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Die Kraft der Narrative
Thomas Sevcik, zvg.

Die Kraft der Narrative

Je mehr Echtzeitinformationen unsere Aufmerksamkeit ergreifen, umso weniger lässt sich der Siegeszug von strategisch konstruierten Geschichten aufhalten.

 

In den Zeiten grosser Nationalmythen im 19. Jahrhundert wurde munter Geschichte erfunden. In der Folge gibt es kaum einen Nationalstaat, der nicht auf einer Fake-Geschichte aufgebaut ist. Und noch viel mehr: Die Völkerwanderung fand nicht so statt, wie es einzelne Staaten oder Volksgruppen gerne hätten; der Rütlischwur von 1291 fand nicht so statt, wie wir es in der Schule ­gelernt haben; das Risorgimento Italiens war nicht genau so, wie es Rom heute erzählt, und Titos Jugoslawien fusste auf einer ­Fiktion statt auf historischen Fakten. Was natürlich viele Staaten der neusten Staatsgründungswelle in den 1990er Jahren von (Nord-)Mazedonien bis Kasachstan nicht daran hinderte, ebenfalls Fake-Elemente in ihren neuen Nationalmythos einzubauen.

Wenn dann diese Nationalmythen eines Landes zusammenbrechen oder in Einzelteile zerfallen, fordert das Opfer, immer wieder: 3800 waren es im Nordirlandkonflikt und schätzungsweise 150 000 in den Jugoslawienkriegen. Gerade das Beispiel Nordirland zeigt, dass der Kampf von Stories und Mythen auch ein scheinbar stabiles System wie Grossbritannien völlig überfordern kann – was beschämend ist für einen Staat, der gerne anderen sein überlegenes, urliberales Regierungssystem vor Augen führen möchte. Oder vielleicht ist «Great Britain» eben auch nur Fiktion, zumindest in Teilen. Im Moment noch ohne Tote wird der neuste Mythenkonflikt geführt zur Frage, wie genau die Vereinigten Staaten entstanden. Zwei codierte Erzählungen stehen für eine hitzig geführte Debatte, die durchaus zu einem kalten Bürgerkrieg führen könnte: 1776 gegen 1691. Die Leserin beziehungsweise der Leser möge sich dazu selber informieren.

Staaten und Unternehmen erfinden Realitäten

Doch nicht nur Staaten erfinden Realitäten, auch die Wirtschaft ist sehr gut darin. Unlängst hat US-Ökonom Robert Shiller dazu die erhellende Theorie der «Narrative Economics» entwickelt. Narrative, schreibt er, seien die eigentlichen Treiber von allem Wirtschaftlichen – von Börsenkursen bis zu ökonomischem Handeln. Insbesondere die neuen Superfirmen der US-Westküste nutzen Narrative strategisch und nicht wie die meisten traditionellen Unternehmen nur taktisch. Ihre Börsenbewertungen sind zu einem grossen Teil auf einer Geschichte aufgebaut, die so in der Zukunft stattfinden könnte. Ob diese Zukunft so eintreten wird, weiss natürlich niemand. Viele der kalifornischen Tech-Firmen bedienen sich dabei Metanarrativen, die bereits in den 1960er Jahren von der lokalen utopistisch-libertären Hippiecommunity entwickelt wurden. Es wird dabei erzählt von einer technopositiven Zukunft, von grosser individueller und spiritueller Freiheit, von Selbstorganisation, von wenig staatlichen Eingriffen, von Leichtigkeit, Bewusstseinserweiterung und viel Gemeinschaft. Von dort bis zur Apple- oder Facebook-Story war es dann nicht mehr weit. Ob diese neuen Konzerne ihre Ideale mittlerweile verraten haben, müssen andere bewerten.

Bemerkenswert an Shillers «Narrative Economics» ist, dass die Ausbreitung eines (ökonomischen) Narrativs mit der Ausbreitung eines Virus verglichen wird: Ausbruch des Narrativs, exponentielle Zunahme, Höhepunkt, Immunität dagegen und so weiter. So landen wir unweigerlich bei Covid-19. Eine Nebendiskussion gleich nach Auftauchen des Coronavirus drehte sich ja um die Frage, ob dies alles so antizipiert hätte werden können. Von den Nachrichtendiensten bis hin zu Hollywood – man denke etwa an den Film «Contagion» von Steven Soderbergh von 2011 – waren Pandemieszenarien bei vielen auf dem Radar. Auch Superdenker wie Niall Ferguson oder Nassim Nicholas Taleb erzählten allen, dass sie genau dieses vorausgesehen hätten. (In Wahrheit verbreiten sie einfach pausenlos viele unterschiedliche Szenarien, so dass die Eintretenswahrscheinlichkeit ihrer Thesen ansteigt; eine altbekannte Taktik im globalen Narrativbusiness.)

Das Szenario «Lockstep»

In den letzten Monaten tauchten dann auch noch vor einigen Jahren formulierte Szenarien auf, welche die Reaktionen der Staaten und Gemeinschaften fast perfekt vorausgesagt haben. So liest sich das eine Szenario («Lockstep») des damaligen kalifornischen Thinktanks Global Business Network in einer 2010 für die Rockefeller Foundation erstellten Studie (siehe die Seiten 75/76) wie eine Blaupause für die momentane Entwicklung hin zu mehr Überwachung, mehr Staat, mehr Eingriffen in die Privatsphäre. Und das nicht nur in China, sondern auch im Westen. Viele erschauderten. Andere nutzten und nutzen es als Material für ihre Verschwörungstheorien. Doch von der Narrativfront kommt Entwarnung: Szenarien sind nichts anderes als das Ausdenken möglicher Entwicklungen inklusive einer Bewertung ihrer Plausibilität. Wer in der Lage ist, sich Mythen für Staaten, Städte oder Unternehmen auszudenken, kann eben auch einem logischen Pfad folgende Geschichten für die Zukunft formulieren – darunter solche, welche dann manchmal sogar eintreten.

Viel gefährlicher sind Narrative, wenn sie Realität – also Zahlen, Fakten oder Ereignisse – uminterpretieren beziehungsweise diese zu einer alternativen Realität umschreiben. Und dies geschieht gerade in einem nie erreichten Ausmass. Die Postmoderne hat nicht nur den Weg bereitet für den Siegeszug des Relativismus, sondern auch für die Realwerdung von konstruierten Systemen. Die Story an sich – komponiert oder konstruiert (was ein riesiger Unterschied ist) – ist das Produkt. Solange es sich um klassische Überhöhungen in Politik, Marketing, an der Börse oder in den Medien handelt, geht das völlig in Ordnung. Es ist Teil des Spiels, oftmals notwendig und manchmal auch sehr lustig.

Der Westen sollte jedoch nicht glauben, sein auf wissenschaftlich-rationalem Lesen und Gestalten der Welt aufgebautes Denk- und Handlungssystem mit Fiktionen retten zu können. Im Wettbewerb mit China oder dem Islamismus muss die Oberhand mit Fakten und Strategien behalten werden, und nicht mit einer eigenen Metafiktion. Der Erfolg des Westens war es ja gerade, die Fiktionen gemeistert oder gar besiegt zu haben. Mit der Aufklärung wurde der allmächtige Gott getötet, und das Fiktionale konnte in den Bereich der Kultur gebannt werden. Worauf sich eine gigantische Kulturdominanz des Westens in Kunst, Musik oder Film entwickelte. Befreit von staatstragenden Aufgaben wurden Kulturgüter mehr oder weniger industriell hergestellt und somit zu einem Merkmal der Moderne. Literatur und Film, später auch Computerspiele sind zu verlässlichen Früherkennern von Themen, Entwicklungen und Trends geworden – womit sich für clever agierende Strategen ein riesiger Fundus für ernst zu nehmende Szenarien und Narrative auftat.

Nun kommen diese fiktionalen Elemente von Kultur und Religion (in Form von Neoreligionen oder Parareligionen) als Fakten getarnt zurück in den Mainstream. Die Folgen davon sind bereits in Konturen auszumachen: Missliebige Geschichte wird überpinselt. Kernerkenntnisse in Mathematik, Physik oder Medizin werden in Frage gestellt. Moral und Ethik werden von einigen Gruppen als festdefinierter Endzustand dargestellt. Einsame Warner vor dem Sieg der Fiktion oder dem Ende des Sublimen wie der italienische Philosoph Maurizio Ferraris mit seinem «Neorealismo» werden seltener.

Kapitalismus und Freiheit spielen funktioniert nicht

Dieser Zustand ist weder besorgniserregend noch falsch. Deswegen die Postmoderne zu kritisieren oder gar eine Rückbesinnung auf einen scheinbar besseren, vorherigen Zustand zu fordern, ist reaktionär und aussichtslos, ja schlichtweg dumm. Wir müssen einfach lernen, mit strategischen, heute industriell hergestellten Narrativen umzugehen. Solange wir Narrative als das Schmiermittel eines auf rationalen Erkenntnissen aufgebauten Westens handhaben, ist das weiter nicht schlimm. Doch sobald wir fiktionale Elemente zur Rettung des Westens einsetzen, also sozusagen nur «Westen spielen» wollen, sind wir verloren. Denn wir können nicht Kapitalismus spielen. Wir können nur Kapitalismus haben. Wir können nicht Freiheit spielen. Wir können nur Freiheit haben.

Deswegen sollten wir es in der Tat kritisch beobachten, wenn Notenbanken (im politischen Auftrag) eine Art Kapitalismus­simulationsspiel vorbereiten oder ausufernde digitale und physische Überwachungssysteme gegen Pandemien, Terror oder andere Grossrisiken etabliert werden, so wie es im «Lockstep»-Szenario beschrieben wird. Hier lauern Erzählungen, die gefährlich werden könnten, weil sie elementare Module der liberalen Ordnung zu verschieben versuchen. Dazu gehört auch der Versuch, die real existierende Klimathematik zu politisieren, zu moralisieren und mit einem neuen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu verknüpfen. Und auch der Versuch, «Nation» oder «Zivilisation» gegen eine scheinbare «Elitenglobalisierung» in Position zu bringen und von Autarkie, Komplettsouveränität oder nationalisierter Produktion zu träumen. Es sind Fiktionen, die als Narrative zur Weiterentwicklung des Westens nicht taugen.

Die Szenarien des Global Business Networks (GBN) zeigen hingegen, dass ausladende Szenarien, die mehrere Aspekte wie Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur umfassen, genauer zutreffen als Modelle, die nur auf Zahlen basieren. Denn Modellrechnungen bleiben, weil sie von einem Status quo ausgehen, immer nur theoretisch. Wie John Kay und Mervyn King in «Radical Uncertainty» aufzeigen, sollten wir zwar mit Modellen arbeiten, aber nicht blind an Modelle glauben. Ausgearbeitete Szenarien erlauben eine breitere Betrachtung als ausgearbeitete Modelle. Die Pandemiebekämpfung in der Schweiz und anderen Ländern wäre vermutlich erfolgreicher ausgefallen, hätten Wissenschafter und Ökonomen nicht immer stur auf ihre eigenen Modelle verwiesen, sondern gemeinsam mit Drehbuchautoren, Psychologen und Logistikexperten Szenarien entwickelt. Genau das haben Szenarioentwickler wie das GBN gemacht. Und siehe da: Eines der 2010 formulierten Szenarien scheint mehr oder weniger eingetreten zu sein.

Doch bevor man nun Angst bekommt vor der geballten Kraft von Szenarien und Narrativen und vielleicht doch beginnt, die Möglichkeit von Verschwörungen in Betracht zu ziehen, sollte man sich daran erinnern, dass die Firma GBN unterging. Sie wurde 2013 von Monitor Deloitte aufgekauft und eingegliedert. Narrative fressen also irgendwann einmal auch ihre Narratoren.


Unter dem Titel «Scenarios for the Future of Technology and International Development» haben die Rockefeller Foundation und Global Business Network vier Szenarien erarbeitet, wie sich eine mögliche Zukunft bis 2030 entfalten könnte. Das Dokument wurde im Mai 2010 pu­bliziert, ist nun aber auf der Internetseite der  Stiftung nicht mehr verfügbar. Wie ein Blogbeitrag von 2020 ­bestätigt, ist das Dokument aber ohne Zweifel so erschienen: «Wir sehen einige erschreckende Ähnlichkeiten zwischen unserer aktuellen Zoom-zentrierten Welt und dem Lockstep-­Szenario», schrieb Zia Khan, Senior Vice President bei der Rockefeller Foundation, im letzten Jahr. Ein «teuflischer Plan für die Weltherrschaft», wie viele Interneteinträge nahelegten, sei es aber natürlich nicht.

Wir drucken dieses Szenario hier ab, weil es ­überraschende Parallelen zur Gegenwart aufweist. Es ist nicht das einzige, das sich die Zukunft ­ausmalt, und auch nicht das neuste. Weitere ­Informationen bietet etwa das 2017 erstellte «SPARS Pandemic Scenario 2025–2028», zu lesen unter centerforhealthsecurity.org. (rg)


Das Szenario «Gleichschritt» (Lockstep)

Eine Welt mit strengerer staatlicher Kontrolle von oben nach unten und autoritärer Führung, mit begrenzter Innovation und wachsendem Widerstand der Bürger.

Im Jahr 2012 brach die Pandemie aus, auf welche die Welt seit Jahren gewartet hatte. Im Gegensatz zu H1N1 im Jahr 2009 war dieser neue Grippevirusstamm, der von Wildgänsen ausging, ­extrem virulent und tödlich. Selbst die am besten auf eine Pandemie vorbereiteten Nationen waren schnell überfordert, als sich das Virus rund um den Globus ausbreitete, fast 20 Prozent der Weltbevölkerung infizierte und in nur sieben Monaten acht Millionen Menschen tötete, die meisten von ihnen gesunde junge ­Erwachsene. Die Pandemie hatte auch tödliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Die internationale Mobilität von Menschen und Gütern kam zum Stillstand, was Branchen wie den Tourismus lähmte und die globalen Lieferketten unterbrach. Selbst auf lokaler Ebene standen normalerweise geschäftige Einkaufsläden und Büro­gebäude monatelang leer, ohne Angestellte und Kunden.

Die Pandemie überzog den gesamten Planeten – überproportional viele Menschen starben in Afrika, Südostasien und Mittelamerika, wo sich das Virus in Ermangelung offizieller Eindämmungsvorgaben wie ein Lauffeuer ver­breitete. Aber selbst in den entwickelten Ländern wurde die Eindämmung zur Herausforderung. Die anfängliche Politik der Vereinigten Staaten, ihren Bürgern vom Fliegen «stark abzuraten», erwies sich in ihrer Milde als tödlich und beschleunigte die Ausbreitung des Virus nicht nur ­innerhalb der USA, sondern auch über die Grenzen hinaus. Einige Länder schnitten jedoch besser ab – insbesondere China. Die schnelle Verhängung und Durchsetzung einer obligatorischen Quarantäne für alle Bürger sowie die sofortige und fast herme­tische Abriegelung aller Grenzen rettete Millionen von Menschenleben, stoppte die Ausbreitung des Virus viel früher als in anderen Ländern und ermöglichte eine schnellere Erholung nach der Pandemie.

Chinas Regierung war nicht die einzige, die extreme Massnahmen ergriff, um ihre Bürger vor Risiken und Ansteckung zu schützen. Während der Pandemie stellten Staatenlenker auf der ganzen Welt ihre Autorität unter Beweis und erliessen strenge Regeln und Beschränkungen, vom obligatorischen Tragen von Gesichtsmasken bis hin zu Körpertemperaturkon­trollen an den Eingängen zu öffentlichen Einrichtungen wie Bahnhöfen und Supermärkten. Auch nach dem Abklingen der Pandemie blieb diese autoritärere Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung und ihrer Aktivitäten und verstärkte sich sogar noch. Um sich vor der Ausbreitung zunehmend globaler Probleme – von Pandemien und trans­nationalem Terrorismus bis hin zu Umweltkrisen und steigender ­Armut – zu schützen, griffen die Staatsoberhäupter überall fester nach der Macht.

Zunächst stiess die Idee einer stärker kontrollierten Welt auf breite Akzeptanz und Zustimmung. Die Bürger gaben bereitwillig einen Teil ihrer Souveränität – und ihrer Privatsphäre – an paternalistischere Staaten ab, im Austausch für mehr Sicherheit und Stabilität. Die Bürger waren toleranter, ja sogar erpicht darauf, von oben gelenkt und beaufsichtigt zu werden, und die nationale Führung hatte mehr Spielraum, die Ordnung so durchzusetzen, wie sie es für richtig hielt. In den Industrieländern nahm diese verstärkte Kontrolle viele Formen an: Eingeführt wurden etwa biometrische Ausweise für alle Bürger und eine strengere Regulierung von Schlüsselindustrien, deren Stabilität als entscheidend für die nationalen Interessen angesehen wurde. In vielen Indus­trie­ländern stellte die erzwungene Umsetzung einer Reihe neuer Vorschriften und Vereinbarungen langsam, aber stetig die Ordnung wieder her. Ebenfalls wuchs die Wirtschaft wieder – und das war wichtig.

In den Entwicklungsländern verlief die Geschichte jedoch anders – und viel variabler. Die Autorität der Obrigkeit nahm in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Formen an, was stark von den Fähigkeiten, dem Format und den Absichten der jeweiligen Staatsführer abhing. In Ländern mit starken und umsichtigen Führern stiegen der allgemeine wirtschaftliche Status und die ­Lebens- qualität der Bürger. In Indien zum Beispiel verbesserte sich die Luftqualität ab 2016 drastisch, als die Regierung Fahrzeuge mit hohem Schadstoffausstoss verbot. In Ghana führte die Einführung ehrgeiziger Regierungsprogramme zur Verbesserung der Basisinfrastruktur und zur Sicherstellung der Verfügbarkeit von sauberem Wasser für alle zu einem starken Rückgang der durch Wasser übertragenen Krankheiten. Weniger gut – und in einigen Fällen mit tragischen Folgen – funktionierte eine autoritärere Führung in Ländern, die von unverantwortlichen Eliten gelenkt wurden, die ihre zunehmende Macht dazu nutzten, ihre eigenen Interessen auf Kosten der Bürger zu verfolgen.

Es gab auch andere Schattenseiten, da der Aufstieg eines virulenten Nationalismus neue Gefahren schuf: Zuschauer der Fussball-WM 2018 trugen etwa kugelsichere Westen, auf denen die ­jeweiligen Nationalflaggen aufgenäht waren. Strenge Technologievorschriften erstickten Innovationen, hielten die Kosten hoch und bremsten die Verbreitung. In den Entwicklungsländern nahm der Zugang zu «zugelassenen» Technologien zu, aber darüber ­hinaus blieb er begrenzt: Der Schauplatz technologischer Inno­vation lag grösstenteils in den Industrieländern, so dass viele ­En­t­wicklungsländer nur jene Technologien erhielten, die andere als «am besten» für sie betrachteten. Einige Regierungen empfanden dies als Bevormundung und verweigerten die Verteilung von Computern und anderen Technologien, die sie als «zweitklassig» ver­höhnten. In der Zwischenzeit begannen jene Entwicklungs­länder, die über mehr Ressourcen und bessere Kapazitäten verfügten, intern zu innovieren, um diese Lücken selbst zu schliessen.

In den Industrieländern hingegen hemmte das Vorhandensein so vieler von oben verordneter Regeln und Normen die unternehmerische Aktivität erheblich. Wissenschafter und Innovatoren wurden oft von den Regierungen angewiesen, welche ­Forschungsfelder sie verfolgen sollten, und wurden meist auf ­Projekte gelenkt, die Geld einbringen würden (z.B. marktorientierte Produktentwicklung) oder «sichere Wetten» waren (z.B. Grund­lagenforschung), während riskantere oder innovative Forschungsbereiche weitgehend brachlagen. Wohlhabende Länder und monopolistische Unternehmen mit grossen Budgets für Forschung und Entwicklung machten immer noch bedeutende Fortschritte, aber das geistige Eigentum hinter ihren Durchbrüchen wurde unter strengen nationalen oder unternehmerischen Schutz gestellt. Russland und Indien verhängten strikte nationale Standards für die Überwachung und Zertifizierung von Produkten und Lieferanten im Bereich der Verschlüsselungstechnologien – eine Kategorie, die in Wirklichkeit alle IT-Innovationen erfasste. Die USA und die EU schlugen mit nationalen Vergeltungsmassnahmen zurück und bremsten damit die Entwicklung und Verbreitung der Technologie weltweit.

Vor allem in den Entwicklungsländern bedeutete nationales Eigeninteresse oft, praktische Allianzen zu suchen, die diesen ­Interessen entsprachen – sei es, um Zugang zu benötigten Ressourcen zu erhalten oder sich zusammenzuschliessen, um wirtschaftliches Wachstum zu erzielen. In Südamerika und Afrika wurden die regionalen und subregionalen Allianzen strukturierter. Kenia verdoppelte seinen Handel mit dem südlichen und östlichen Afrika, da neue Partnerschaften innerhalb des Kontinents entstanden. Chinas Investitionen in Afrika wuchsen, da das Angebot von neuen Arbeitsplätzen und Infrastruktur im Austausch für den Zugang zu wichtigen Mineralien oder Lebensmittelexporten für viele Regierungen attraktiv war. Grenzüberschreitende Verbindungen nahmen in Form von offizieller Sicherheitshilfe zu. Während die Entsendung ausländischer Sicherheitsteams in einigen der schlimmsten gescheiterten Staaten willkommen war, brachten Standardlösungen nur wenige positive Ergebnisse.

Ab dem Jahr 2025 schienen die Menschen der Kontrolle von oben überdrüssig zu werden, wie auch der Tatsache, dass so viele Entscheidungen von Behörden für sie getroffen wurden. Wo immer nationale Interessen mit individuellen Interessen kollidierten, kam es zu Konflikten. Sporadischer Widerstand wurde zunehmend organisiert und koordiniert, als unzufriedene Jugend­liche und Menschen, die ihren Status und ihre Möglichkeiten schwinden sahen – vor allem in Entwicklungsländern –, zivile ­Unruhen anzettelten. Im Jahr 2026 brachten Demonstranten in Nigeria die Regierung zu Fall, weil sie die eingefahrene Vetternwirtschaft und Korruption satthatten. Selbst diejenigen, welche die grössere Stabilität und Vorhersehbarkeit dieser Welt schätzten, begannen, sich unwohl und eingeengt zu fühlen durch die engmaschigen Regeln und die Undurchlässigkeit der Landesgrenzen. Es blieb das Gefühl, dass früher oder später unweigerlich irgendetwas die feinsäuberliche Ordnung, welche die Regierungen der Welt aufgebaut hatten, erschüttern würde.

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Jung.

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