Die jungen Alten
Warum die Lebensabfolge «Ausbildung, Beruf und Ruhestand» überholt ist – und was das für die Altersvorsorge bedeutet.
«Wie heisst das einzige Lebewesen, das zuerst auf vier, dann auf zwei und zuletzt auf drei Beinen läuft?», liess die Sphinx die Reisenden fragen, die auf dem Weg nach Theben waren. Ödipus löste das Rätsel: Das Kind kriecht auf Händen und Füssen, der Erwachsene geht aufrecht, und der Greis nimmt den Stock zu Hilfe. Seither ist die Dreiteilung des Lebens fast schicksalhaft «festgeschrieben».
Dass das letzte Drittel arbeitsfrei ist, kann man allerdings als Errungenschaft der Neuzeit bezeichnen. Davor mussten die meisten bis ans Ende ihres Lebens schuften. Lebenszeit und Arbeitszeit gehörten unmittelbar zusammen. In Deutschland wurde die erste gesetzliche Rentenversicherung 1889 eingeführt. Das Rentenalter lag bei 70 Jahren und wurde erst 1916 auf 65 herabgesetzt. Doch auch dieses Alter erreichten nur 3 von 10 Bürgern. Die Grenze zum Alter bedeutete dabei in der Regel Invalidität und/oder Berufsunfähigkeit. Wer heute altersbedingt aus dem Berufsleben ausscheidet, muss weder invalid noch berufsunfähig sein. Aus Sicht der Altersforschung gilt die derzeitige Pensionierungsgrenze als willkürlich festgesetzt.
Die Dreiteilung des Lebens in Ausbildung, Beruf und Ruhestand wird heute zunehmend hinfällig. Die technologische und soziale Entwicklung setzt die griechische Mythologie von der Trias des Lebens ausser Kraft. Die traditionelle Dreiteilung des Lebens in Kindheit und Jugend als Lernzeit, Erwachsenenalter als Arbeitsphase und höheres Alter als Ruhestand wird abgelöst durch einen Wechsel ganz unterschiedlicher Phasen des Lebens (z.B. des Lernens, der Arbeit, der Kindererziehung und des sozialen Engagements). So entwickeln sich Patchwork-Biografien zwischen Teilzeitarbeit, Zeitarbeit und Jobsharing, Mutterschaftsurlaub und Vätermonaten, Babypause und Sabbatical, Nebenjobs, beruflicher Weiterbildung und Phasen längerer Arbeitslosigkeit.
Von der Alters- zur Langlebigkeitsforschung
Dank gesünderen Umweltbedingungen, besserer Ernährung, einer generell risikoärmeren Umgebung und grossen Fortschritten in der Medizin erreichen heute so viele Menschen ein hohes Alter wie noch nie. Und ein noch längeres Leben wartet auf sie: Nach – eher konservativen – Prognosen der UN wird die durchschnittliche Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern bis Ende des Jahrhunderts auf 87,5 Jahre (bei Männern) und 92,5 (bei Frauen) steigen. Und für die Hälfte der Bevölkerung kann selbst ein Leben über 100 Wirklichkeit werden.
Um 2030 scheiden die letzten Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus. Dreissig Jahre später werden diese allein in Deutschland eine ganze Grossstadt mit Hundertjährigen füllen können, die körperlich und geistig vitaler sind als jede Generation im gleichen Alter zuvor.
Die Altersforschung wandelt sich zur Langlebigkeitsforschung; eine präzise Definition von «Jung» oder «Alt» wird immer schwieriger: Wir werden objektiv älter, aber fühlen uns subjektiv jünger. Früher galt eine Frau mit 40 Jahren als Matrone, Calvin nannte sich mit 50 Jahren einen alten, verbrauchten Mann, und Karl V. dankte mit 55 Jahren restlos erschöpft als Greis ab. Heute hingegen haben wir noch mit 70 weitere Ziele für die Zukunft und wollen gut und lange leben. Von 70 auf 100: Durchstarten in ein neues Leben? Und gleichzeitig mit mehreren Generationen leben? Das ist die demografische Herausforderung des 21. Jahrhunderts, eine Revolution auf leisen Sohlen.
Länger leben – wofür?
Karl Marx hatte vorausgesagt, dass die durchschnittliche Lebensdauer mit weiterer Industrialisierung zurückgehen werde. Es ist ganz anders gekommen. Statt vom «Alter» werden wir bald von kürzeren oder längeren Lebensphasen reden und von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation. Die aktuellen Sorgen um Ausbildungsplatz, Familiengründung und den Platz in der Gesellschaft verschieben die «schönste» Phase auf die Mitte des Lebens. Die ständig steigende Lebenserwartung verändert zwangsläufig auch die Einstellung zum Sich-jung-Fühlen. Doch wie können wir den zusätzlichen Lebensjahren mehr Sinn (und nicht nur dem Leben immer mehr Jahre) geben?
Selbstverständlich lohnt es sich, in dieses lange Leben in jeder nur möglichen Weise zu investieren – materiell und mental, geistig, psychisch, physisch und sozial. Ein wichtiger Punkt: Die Menschen wollen auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gesellschaftlich wichtig und anerkannt bleiben. Hochaltrige wissen es zu schätzen, weiter um Rat gefragt und bei wichtigen familiären Entscheidungen beteiligt zu sein. Das Gebrauchtwerden, die Fähigkeit, helfen und aushelfen zu können, vermittelt das Gefühl, nicht allein dazustehen. Das Gefragt-und-gefordert-Sein ist eine unverzichtbare Energiequelle ihres Lebens.
Als wichtigste Voraussetzung für ein langes Leben gilt geistige Fitness. Sie wird im hohen Alter als bedeutsamer eingeschätzt als etwa die körperliche Beweglichkeit oder die finanzielle Absicherung. Dabei kümmern sich gemäss einer repräsentativen Umfrage1 aus dem Jahr 2016 die Männer mehr um die Erhaltung ihrer geistigen Fitness als die Frauen. Bei beiden Geschlechtern dominiert aber gleichermassen die Angst, im Alter nicht mehr selbstbestimmt leben zu können oder gar zum Pflegefall zu werden.
Länger leben – wovon?
Im Vergleich zu 1960 hat sich die Rentenbezugsdauer in Deutschland von zehn auf zwanzig Jahre verdoppelt. Im gleichen Masse stiegen die sozialen Belastungen der Arbeitnehmerschaft – und ein baldiges Ende ist nicht in Sicht: Heute finanzieren immerhin noch drei Beschäftigte einen Rentner. Im Jahr 2050 müssten bei unverändertem Rentenalter drei Arbeitnehmer doppelt so viele Rentner ernähren. Das kann nur bedeuten: drastische Senkung des Rentenniveaus oder völliges Neudenken des Rentenalters.
Eine vom Gesetzgeber verordnete Zwangspensionierung – ob sie nun mit 65 oder mit 67 stattfinde – ist, auch vor dem Hintergrund der oben geschilderten sozialen Aspekte des Alterns, keine wünschenswerte Option. Angezeigt ist stattdessen als Minimallösung eine verstärkte Individualisierung der Arbeitszeit in den letzten Jahren des Berufslebens zwischen 60 und 70 Jahren – also eine flexible Öffnung der Altersgrenze nach beiden Seiten – nach unten mit Rentenkürzungen und nach oben mit Rentenerhöhungen.
Als unausweichlich zur finanziellen Sicherung der Altersvorsorge gilt zudem eine längere Lebensarbeitszeit. Naheliegend ist es, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln, so dass auch in Zukunft z.B. 20 oder 25 Jahre Ruhestandsdauer garantiert und finanzierbar bleiben, ohne dass das Rentenniveau gesenkt werden muss.
Sicher ist, dass wir unsere Kinder darauf vorbereiten müssen, dass sie hundert Jahre alt werden können und sie daher nicht aufhören dürfen, sich weiterzuentwickeln und weiterzulernen. Provokativ könnte man gar fordern: «Schafft den Ruhestand ab!» Denn mal ehrlich: Wer will sich in Zukunft schon mit 63, 65 oder 70 Jahren einfach stilllegen lassen wie einen alten Hochofen, wenn noch dreissig oder mehr Lebensjahre bevorstehen? So eine «Abschaffung» des Ruhestandes könnte mit der Umwandlung des Altersrentenanspruchs in ein Lebensfreizeitkonto vollzogen werden: Beschäftigte könnten schon im Laufe ihres Erwerbslebens bezahlte Auszeiten («Sabbaticals») für Weltreisen, Weiterbildung oder soziale Entwicklungsprojekte nehmen, die dann mit dem Lebensfreizeitkonto verrechnet und die Länge des Rentenanspruchs am Ende des Lebens senken würden. So könnte der endgültige Abschied aus der Erwerbstätigkeit deutlich später erfolgen und dafür wäre diese schon davor immer wieder durch andere sinngebende Aktivitäten unterbrochen. Die strikte Lebensabfolge Ausbildung – Arbeit – Rente, die schon bisher den Realitäten immer weniger entspricht, wäre damit auch institutionell aufgebrochen.
Der Arbeitsmarkt in den 2020ern
Bei längerer Lebensarbeitszeit wird die Wirtschafts- und Arbeitswelt von der doppelten Erfahrung – der Lebens- und der Berufserfahrung der Älteren – profitieren. Gelassenheit und Beständigkeit halten wieder mehr Einzug in das Arbeitsleben, was nicht folgenlos bleibt: Die Nachhaltigkeit ist dann wieder mehr gefragt als die Kurzfristigkeit – also mehr langfristige strategische Planung, weniger kurzfristiges Renditedenken in Quartalsberichten, mehr abwägende Sicherheitsüberlegungen als riskante Schnellschüsse.
Der Trend zu längerer Lebensarbeitszeit ist schon heute sichtbar: Die Beschäftigten gehen immer später in Rente – so spät, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Vorgezogener Renteneintritt ist nicht mehr in. Die Wirtschaft realisiert langsam: Ältere Arbeitskräfte sind wertvoll. Sie braucht wieder ältere Arbeitnehmer. Die 50-plus-Generation bekommt ihre zweite Chance. Die sogenannten Best Ager werden als unverzichtbare Mitarbeiter wiederentdeckt – sie werden «Silver Worker» und nicht nur «Master Consumer» sein. Sie gelten als hochspezialisierte Wissensträger, die nicht ohne weiteres zu ersetzen sind.
Die Grenzen zwischen Ausbildung, Beruf und Ruhestand werden immer fliessender und passen sich dem individuellen Lebensrhythmus an, wozu auch Jobsharing und Sabbatical, Nebenjobs und Zweitberufe, Studienreisen und Seniorenstudien, Patenschaften und Lotsendienste für Jungunternehmer gehören. In den kommenden 2020er Jahren gilt das Prinzip: Wer eine Arbeit hinter sich hat, muss eine Aufgabe vor sich haben. Nur so lässt sich auch gut mit den neuen Freiheiten eines langen Lebens leben. Und eine besondere Sinnperspektive tut sich auf: Für andere da sein – mit dem positiven Effekt: Wer sich um andere sorgt, lebt länger.
Horst W. Opaschowski: Das Abraham-Prinzip. Wie wir gut und lange leben. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2016. ↩