis der Freiheit und des Liberalismus, das den radikal-liberalen Tendenzen, die aus den USA nach Europa überschwappen, entgegenläuft. Gemäss ihnen bedroht schon die Existenz eines Staates die Freiheit der Individuen. Wenn der Staat aber eine Genossenschaft ist, spricht nichts dagegen, dass er neben Familie, Freunden und Nachbarn mitträgt, was einzelne nicht bewältigen können. Es ist nicht Hilfe von oben, sondern von denen, die mit einem leben, ähnliche Herausforderungen erleben und daher Staaten bilden, in die man als Kind durch die Eltern hin­eingeboren wird. In diesem Sinne sind die verschiedenen staatlichen Ebenen gedanklich freiwillige Verträge auf Gegenseitigkeit, weshalb der obligatorische Charakter der Hilfe oder des Milizdienstes nicht im Widerspruch zur Freiheit steht. Einzig dass im Staat aus Gründen der Praktikabilität dem in Genossenschaften eigentlich verlangten Einstimmigkeitserfordernis nicht nachgekommen werden kann, trübt das freiheitliche Bild etwas.

Der genossenschaftliche, von unten her gebildete Staat versteht sich nicht als Institution, die individuelle Freiheitsrechte verleiht. Es ist umgekehrt: Bürgerinnen und Bürger bilden kraft ihrer naturrechtlichen individuellen Freiheit gemeinsam den Staat. Der als typisch schweizerisch geltende Schutz der finanziellen Privatsphäre gegenüber dem Staat entspringt diesem Staatsverständnis. Noch klarer kommt der von unten nach oben gedachte Staat in der Art der Einbürgerung zum Ausdruck. Man wird Staatsbürger, indem man das Gemeindebürgerrecht erwirbt, und dieses wird zumal in kleineren Gemeinden oft durch die Gemeindeversammlung verliehen. Sie entscheidet, ob jemand in die «Genossenschaft» aufgenommen werden soll oder nicht. Der Zugang zum Bürgerrecht ist also nicht einfach ein rechtsstaatliches Prozedere, sondern ein Entscheid des aufnehmenden «Klubs». Die Pro­bleme, die damit verbunden sind, lassen sich vermutlich lösen, ohne den Klubgedanken und das Recht der Bürgerschaft, über die Aufnahme neuer Mitbürger zu entscheiden, in Frage zu stellen.

Das genossenschaftliche Prinzip findet Niederschlag auf allen Ebenen des Staates. Aus ihm lassen sich die staatspolitischen Eigenheiten, die man mit der Schweiz in Verbindung bringt, ableiten, die direkte Demokratie, die Gemeindeautonomie, der Föderalismus, die Tendenz zur Konkordanz und besonders das Milizprinzip. Es besagt, dass der Beitrag jedes einzelnen an den Staat nicht nur in Steuern bestehen sollte, sondern auch in Arbeitsleistung (im Militär, in der Politik, in der Schule, in der Justiz). So entsteht ein Staat, der nicht über den Menschen steht, sondern von ihnen gebildet wird.

Walliser Vorbild

Statt von staatenlosen Utopien zu träumen, sollten Liberale ihre Energie lieber darauf verwenden, die bestehenden Staaten zu verbessern und die Freiheit in ihren Gesellschaften zu fördern. Das genossenschaftliche Staatsverständnis kann dabei als Leitstern dienen. Elinor Ostrom, die erste Frau, die den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, setzte vor über dreissig Jahren mit ihrer Fallstudie über das Walliser Dorf Törbel dem genossenschaftlichen Zusammenstehen in Form von Korporationen, die ihrerseits das Staatsverständnis in der Schweiz geprägt haben, ein weltweit beachtetes wissenschaftliches Denkmal. Vielleicht wird eines Tages der genossenschaftliche Staat nicht nur in der Schweiz als ein Staat erkannt, der auf liberale Weise kollektive Aufgaben mit Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Selbstverantwortung in Einklang bringt.

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