Die kleine Schweiz in Wisconsin
Im 19. Jahrhundert sind viele Schweizer in die USA ausgewandert. In New Glarus treffe ich meine entfernten Verwandten.
New Glarus wirkt auf den ersten Blick wie ein typisches kleines Dorf irgendwo in Wisconsin. Nähert man sich aber dem Zentrum, fällt einem sofort die spezielle Architektur auf: Praktisch alle Häuser kommen in typischem Chaletstil daher. Hier zeigt man die Schweizer Wurzeln mit Stolz.
New Glarus ist 1845 von Glarner Emigranten gegründet worden, die der Armut in der Heimat entflohen, um in den USA ein neues Leben aufzubauen. Ihre Nachfahren tragen noch Namen wie Hoesly oder Trumpy (!). Auch einige Leuzinger sind damals nach Amerika ausgewandert, und das ist der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin: An diesem Wochenende findet in Glarus die internationale «Leuzinger Reunion» statt, an der sich Leuzinger, Leutzinger und Leitzinger (da die meisten Auswanderer Analphabeten waren, ergaben sich ganz unterschiedliche Schreibweisen) zusammenfinden. Die meisten der rund 60 Anwesenden sind Amerikaner; aus der Schweiz haben nur einige wenige den Weg über den Atlantik auf sich genommen. Umso interessierter und begeisterter reagieren meine entfernten Verwandten, wenn sie erfahren, dass ich aus der Schweiz angereist bin. Zwei von ihnen (sie wohnen in Missouri und Colorado) laden mich unabhängig voneinander ein, sie auf meiner weiteren Reise durch die USA zu besuchen.
Die meisten der rund
60 Anwesenden sind Amerikaner. Umso interessierter und begeisterter reagieren sie, wenn sie erfahren, dass ich aus der Schweiz angereist bin.
Die Anwesenden haben ganz unterschiedliche Hintergründe; sie sind aus Kalifornien, Georgia oder Louisiana angereist. Es gibt überzeugte Demokraten und feurige Trump-Anhänger, aber am Familientreffen spielt das keine Rolle.
«Eat, drink, yodel!»
Da praktisch alle Amerikaner von Einwanderern abstammen, wird der eigenen Herkunft grosse Beachtung geschenkt. Ahnenforschung ist ein beliebtes Hobby. In St. Louis erwähnt der Vermieter meiner Unterkunft beiläufig, dass seine Familie 1848 aus Luzern nach Missouri ausgewandert sei.
Auch an der «Leuzinger Reunion» in New Glarus kann fast jeder der Anwesenden aus dem Stegreif sagen, wann welcher Vorfahre in die USA emigriert ist. Eine Frau erzählt mir, ihre Familie esse an Weihnachten traditionell Fondue. Andere bevorzugen Raclette – diese Rivalität gibt es also auch in Amerika.
Für manche ist es nicht die erste «Leuzinger Reunion». Die letzte fand 2017 in Glarus statt. «Ich fühle mich an dem Treffen sehr verbunden mit allen», erklärt Terri, die in New Glarus aufgewachsen ist. Als sie jung gewesen sei, habe man in den Strassen noch Schweizerdeutsch gehört, die Architektur sei jedoch wenig schweizerisch gewesen. «Inzwischen ist es umgekehrt.»
Das hat vor allem mit dem Tourismus zu tun. «America’s Little Switzerland» weiss sich zu verkaufen. Obwohl New Glarus nur etwas über 2000 Einwohner hat, ist jedes zweite Haus im Zentrum eine Bar oder ein Restaurant, und überall sieht man Bezüge zur Schweiz. Die Authentizität ist dabei zweitrangig; so gibt es eine «Pizzeria Ticino», und in einer Bar wird man von einem «Grützi»-Schild über dem Türrahmen empfangen. Das County, in dem New Glarus liegt, wirbt mit dem Slogan «Eat, drink, yodel!» um Touristen.
Feuerwehren im Austausch
An diesem Wochenende findet im Stadtpark ein Fest mit Bluesmusik und Foodtrucks statt. Die lokale Spezialität sind «Cheese Curds»: Käsestücke, die im Öl frittiert werden – die perfekte Kombination von schweizerischer und amerikanischer Küche. Auch Alphornklänge sind zu hören.
Das Verhältnis zur Schweiz ist aber mehr als nur Folklore. Die drei Alphornbläser erzählen mir von ihrer Teilnahme am Schweizerischen Jodlerfest. Sie singen auch im lokalen Jodlerklub, der immerhin rund 30 Mitglieder zählt («Swiss heritage is not a requirement», heisst es auf der Website). Auch die lokale Feuerwehr unterhält einen engen Austausch mit der Feuerwehr Glarus, inklusive gegenseitiger Besuche.
Plötzlich klopft mir jemand auf die Schultern. Ein Festbesucher hat mein T-Shirt der «Leuzinger Reunion» bemerkt und stellt sich als Dave Leucinger vor. Dave ist zufällig vor Ort und wusste nichts von dem Treffen, freut sich aber riesig, seine entfernten Verwandten zu treffen. Sein Grossvater sei 1895 nach New Glarus ausgewandert und habe als Käser gearbeitet. Der Traum seines Vaters sei es immer gewesen, in die Schweiz zu reisen, doch sei ihm das nicht vergönnt gewesen. Umso mehr wolle er, Dave, unbedingt einmal die Heimat seiner Vorfahren besuchen.