«die Kunst, mit den Dingen zu verschmelzen»
Wie kann Lyrik zeitgeschichtliche Diagnose sein, ohne platt zu erscheinen? Wie kann sie als Erlebnislyrik authentisch wirken, ohne epigonal zu klingen? Und wie kann sie ihre Vorbilder dennoch würdigen? Dieses Kunststück, nämlich Zeitgeistanalyse, Erinnerungsarbeit und (literarische) Traditionsaneignung zu verschränken, gelingt dem Bieler und Wahlberliner Armin Senser mit seinem dritten Gedichtband «Kalte Kriege» in beeindruckender Weise. […]
Wie kann Lyrik zeitgeschichtliche Diagnose sein, ohne platt
zu erscheinen? Wie kann sie als Erlebnislyrik authentisch
wirken, ohne epigonal zu klingen? Und wie kann sie ihre
Vorbilder dennoch würdigen? Dieses Kunststück, nämlich
Zeitgeistanalyse, Erinnerungsarbeit und (literarische) Traditionsaneignung zu verschränken, gelingt dem Bieler und
Wahlberliner Armin Senser mit seinem dritten Gedichtband
«Kalte Kriege» in beeindruckender Weise. Der Band
beginnt mit einer Vermessung der Jetztzeit, setzt im ersten
Gedicht «Das 21. Jahrhundert» ein mit einer Chronik der
ersten Jahre («das ist keine Komödie, sondern ihr Anfang»)
des neuen Jahrtausends. Zusammengehalten durch Zeitangaben,
versuchen die Verse, in den Bereich des Politischen
einzudringen; etwa wenn im Gedicht «10. Dezember 2003»
die Wahl Christoph Blochers in den Bundesrat kommentiert
oder das Rütli als Tummelfeld des Patriotismus begangen
wird. Deutlich wird Sensers Bemühen, die «Krankheitsbilder
» seiner Zeit zu analysieren, ohne einfach die communis
opinio «nachzusprechen».
Wird die Gegenwart zeitlich über Ereignisse gefasst, so
wird die Vergangenheit des lyrischen Ichs auff allend oft
räumlich ausgemessen. Dies kann sowohl als Erinnerungs-
arbeit gegenüber Verwandten («Deutschland: meiner Mutter
») als auch als Liebeserklärung an Städte wie Biel («rot tikkende
Stadt»), Bern («deine auf Eis gelegte Stadt») oder Berlin
erfolgen. In Sensers Gedichten geht es um Erinnerung. Aber
immer nur indirekt über den Weg der Distanzierung, die
eine Ordnung der Dinge erst möglich macht («Das Leben,
dem man rückwärts nachgeht, liegt grob / gesagt nicht hinter
einem, sondern schiebt / sich genau vor das Objekt, das man
liebt»). Damit wird aber die aporetische Struktur des Erinnerns
selbst off en gelegt («In der Vergangenheit, da endet die
Chance, / das Schicksal») – übrig bleibt vom Vergangenen
bloss ein «Echo», die Dichtung.
Die literarische Topologie bildet das dritte Netz von
Verweisen, das Senser um sich ausbreitet. Ihr kommt die
Funktion zu, Zeiten und Räume zu überbrücken, den
Kosmos der Erinnerung und die Welt der Politik kurzzuschliessen.
Sie reicht von einer Hommage an Dürrenmatt,
die Verehrung und Ablösung zugleich markiert, zu Ernst
Jandl und führt zurück zu Robert Walsers Biel. Nur die
Liebesgedichte (oder besser: Abschiedsgedichte?) – die
wie Intermezzi die Erkundungen des Zeitgeists und des
Orts des lyrischen Ichs im Raum unterbrechen – scheinen
zeit- und ortlos. In ihnen fallen individuelle Vergangenheit
und geschichtliche Zukunft für einen Augenblick zusammen.
Den Band beschliesst ein brillanter, längerer Gedichtzyklus,
der – kühn als «Ars Poetica» betitelt – Horaz direkt um
Stimme und Stoff anfl eht. In stupender Weise verdichten
sich hier die Refl exion persönlicher Krisensituationen, der
Angst vor dem literarischen Versagen und der Kontingenz
der Welt zu den allgemeinen (Sinn-)Fragen, was Lyrik für
ein denkendes Ich und was der Lyriker für eine unzugängliche
Welt auszurichten vermag («Denn das Leben wie das
Schreiben sind nur ein Beweis / der Leere, eine auf der Oberfl
äche aufgespülte Realität»). Zugleich off enbart der Zyklus
auch Sensers Poetologie, die für die Dichter vorsieht, «nur
Seismographen» zu sein, und in der Maxime gipfelt, «die
Kunst mit den Dingen zu verschmelzen».
Es sind vor allem die variierenden Wiederholungen einzelner
Versteile, durch die Senser die Bedeutungen der Worte
performativ erschliesst. So ernst die Th emen sind, denen
sich die Gedichte widmen, so wird dieser Ernst doch immer
wieder durchbrochen durch eine formale Verknappung zur
Lakonie und durch (Sprach-)Witz, erreicht mittels Verstössen
gegen Reim- und Versschemata . Ebenso unvergesslich
wie Sensers «Kanut» prägen sich Verse ein wie: «Aber bevor
die Stille wirklich schlapp / macht, bricht der Absatz ab.»
besprochen von Lucas Marco Gisi, Zürich
Armin Senser: «Kalte Kriege. Gedichte». München: Hanser, 2007.