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Stefan Sonderegger, zvg.
Stefan Sonderegger, zvg.

Die Kuh macht satt – und stolz

Bereits im Mittelalter war die Viehwirtschaft für die Schweiz unverzichtbar. Sie prägte das Land auch kulturell.

 

Wird die Geschichte der Ernährung kurz zusammengefasst, dann ist das Narrativ in der Regel das folgende: In der Frühzeit dominierte die Kultur der Jäger und Sammler, deren Hauptnahrung aus Fleisch bestand. Im Laufe der Zeit wurden die Menschen sesshaft und bebauten Äcker, ihre Hauptnahrung bestand aus Getreide. In den Grundzügen stimmt diese Erzählung. Es darf aber nicht vergessen werden, dass der Ackerbau bis ins 19. Jahrhundert auf die Viehwirtschaft angewiesen war. Folglich gehörten Käse, Butter und Fleisch zusammen mit Brot und Getreidebrei zu den Grundnahrungsmitteln.

Labile Versorgung

In der Viehwirtschaft und im Fleischkonsum spiegeln sich sowohl wirtschaftliche, demografische als auch kulturelle Entwicklungen. Fleisch und Milchprodukte gehören seit Jahrhunderten zur Grundversorgung der Schweiz. Das wichtigste Lebensmittel Getreide musste bereits im Mittelalter aus benachbarten Ländern, insbesondere aus Süddeutschland, importiert werden. Ganz anders waren die Verhältnisse in der Viehwirtschaft: Die alpinen und voralpinen Regionen der Schweiz waren in der Lage, zusätzlich zur Eigenversorgung Überschüsse für den Handel nach Deutschland und über die Alpen in die Lombardei zu vertreiben.

Die Nahrungsversorgung in der Schweiz war aber insgesamt – wie andernorts auch – labil. Die mittelalterliche Bevölkerung Mitteleuropas lebte bis in die Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert an der Schwelle von Sättigung zu Hunger. Erträge im Getreidebau von durchschnittlich drei bis sechs geernteten Körnern für ein gesätes Korn waren der Normalfall; heute liegt das Verhältnis bei 1 zu 40 und darüber. Zudem liessen früher lange Schneedauer, nasse Sommer und Hagel die Ernten regelmässig ausfallen. Importe aus benachbarten Regionen waren in solchen Situationen kaum möglich, da sich diese selber versorgen mussten. Was es heisst, von globalen Getreideimporten abhängig zu sein, zeigt Russlands Blockade des Exports von ukrainischem Getreide; viele Menschen sind dadurch vom Hungertod bedroht.

Doch auch bei kleinräumigen regionalen Handelsbeziehungen wie im Mittelalter drohte Hunger. Die letzten grossen Hungersnöte sind in den 1770er-Jahren und in den Jahren 1816/17 überliefert, als schlechtes Wetter Ernten ausfallen liess und Kornimportsperren verhängt wurden. In der Not schlachteten viele Menschen ihr Vieh, womit sie sich selber die letzten Überlebensgrundlagen wegnahmen. Denn ohne Kühe, Ochsen, Schafe und Ziegen fehlten ihnen nicht nur die Milch, die Butter und der Käse, sondern auch der Dünger für den Acker- und Weinbau. Viehjauche und Mist, wovon wir heute zu viel auf den Wiesen (und in der Nase) haben, waren im Mittelalter Mangelware und nicht durch Kunstdünger zu ersetzen wie heute. Zudem diente das Grossvieh dem Ziehen der Ackerpflüge.

Diese Verkettung der Viehwirtschaft mit anderen landwirtschaftlichen Bereichen ist ein grundlegender Unterschied zwischen der Zeit vor und nach der Indus­trialisierung. Man kann das als beschränkte Tragfähigkeit bezeichnen: Die Bevölkerungsentwicklung war bis Anfang des 19. Jahrhunderts gekoppelt an die regionale Landwirtschaft; eine ertragsmässig schwache Landwirtschaft limitierte das Bevölkerungswachstum. Diese Grenze wurde in der Schweiz erst mit der industriellen Landwirtschaft – und damit dem Einsatz von Kunstdünger und mit Stallhaltung – durchbrochen.

Viel Land – viel Fleisch

So zynisch es tönt: Pestepidemien wie jene von 1349/50, welcher in Europa ein Drittel der Bevölkerung erlag, verliehen der Viehhaltung und dem Fleischkonsum Auftrieb. Land, das vorher für den Getreidebau gebraucht worden war, wurde frei für extensive Viehhaltung. Das hatte direkte Auswirkungen auf die Ernährungsgewohnheiten, indem durch die Zunahme der Viehhaltung auch der Fleischkonsum stieg. Schätzungen gehen in tendenziell bevölkerungsschwachen Perio­den des Mittelalters von einem jährlichen Pro-Kopf-Fleischverzehr von 100 Kilogramm aus. Zum Vergleich: 2022 waren es in der Schweiz 51 Kilogramm pro Person. In der frühen Neuzeit und parallel zur Bevöl­kerungszunahme seit dem 16. Jahrhundert ging der Konsum auf 14 bis 25 Kilogramm pro Kopf und Jahr zurück. Die Erklärung hierfür liegt auf der Hand: Durch die Bevölkerungszunahme stieg der Druck auf die Landwirtschaft, die Menschen mit dem wichtigsten Grundnahrungsmittel Getreide zu versorgen. Dadurch wurden wieder mehr Böden für den Ackerbau und nicht mehr für die Viehwirtschaft genutzt. Folglich sank das Angebot auf der Fleischseite.

Den grössten Anteil am konsumierten Fleisch bildeten im Mittelalter Schweine- und Rindfleisch. Kleintiere – im wesentlichen Geflügel – machten gemäss Auswertungen von Knochenfunden nur etwa fünf Prozent aus. Gemäss den bei Ausgrabungen gefundenen Knochen wogen Rinder, Schweine und Schafe durchschnittlich nur die Hälfte heutiger Tiere. Eine Kuh hatte im Mittelalter ein Lebendgewicht von 200 bis 250 Kilogramm, was im Vergleich mit heutigen Tieren etwa einem Drittel entspricht. Aktuell beträgt die Fleischausbeute beim Grossvieh 56 Prozent, das heisst bis gegen 400 Kilogramm. Dies ist das Vierfache einer mittelalterlichen Kuh mit 80 bis 100 Kilogramm.1 Noch krasser sind die Unterschiede in der Milchleistung: Mittelalterliche Kühe lieferten jährlich 250 bis höchstens 700 Liter; im Winter standen sie oft trocken mangels ausreichender Fütterung. Heute liegt die jährliche Milchleistung einer Kuh in der Schweiz bei ungefähr 7000 Litern.

Die schönste Kuh im Land

Im 19. Jahrhundert setzten in der Schweiz konsequente Zuchtbestrebungen ein. Damit verbunden war die Einführung von Viehschauen, an denen man noch heute die schönsten Kühe prämiert.2 Schöne Rinder wurden unter anderem für internationale Ausstellungen, beispielsweise in Paris, gezüchtet. Ein Tierarzt aus Gais in Appenzell Ausserrhoden referierte 1833 darüber, wie ein schöner Stier oder eine schöne Kuh auszusehen hatte. Das liest sich wie eine Castingausschreibung: «Der Zuchtochs muss von dem schönsten, grössten, durchaus gesunden Rindviehschlag abstammen, dabei selbst gesund, munter schön und gehörig gross sein. Der Kopf muss kurz und dick, das Maul stumpf, dick, zusammengeschoben aussehen; die Nasenlöcher sollen gross und weit und die Zähne, welche in guter Ordnung stehen müssen, lang und weiss sein; die Haare auf dem obern Theile des Kopfes müssen zwar lang sein, aber gekräuselt aussehen. Lange, gutbehangene Ohren und grosse, helle, lebhafte Augen von frechem Aussehen, deren Hornhaut ohne Flecken ist, schätzt man an einem Zuchtstier, jedoch darf der Blick nicht wild oder furchterregend sein.» Diese propagierten Standards führten schliesslich dazu, dass es offiziell nur noch zwei Viehschläge gab: das Braunvieh und das Fleckvieh. Beim Braunvieh wurde streng auf die einheitliche Farbe geachtet. Heute stellt man eine erfreuliche Lockerung fest, die Viehweiden sind wieder bunter.

Conrad Starck, Eimerbödeli 1821, Öl auf Holz, ­Eigentum der Stiftung für appenzellische Volkskunde.

Das 19. Jahrhundert war auch die Blütezeit der kulturellen Darstellung der Kuh. In der Gruyère sind es die Poyas und im Appenzellerland sowie im Toggenburg die Sennenstreifen, welche an den Stallfassaden den wichtigsten Termin der Viehwirtschaft, nämlich die Alpauffahrt, darstellen. Diese Form der bis heute gepflegten Bauernmalerei zeigt in der Appenzeller Version den ganzen Stolz der Viehbesitzer: In einer Reihe hintereinander ist die ganze Herde abgebildet, von den drei Schellenkühen mit den Sennen vorne bis zum treibenden Bläss am Schwanz des Zuges. Vom Sennenstolz zeugen auch die sogenannten Eimerbödeli. Diese runden bemalten Brettchen befinden sich am Boden der hölzernen Melkeimer, die von den in feierlicher Tracht zur Alp fahrenden Sennen über der Schulter getragen werden. Auf der Alp angekommen, werden sie ab­genommen und zur Zierde aufgehängt. Sie sind das eigentliche Markenzeichen eines selbstbewussten Berufsstandes, der seinen Unterhalt mit der Pflege des Grossviehs bestreitet. Die hohe gesellschaftliche und wirtschaftliche Wertschätzung bringt das abgebildete Appenzeller Eimerbödeli aus dem Jahr 1821 treffend zum Ausdruck: «Die Kuh ist freilich nur ein Thier, allein wie nützlich ist sie dir.» Schöner kann man die Achtung gegenüber diesem Tier, das uns mit Fleisch und Milchprodukten versorgt, nicht ausdrücken.

  1. Angaben aus Sebastian Steinbach: Einführung in die Wirtschafts­geschichte. Band 3: Mittelalter. Stuttgart: Kohlhammer, 2021.

  2. Matthias Weishaupt: «Viehveredelung» und «Rassenzucht». Die ­Anfänge der appenzellischen Viehschauen im 19. Jahrhundert. In: Mäddel Fuchs, Appenzeller Viehschauen. St. Gallen, 1998.

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