Die Kryptonation Schweiz im Jahr 2050
Emilia Müller ist 32 Jahre alt. Geboren wurde sie an jenem Tag, an dem der Skandal rund um die auf unzulässige Weise mit der Firma Cambridge Analytica geteilten Facebook-Daten öffentlich bekannt wurde. In den Jahren von Emilias Kindheit haben sich die Probleme mit zentralen Datenbanken gehäuft: Immer wieder kam es zu Lücken, die den Abfluss und den Missbrauch von Daten ermöglicht haben. Zentralisierte, den Markt dominierende Plattformen wie Facebook wurden zu regelrechten Honigtöpfen für Hacker; aufgrund der Masse an wertvollen Nutzerdaten und der zentralen Angreifbarkeit stellten sie ein äusserst verlockendes Angriffsziel dar. Die Zunahme solcher und ähnlicher Zwischenfälle führte zu einer grundlegenden Skepsis in der Bevölkerung. So wurde die Digi-Dezentralität zu einem grossen Thema auf der politischen Agenda und zur höchsten Priorität in den Bereichen Datenschutz und Kartellrecht.
Erste dezentrale Datenbanksysteme wurden rund zehn Jahre vor Emilias Geburt entwickelt. Ihre Eltern erzählen noch heute Geschichten aus der Wildwestzeit der ersten Kryptofinanzierungen und der Entstehungsgeschichte der Bitcoin-Blockchain. Volles Potenzial erreichte die Technologie aber erst in Emilias Teenagerjahren. Heute sind die meisten Register, zum Beispiel die Grundbuch- und Aktienregister, auf dezentralen Datenbanken abgelegt. Käufe und Verkäufe tätigt Emilia mittels ihrer digitalen Identität, die durch ihr Netzwerk beglaubigt und durch eine dezentrale Datenbank gesichert wird. Die Daten sind zwar über Referenzen durch das Netzwerk gesichert, Emilia behält aber stets die volle Kontrolle und kann selbst entscheiden, wem sie welche Informationen preisgibt.
In den kleinen Dingen des Alltags sind die Veränderungen durch die Blockchain am deutlichsten zu spüren. Zahlungen beispielsweise werden nicht mehr am Ende einer Abrechnungsperiode fällig, sondern können in fast beliebig kleinen Zeitintervallen über vernetzte Zahlungskanäle verrechnet werden. So erhält Emilia ihren Lohn in Form von Mikrotransaktionen, die ihr jede Minute auf ihr Wallet, also ihr digitales Portemonnaie, überwiesen werden. Analog dazu werden Zahlungen für Strom, Wasser oder auch die Versicherung ebenfalls quasikontinuierlich ausgelöst. Mit ihrer kleinen Photovoltaikanlage kann Emilia Strom über einen Peer-to-Peer-Markt frei veräussern. Speist ihre Anlage Strom ins Netz ein, erhält sie unmittelbar Gutschriften in Form von Mikrotransaktionen. Sie hat dadurch stets den vollen Überblick über ihre Finanzen und kann so zusehen, wie sich die Zahl im Verlauf des Tages entweder nach oben oder unten bewegt. Transaktionen, die erst nach mehreren Tagen verbucht werden, kennt Emilia nur aus Erzählungen ihrer Eltern.
Am Arbeitsplatz
Nach ihrem Studium in Wirtschaftstechnologie hat Emilia vor ein paar Jahren eine Stelle als Audit-Datenanalystin angetreten. Sie ist dafür zuständig, die Algorithmen zu überwachen, welche die finanzielle Gesundheit von Firmen beurteilen. Die Automatisierung von Prozessen durch die Blockchain-Technologien hat zwar nicht zum lange befürchteten grossflächigen Stellenabbau geführt, jedoch aber die Jobprofile in vielen Industrien auf den Kopf gestellt. Nach grossen politischen Diskussionen wurde im Schweizer Schulsystem deshalb auch der Frühunterricht der zweiten Landessprache durch Frühprogrammieren abgelöst. Die Kinder beginnen bereits in der Primarschule mit dem Coden und lösen in spielerischer Form einfache Logikaufgaben. Welche Programmiersprache gelehrt wird, unterscheidet sich kantonal.
Als Mitarbeiterin einer Revisionsgesellschaft kommt Emilia ihre fundierte Ausbildung in wirtschaftlichen und technologischen Aspekten tagtäglich zugute. Traditionelle, stichtagsbezogene Rechnungslegungen wurden durch Buchhaltungsprozesse in Echtzeit abgelöst: Schnittstellen zwischen Firmen, Finanzinstituten und Behörden erlauben automatische Verbuchungsprozesse. Intelligente Vertragsprotokolle stellen die Übereinstimmung mit Rechnungslegungsvorschriften sicher. Sämtliche relevanten Dokumente werden kryptografisch signiert und über sogenannte Hashwerte auf einer Blockchain gesichert. Über diese digitalen Fingerabdrücke kann Emilia Manipulationsversuche problemlos aufdecken. Während ihre älteren Kollegen noch vom Einsatz von Stichproben bei den Überprüfungen im Revisionsprozess erzählen, erlaubt die heutige Technologie eine vollständige Validierung der gesamten Rechnungslegung grosser Firmen. Geschäftsberichte konnten dadurch von Fehlern befreit und betrügerische Aktivitäten weiter eingedämmt werden.
Diese auf der Blockchain basierenden Revisionssysteme geben stets aktuelle und inhärent vertrauenswürdige Daten zur finanziellen Gesundheit der Firmen aus. Emilia ist dafür zuständig, die vielen Schnittstellen zu parametrieren und mögliche Fehler in Prozessen der Software zur Interpretation aufzudecken. Zudem überprüfen Emilia und ihre Kollegen die Unternehmen und dezentralen Organisationen, welche als sogenannte Oracles agieren und Daten verschiedenster Art zur Verfügung stellen. Diese Kontrolle ist wichtig, da die Daten wiederum als Grundlage für die Ausführung vieler Applikationen und automatisierter Kontrakte dienen. Die Notwendigkeit, diese exponentiell wachsenden Datenmengen zu verarbeiten, hat in den vergangenen Jahren eine grosse Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften ausgelöst und war massgeblich für das Wirtschaftswachstum mitverantwortlich. Das grösste Wachstum liegt im Bereich der Cybersicherheit. In diesem Bereich haben Unternehmen aus fast allen Bereichen massiv nachgerüstet. Es sind schweizweit Zehntausende neue Arbeitsplätze entstanden.
Die Finanzwelt: Alter Wein in neuen Schläuchen
Emilia hat früh begonnen, einen Teil ihrer Mikrolohntransaktionen als Sparanteil zu klassifizieren, und verfügt nach ihrer mehrjährigen Arbeitstätigkeit nun über ein kleines Vermögen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, dieses möglichst diversifiziert anzulegen. Die alte Aufteilung in traditionelle und kryptographisch gesicherte Finanzinstrumente hat Emilia jedoch nicht mehr kennengelernt. Schon seit einiger Zeit werden alle Finanzanlagen Blockchain-basiert emittiert und ausschliesslich digital und dezentralisiert aufbewahrt sowie verwaltet. Nach mehreren Hackerangriffen auf zentrale Depotbankinstitutionen haben die meisten Regulatoren aus sicherheitstechnischen Überlegungen alle traditionellen, komplett zentralisierten Verwahrungsformen verboten. Die heute vorherrschende dezentrale Aufbewahrungs- und Verwaltungslösung ist aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Banken in Zusammenarbeit mit Nichtbankeninstitutionen entstanden. Die meisten Kunden lagern ihr Guthaben über sogenannte Multisig-Kontrakte.
Während sich in bezug auf die technologische Abbildung von Finanzanlagen viel verändert hat, ist der Ansatz zum Diversifizieren eines Portfolios gleich wie im Jahr 1950: Emilia diversifiziert ihre Finanzanlagen, indem sie in verschiedene Anlageklassen investiert. Einige Anlageklassen geben dabei einen rechtlichen Eigentums- und somit Gewinnanspruch, andere Anlagen wiederum geben einen Anspruch auf einen fixierten regelmässigen Zahlungsstrom oder auf die Benützung einer Dienstleistung. Schliesslich diversifiziert Emilia auch in verschiedene Währungen. In ihrem Portfolio befinden sich digitalisierte staatliche Währungen wie CHF und USD, sie hält aber stets auch einen kleinen Teil ihres Vermögens in Kryptowährungen, welche heute oft auch als digitales Gold bezeichnet werden. Diese dienen Emilia nicht nur als Notgroschen und Diversifikationsinstrument,sondern können aufgrund der einfachen Transferierbarkeit teilweise auch als Zahlungsmittel eingesetzt werden.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten wurde der Zugang zumFinanzmarkt stark vereinfacht, sicherer ausgestaltet und für ein breiteres Publikum geöffnet. Emilia hat heute viele Instrumente zur Verfügung, die ihr erlauben, bereits mit einem kleinen Vermögen an aufstrebenden Firmen und Projekten sicher zu partizipieren. Als Kunstliebhaberin ist Emilia jedoch insbesondere stolz darauf, ein Bild von Salvador Dalí mitzubesitzen. Als das Bild vor kurzem tokenisiert und in kleinen Anteilen über ein dezentralisiertes Bieterverfahren veräussert wurde, konnte sie zur Anteilseignerin werden.
Virtual-Reality-Etablissements in dunklen Gassen
Feierabend. Emilia nimmt sich eines der vielen selbstfahrenden Taxis, die ebenfalls im Sekundentakt bezahlt werden. Ein eigenes Auto hat Emilia nicht, dafür aber Anteile an verschiedenen Fahrzeugen, welche ihren Ertrag anteilig an Emilia ausbezahlen. Der Verkehr läuft flüssig. Immer wieder wirft sie einen hastigen Blick in die Seitengassen mit dubiosen Virtual-Reality-Etablissements, die trotz des massiven Drucks der Politik nicht geschlossen werden. Kommt es trotzdem einmal zu einer Schliessung, tauchen in einer anderen Gasse zwei neue Lokalitäten auf. Die Eigentümer sind meist kaum auffindbar und die Vertriebs- und Zahlungskanäle komplett dezentralisiert. Bei einigen rein virtuellen Dienstleistungen ist gar unklar, ob überhaupt ein menschlicher Eigentümer dahintersteht oder ob es sich um eine autonome Applikation auf der Blockchain handelt, die nicht oder nicht mehr unter menschlicher Kontrolle ist. Ohne den technologischen Fortschritt, so klagen einige Politiker gerne, würden diese Auswüchse nicht existieren.
Lidia Bolla
ist Mitgründerin und CEO von vision&, einem auf Blockchain-Assets spezialisierten Vermögensverwalter.
Fabian Schär
ist Geschäftsleiter des Center for Innovative Finance
der Universität Basel.