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Die Intellektuellen und der Sozialismus
Friedrich August von Hayek, fotografiert von Levan Ramishvili

Die Intellektuellen und der Sozialismus

Wer die Intellektuellen sind. Und wie sie zum Sozialismus stehen. Ein Text aus dem Jahr 1949 – heute so frisch wie damals.

I.

Der Einfluss, den in demokratischen Ländern die Intellektuellen auf die Politik ausüben, wird meist als ganz geringfügig angesehen. Soweit wir an ihre direkte Einflussnahme auf die Entscheidung der politischen Tagesfragen denken, ist das auch sicher in weitem Masse richtig. Auf längere Sicht hinaus haben sie aber wahrscheinlich noch nie einen so grossen Einfluss ausgeübt, als das heute gerade in jenen Ländern der Fall ist. Diesen langfristigen Einfluss haben sie auf dem Umweg über die Bildung der öffentlichen Meinung.

Angesichts der ganzen Entwicklung während der letzten Generationen ist es eigentlich überraschend, dass dieser entscheidende Einfluss der berufsmässigen Ideenvermittler noch nicht allgemeiner verstanden wird. Bietet doch die politische Geschichte der westlichen Welt während des letzten Jahrhunderts dafür die schönste Illustration. Die Bewegung, welche die grösste Rolle in dieser Geschichte gespielt hat, der Sozialismus, war kaum je ursprünglich eine Bewegung der Arbeiterklasse. Er ist keineswegs der selbstverständliche Weg zur Abhilfe offensichtlicher Übelstände, auf den jene Klasse durch ihre Interessen notwendig geführt wurde. Er ist vielmehr eine theoretische Konstruktion, die von spekulativen Denkern geschaffen wurde und aus einer Entwicklung des abstrakten Denkens hervorging, mit der lange Zeit nur die Intellektuellen vertraut waren, und es erforderte lange Bemühungen seitens der Intellektuellen, ehe die Arbeiterschaft sich überzeugen liess, dass das sozialistische Programm ihren Interessen entsprach.

In jedem Land, das sich zum Sozialismus entwickelte, ging der Phase, in der er ein bestimmender Faktor der Politik wurde, eine lange Periode voraus, in der die sozialistischen Ideale vor allem das Denken der Intellektuellen beherrschten. In Deutschland war dieses Stadium zu Ende des letzten Jahrhunderts erreicht, in England und Frankreich ungefähr zur Zeit des Ersten Weltkrieges und die Vereinigten Staaten scheinen diese Phase nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht zu haben. Die Erfahrung zeigt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann die Ansichten, die heute die Intellektuellen vertreten, auch die Tagespolitik beherrschen.

Die Natur dieses Prozesses, durch den die Anschauungen der Intellektuellen die Politik von morgen bestimmen, ist daher von weit mehr als bloss akademischem Interesse. Ob wir bloss die Zukunft voraussehen wollen oder den Lauf der Dinge beeinflussen möchten, dieser Faktor ist offenbar von viel grösserer Bedeutung, als allgemein erfasst wird. Was dem Zeitgenossen oft als ein Kampf widerstreitender Interessen erscheint, ist tatsächlich meist schon lange vorher in einem Kampf der Ideen entschieden worden, der sich in engen Kreisen abspielte. Dabei sind es in der Regel, so paradox das auch zunächst klingt, gerade die Parteien der Linken, die sich offiziell zu dem Glauben bekennen, dass die grossen politischen Fragen ausschliesslich von der zahlenmässigen Stärke der gegensätzlichen materiellen Interessen entschieden werden, die tatsächlich so handeln, als ob sie die Schlüsselstellung der Intellektuellen voll verstünden: Ihr Bemühen war immer bewusst darauf gerichtet, sich die Unterstützung dieser «Elite» zu sichern, während die mehr konservativen Gruppen sich umgekehrt meist von einer recht naiven Vorstellung von einer Massendemokratie leiten liessen und sich vergeblich bemühten, direkt an den einzelnen Stimmträger heranzukommen und ihn zu überzeugen.

II.

Die Bezeichnung «Intellektuelle» ist jedoch keine ganz angemessene Bezeichnung für jene grosse Gruppe, um die es sich hier handelt; und wenn ihre Macht nicht besser verstanden wird, so ist das nicht zuletzt dem Umstand zuzuschreiben, dass wir keinen besseren Namen haben, um alle jene Berufe zusammenzufassen, die sich als berufsmässige Ideenvermittler betätigen. Selbst Menschen, die geneigt sind, das Wort «Intellektuelle» in einem geringschätzigen Sinne zu gebrauchen, versagen diesen Titel gewöhnlich einem grossen Teil jener, die unzweifelhaft jene charakteristische Funktion ausüben. Diese Funktion ist weder die des originellen Denkers noch die des Gelehrten oder des Sachverständigen in irgendeinem bestimmten Gebiet. Der typische Intellektuelle braucht kein spezielles Wissen auf irgendeinem Gebiet, er braucht nicht einmal besondere geistige Fähigkeiten zu besitzen, um seine Rolle als Vermittler in der Verbreitung von Ideen zu spielen. Was ihn zu seiner Rolle befähigt, ist der weite Bereich von Gegenständen, über die er gewandt schreibt und spricht, und eine Stellung oder Lebensgewohnheiten, die ihn früher mit neuen Ideen bekanntmachen als jene, an die er sich wendet.

Bevor man sich nicht die ganze Liste der Berufe und Funktionen vergegenwärtigt, die hiehergehören, erfasst man kaum, wie ausgedehnt diese Klasse ist, wie sich in neuerer Zeit ihr Tätigkeitsfeld ständig erweitert hat und wir immer abhängiger von ihr geworden sind. Diese Klasse besteht nicht nur aus den Journalisten und Lehrern, Geistlichen und Volksbildnern, Schriftstellern und Radiosprechern, Künstlern und Schauspielern – alles Berufe, die hauptsächlich auf die Fähigkeit der Vermittlung von Ideen begründet sind, aber keineswegs immer auch Kenntnis der Materie voraussetzen, die sie vermitteln. Die Klasse schliesst auch viele Angehörige der freien Berufe ein, insbesondere auch viele Wissenschafter und Ärzte, die dadurch, dass ihnen der ständige Verkehr mit dem gedruckten Wort Gewohnheit ist, ausserhalb ihres eigentlichen Fachgebietes zum Träger von neuen Ideen werden und die mit Respekt angehört werden, auch wenn sie über ganz andere Gegenstände sprechen oder schreiben als ihr eigentliches Fachgebiet.

Es gibt heute nicht mehr viel Geschehnisse oder neue Ideen, von denen der gewöhnliche Mensch anders als durch Vermittlung dieser Klasse etwas erfahren kann. Es hängt von ihr ab, welche Ansichten und Meinungen überhaupt bis zu uns dringen, sie entscheidet, welche Tatsachen wichtig genug sind, um uns mitgeteilt zu werden, und in welcher Form und von welchem Standpunkt wir von ihnen unterrichtet werden. Und von ihrer Entscheidung hängt es auch nicht zuletzt ab, ob die Ergebnisse der Arbeit des Forschers und des originellen Denkers uns je bekannt werden.

In dem Sinn, in dem wir hier den Ausdruck «Intellektuelle» verwenden, sind sie eine ziemlich neue Erscheinung der Geschichte. Wenn es auch niemand bedauern wird, dass Bildung heute nicht mehr ein Vorrecht der besitzenden Klasse ist, so müssen wir uns doch auch darüber klar sein, dass das ganz bestimmte Folgen für die Einstellung der Klasse hat, die nun auf lange Frist die öffentliche Meinung bestimmt: Die Tatsache, dass jene grosse Klasse, die ihre Position in der Gesellschaft ausschliesslich ihrer Bildung verdankt, meist nicht mehr jene Erfahrung auf wirtschaftlichem Gebiet besitzt, die in der Verwaltung eines Vermögens erworben wird, hat den grössten Einfluss auf die Ansichten, die sie beherrschen. Professor Schumpeter, der ein glänzendes Kapitel seines Buches «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie» gewissen Aspekten unseres Problems gewidmet hat, betont mit Recht, dass es dieses Fehlen direkter Verantwortlichkeit für das praktische Geschehen und das daraus folgende Fehlen einer unmittelbaren Kenntnis der Wirklichkeit sind, die den typischen Intellektuellen von anderen Menschen unterscheiden, die auch durch das gesprochene und geschriebene Wort wirken.

III.

Es ist nicht verwunderlich, dass der echte Gelehrte oder Sachkenner sich den Intellektuellen sehr überlegen fühlt, ihre Macht nicht gern anerkennt und verärgert ist, wenn er sie doch feststellen muss. Ihm erscheinen die Intellektuellen als Leute, die auf keinem Gebiet wirklich etwas verstehen und deren Urteil in ihrem Arbeitsbereich wenig Kenntnis verrät. Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler, deshalb ihren Einfluss zu unterschätzen. Auch wenn ihr Wissen oft oberflächlich und ihre Fähigkeiten begrenzt sind, so ändert das doch nichts daran, dass es ihr Urteil ist, das in erster Linie darüber entscheidet, welche Ansichten in nicht zu ferner Zukunft die Gesellschaft beherrschen werden. Die Intellektuellen sind die Organe, die in der modernen Gesellschaft die Verbreitung von Wissen und Ideen besorgen, und ihre Überzeugungen wirken daher wie ein Sieb, durch das alle neuen Vorstellungen hindurchmüssen, bevor sie die Massen erreichen können.

Es liegt in der Natur der Tätigkeit des Intellektuellen, dass er sich von seinen eigenen Überzeugungen leiten lassen muss. Er verdankt seine Stellung dem Umstand, dass er Fähigkeiten besitzt, die sein Arbeitgeber nicht hat, und eine Lenkung seiner Arbeit ist daher nur in sehr beschränktem Masse möglich.

Gerade weil die Intellektuellen meist intellektuell ehrlich sind, ist es unvermeidlich, dass sie, wo sie zu entscheiden haben, ihren eigenen Überzeugungen folgen und daher allem, was durch ihre Hände geht, den Stempel dieser Überzeugungen aufdrücken. Auch dort, wo die allgemeinen Direktionen in den Händen von Männern liegen, die andere Ansichten haben, wird im allgemeinen die Ausführung in den Händen von Intellektuellen liegen, und sehr oft sind es die Entscheidungen über die Einzelheiten, die den Endeffekt bestimmen. Wir finden das in der Praxis auf allen Gebieten bestätigt. Zeitungen in «kapitalistischem» Besitz, Universitäten unter «reaktionärer» Verwaltung und Radiosender unter der Kontrolle konservativer Regierungen haben immer wieder die öffentliche Meinung in sozialistischer Richtung beeinflusst, weil dies die Überzeugung der ausführenden Organe war.

Auf keinem anderen Gebiet hat sich der vorherrschende Einfluss der sozialistischen Intellektuellen in den letzten hundert Jahren stärker fühlbar gemacht als auf dem der kulturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Ländern. Es würde die Grenzen dieses Aufsatzes weit überschreiten, die Ursachen und die Bedeutung der ungemein wichtigen Tatsache zu verfolgen, dass in der modernen Welt die Intellektuellen fast die einzige wirklich internationale Gemeinschaft darstellen. Es ist dieser Umstand, der vor allem auch erklärt, warum seit Generationen der vermeintlich «kapitalistische» Westen seine moralische und materielle Unterstützung fast ausschliesslich jenen ideologischen Bewegungen in den östlichen Ländern zukommen liess, deren Ziel die Untergrabung der westlichen Zivilisation war, und dass gleichzeitig die Nachrichten, welche die Öffentlichkeit des Westens über die Vorgänge in Mittel- und Osteuropa erhielt, fast durchwegs sozialistisch gefärbt waren. Viele der sogenannten «Erziehungsversuche» der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland bieten ein klares Beispiel dieser Tendenz.

IV.

Was sind nun die Gründe, die gerade die Intellektuellen so sehr zu sozialistischen Anschauungen disponieren? Die Gegner des Sozialismus zeigen in der Beurteilung dieser Motive meist ein verhängnisvolles Unverständnis und oft die grösste Ungerechtigkeit. Die erste Tatsache, die sie rückhaltlos anerkennen sollten, ist, dass es normalerweise weder böse Absichten noch egoistische Interessen, sondern ehrliche Überzeugung und idealistisches Bestreben sind, die jene Einstellung der Intellektuellen bestimmen. Sie sollten sich klarmachen, dass man heute mit umso grösserer Wahrscheinlichkeit erwarten muss, ein typischer Intellektueller werde sich als Sozialist erweisen, je mehr er von Intelligenz geleitet und um das Wohl der Gesamtheit besorgt ist, und dass im allgemeinen der sozialistische Intellektuelle seinen Standpunkt besser zu begründen weiss als sein Gegner. Selbst wenn wir glauben, dass er unrecht hat, so sollten wir doch vor allem anerkennen, dass es echter Irrtum über entscheidende Fragen sein kann, der Menschen mit so viel gutem Willen, die jene Schlüsselstellungen in unserer Gesellschaft innehaben, dazu führt, Ansichten zu vertreten, die uns als die schwerste Bedrohung unserer Zivilisation erscheinen. Unsere Aufgabe muss sein, die Quelle dieses Irrtums zu erkennen und ihn widerlegen zu lernen. Von einem solchen Verständnis sind aber gerade jene Kreise weit entfernt, die gewöhnlich als die Repräsentanten der «kapitalistischen» Ordnung angesehen werden und die glauben, die Gefahren des Sozialismus am besten zu verstehen. Sie sind meist geneigt, die sozialistischen Intellektuellen einfach als eine lästige Gesellschaft neurotischer Ruhestörer zu betrachten, deren Einfluss sie nicht erfassen und denen gegenüber sie sich oft in einer Weise verhalten, die jene nur noch mehr in Opposition zur bestehenden Ordnung treibt.

Vor allem sind es zwei Punkte, über die wir uns völlig klar sein müssen, wenn wir die Neigung zum Sozialismus verstehen wollen, die einen so grossen Teil der Intellektuellen kennzeichnet. Der erste ist, dass sie alle Einzelfragen fast ausschliesslich im Lichte gewisser allgemeiner Ideen beurteilen, die sie gerade beherrschen; der zweite, dass die charakteristischen Irrtümer einer Epoche häufig ihre Wurzel in echten neuen Erkenntnissen haben, dass sie oft unberechtigte Anwendungen neuer Verallgemeinerungen darstellen, die auf einem beschränkten Gebiet ihren Wert erwiesen haben. Eine sorgfältigere Betrachtung des ganzen Problems führt zu dem Schluss, dass die erfolgreiche Widerlegung solcher Irrtümer oft weiteren geistigen Fortschritt voraussetzt und sogar nicht selten von der richtigen Beantwortung sehr abstrakter Probleme abhängt, die von den praktischen Fragen, um die es sich unmittelbar handelt, weit entfernt scheinen.

Dass sie neue Ideen nicht nach ihrem spezifischen Wert, sondern nach der Leichtigkeit beurteilen, mit der sie sich in das allgemeine Weltbild einfügen lassen, das ihnen als modern oder fortschrittlich erscheint, ist vielleicht der charakteristischste Zug der Intellektuellen. Durch diesen Einfluss, den gerade allgemeine Ideen auf den Intellektuellen und seine Meinungen über konkrete Fragen haben, wächst die Macht von Ideen zum Guten oder Bösen mit ihrer grösseren Allgemeinheit, Abstraktheit und oft sogar ihrer Unklarheit. Weil der Intellektuelle auf den Einzelgebieten wenig wirkliche Kenntnisse hat, muss sein Kriterium vor allem die Vereinbarkeit neuer Ideen mit seinem ganzen Weltbild sein.

Das geistige Klima einer Periode wird so zumeist von einigen wenigen Grundbegriffen und allgemeinen Vorstellungen bestimmt, die das Urteil der Intellektuellen leiten. Diese Vorurteile sind gewöhnlich Folgerungen, die sie aus neuen wissenschaftlichen Fortschritten ziehen, Verallgemeinerungen und Übertragungen von allgemeinen Ideen, die aus dem Werk des Fachgelehrten in das geistige Gemeingut übergegangen sind. Man könnte eine lange Liste von solchen Modeideen und Schlagworten aufstellen, die im Laufe der letzten zwei oder drei Generationen nacheinander das Denken der Intellektuellen beherrscht haben. Ob es nun die «historische Methode» oder die Darwin’sche Entwicklungstheorie war, der universelle Determinismus des neunzehnten Jahrhunderts oder der Glaube an den entscheidenden Einfluss, den die Umgebung im Vergleich mit den ererbten Anlagen auf die Entwicklung des Individuums ausübt, oder ob es die Relativitätstheorie oder der Glaube an die Macht des Unbewussten war: Alle diese und viele andere ähnliche Ideen allgemeinster Art haben durch lange Zeit als Auswahlprinzipien auf Gebieten gedient, mit denen sie eigentlich nichts zu tun hatten.

Die Rolle der Intellektuellen bei der Fortbildung der sozialen Ideale im engeren Sinne ist nur scheinbar anders geartet. Ihre charakteristische Einstellung drückt sich hier darin aus, dass sie abstrakte Schlagwörter schaffen, Normen, die sie im täglichen Verkehr der Menschen bilden, rationalisieren und überspitzen. Da sich die Demokratie als eine zweckmässige Institution erwiesen hat, so scheint ihnen jede Entwicklung zu immer vollständiger Demokratisierung aller Institutionen als unbezweifelbarer Fortschritt. Noch mächtiger als dieser Glaube an die unbegrenzten Vorteile demokratischen Verfahrens hat sich das Verlangen nach materieller Gleichheit erwiesen. Kein anderes Ideal hat die politische Entwicklung in neuerer Zeit so sehr beeinflusst wie diese Forderung, die charakteristischerweise keineswegs ein Wert ist, der sich spontan aus den sozialen Beziehungen gebildet hat. Nicht aus den Erfahrungen mit konkreten menschlichen Beziehungen, sondern aus theoretischen Spekulationen leitet sich diese Forderung ab, von deren praktischer Bedeutung und Auswirkung sich kaum jemand eine greifbare Vorstellung zu machen vermag. Die Art und Weise, in der ethische Ideale in dieser Richtung wirken können, bedarf wahrscheinlich keiner weiteren Ausführung. Weniger vertraut ist der Einfluss, den rein wissenschaftliche Fortschritte auf unsere sozialen Ideale ausüben, und insbesondere die Art und Weise, in der echter Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis unter Umständen der Anlass zu Irrtümern auf sozialem Gebiet werden kann. An sich sollte uns die Möglichkeit, dass wissenschaftlicher Fortschritt gleichzeitig auch die Quelle neuer Irrtümer sein kann, nicht überraschen. Wenn sich aus einer neuen Verallgemeinerung nicht auch falsche Schlussfolgerungen ergäben, so würde sie ja eine letzte Wahrheit darstellen, die nie mehr einer Berichtigung bedürfte. In den meisten Fällen werden solche neue Generalisationen freilich nur die gleichen falschen Folgerungen nach sich ziehen wie die vorher herrschenden Ansichten und daher nicht zu neuen Irrtümern führen. Aber ebenso wie eine neue Theorie sich daran bewähren muss, dass sie zu richtigen neuen Schlussfolgerungen führt, so ist auch zu erwarten, dass sich manche der neuen Verallgemeinerungen als falsch erweisen werden und die neue Theorie daher der Anlass zu neuen Irrtümern werden kann. Wo das der Fall ist, erscheint aber zunächst die neue Idee die ganze Unterstützung der letzten wissenschaftlichen Erkenntnisse für sich zu haben.

Die schönste Illustration dieser Tendenz bildet wohl die Art und Weise, in der im Laufe der letzten hundert Jahre unser Erfolg in der Beherrschung der Naturkräfte den Glauben grossgezogen hat, dass die Verwendung derselben Methoden zur Beherrschung der Kräfte der menschlichen Gesellschaft einen weiteren Fortschritt von der gleichen Art bringen würde. Dass die Anwendung der Methoden des Ingenieurs, der die vielfältigen Teile eines ungeheuer komplizierten Produktionsprozesses nach einem vorher festgelegten Plan regelt, auf das Ganze der Gesellschaft ähnlich erfolgreich sein müsse, ist eine zu verführerische Idee, als dass ihr nicht viele, die von den grossen Erfolgen der Technik fasziniert sind, erlegen wären. Es muss dabei zugegeben werden, dass es sehr starker Argumente bedarf, um diese Schlussfolgerungen überzeugend zu widerlegen, und dass wir eine solche überzeugende Widerlegung kaum noch besitzen. Es genügt da nicht, die Mängel bestimmter Reformvorschläge aufzuzeigen, die sich aus jenen Vorstellungen ergeben. Sie werden ihre Werbekraft nicht verlieren, solange nicht allgemein gezeigt worden ist, warum eine Methode, die sich auf so vielen Gebieten so ausserordentlich erfolgreich erwiesen hat, in ihrer Nützlichkeit beschränkt ist und sogar ausgesprochen schädlich werden kann, wenn sie über diese Grenzen hinaus angewendet wird.

V.

In ähnlicher Richtung wirken die Faktoren, welche die Auswahl der Intellektuellen bestimmen. Sie erklären in weitem Masse, warum gerade so viele der fähigsten unter ihnen zum Sozialismus neigen. Natürlich besteht unter den Intellektuellen eine ebenso grosse Diversität der Meinungen wie in irgendeiner anderen Gruppe von Menschen; aber im ganzen ist es kaum zu bestreiten, dass gerade unter ihnen es oft die lebhafteren und originelleren Geister sind, die zum Sozialismus neigen, während seine Gegner nicht selten Mittelmässigkeiten sind. Dies ist insbesondere in den frühen Stadien des Eindringens sozialistischer Ideen der Fall. Später mag es zwar ausserhalb des Kreises der Intellektuellen immer noch gewisser Originalität und einigen Mutes bedürfen, sich als Sozialist zu bekennen, während innerhalb des Kreises der Intellektuellen umgekehrt der Druck der herrschenden Meinung solche Überzeugungen begünstigt und es grössere geistige Unabhängigkeit erfordern mag, sich ihnen zu widersetzen.

Der Sozialist wird in all dem nur einen Beweis dafür sehen, dass eben die intelligenteren Menschen heute mit Notwendigkeit zum Sozialismus geführt werden. Das ist aber keineswegs die einzig mögliche oder auch nur die wahrscheinlichste Erklärung dieser Erscheinung. Der Hauptgrund dafür ist wohl, dass dem ungewöhnlich begabten Menschen, der die bestehende Gesellschaftsordnung im Prinzip bejaht, eine Menge andere Wege zu Einfluss und Wohlstand offenstehen, während für den unzufriedenen und ihr gegenüber feindlich eingestellten die Karriere des Intellektuellen der aussichtsreichste Weg zu Einfluss und Macht erscheint, der ihn dabei zugleich in die Lage versetzt, an der Erreichung seiner Ideale mitzuarbeiten. Auch wird der konservativ eingestellte Mann mit ungewöhnlichen Fähigkeiten im allgemeinen nur dann einen geistigen Beruf wählen und das materielle Opfer auf sich nehmen, das diese Wahl gewöhnlich bedeutet, wenn er diesen Beruf seiner selbst wegen anstrebt; und er wird daher eher ein Gelehrter als ein Intellektueller in unserem Sinn werden, während für den Radikalen der geistige Beruf sehr häufig ein Mittel zum Zweck ist, der beste Weg zu gerade dem Einfluss, den die berufsmässigen Intellektuellen ausüben. Die Sache ist daher wahrscheinlich so, dass keineswegs die intelligenteren Leute häufiger Sozialisten sind, sondern dass unter den Begabten es besonders die sozialistisch eingestellten sind, die sich mit Vorliebe den «intellektuellen» Tätigkeiten zuwenden, die ihnen in der modernen Gesellschaft einen so entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung geben.

Dass das sozialistische Denken die Jugend so besonders anspricht, verdankt es schliesslich nicht zuletzt seinem visionären Charakter: Der Mut zur Utopie ist für den Sozialismus eine Quelle der Kraft, die dem traditionellen Liberalismus leider fehlt. Der Sozialismus zieht den Intellektuellen nicht nur deshalb mehr an, weil die Spekulation über allgemeine Grundsätze Leuten, die nicht allzu sehr durch Kenntnis der konkreten Tatsachen beschwert sind, mehr Raum für das Spiel ihrer Einbildungskraft bietet, sondern auch, weil er einen legitimen Wunsch befriedigt, den Wunsch, die rationalen Grundlagen der sozialen Ordnung zu verstehen und ein Betätigungsfeld für ihre konstruktiven Anlagen zu finden. Der Intellektuelle interessiert sich seiner ganzen Einstellung nach nicht für technische Details oder praktische Schwierigkeiten. Was ihn verlockt, ist die Schau des Ganzen, die Möglichkeit einer intellektuellen Erfassung der sozialen Ordnung, wie sie ein rationell geplantes System zu bieten verspricht.

Die Tatsache, dass die spekulativen Konstruktionen des Sozialismus dieses charakteristische Bedürfnis der Intellektuellen besser befriedigten als das Programm des Liberalismus, wurde dem Einfluss des letzteren zum Verhängnis. Nachdem die wesentlichen Forderungen des liberalen Programms erfüllt waren, wandten sich die liberalen Denker vorwiegend Einzelproblemen zu und vernachlässigten die Fortbildung der philosophischen Grundlagen; der Liberalismus hörte damit auf, ein lebendiges Problem zu sein, das zu geistiger Arbeit reizte. Daher sind es schon seit mehr als einem Jahrhundert fast ausschließlich die Sozialisten gewesen, die sich ernstlich mit einem Programm für die künftige Entwicklung der Gesellschaft auseinandersetzten und ein klar umrissenes Gedankensystem zu bieten hatten, das zu eindeutigen Lösungen der konkreten Einzelprobleme zu führen schien. Auch wenn – wie ich glaube – dieses System an inneren Widersprüchen krankt und jeder Versuch, es in die Praxis umzusetzen, etwas ganz anderes hervorbringen muss, als sie erwarten, so ändert das doch nichts daran, dass ihr Programm für die künftige Entwicklung das einzige war, das tatsächlich die Änderungen der gesellschaftlichen Ordnung beeinflusste. Die Sozialisten gewannen die Unterstützung der Intellektuellen vor allem, weil sie die einzige Gruppe waren, deren praktische Forderungen sich auf eine allgemeine philosophische Grundlage stützten und ein theoretisches System aufbauten, das neue Probleme und Horizonte eröffnete, an deren Erörterung die Intellektuellen ihre besondere Begabung betätigen konnten.

So kam es, dass tatsächlich die Entwicklung während dieser Periode nicht durch einen Wettstreit gegensätzlicher Ideale, sondern nur durch den Gegensatz zwischen dem tatsächlichen Zustand und dem Ideal einer möglichen künftigen Gesellschaft bestimmt wurde, das die Sozialisten allein ständig vor den Augen der Öffentlichkeit hielten. Alle anderen Programme, die als scheinbare Alternativen angeboten wurden, waren nicht wirkliche Alternativen, sondern Kompromisse oder Mischformen zwischen den extremeren Typen des Sozialismus und der bestehenden Ordnung. Alles, was notwendig war, um einen sozialistischen Vorschlag jener grossen Zahl von Menschen akzeptabel erscheinen zu lassen, die glauben, dass die Wahrheit immer in der Mitte zwischen den Extremen liegen muss, war, dass irgendjemand noch extremere Forderungen stellte. Die Richtung, in der sich die Entwicklung bewegen musste, schien eindeutig festgelegt, und die einzige offene Frage war, wie rasch und wie weit wir uns in dieser Richtung bewegen müssten.

VI.

Die Bedeutung der besonderen Anziehungskraft, die der Sozialismus gerade durch seinen spekulativen Charakter auf die Intellektuellen ausübt, zeigt sich am deutlichsten, wenn wir die gegenwärtige Stellung des sozialistischen Theoretikers mit der des Liberalen alten Schlages vergleichen. Aus diesem Vergleich werden sich auch die Lehren ergeben, die wir aus einer zutreffenden Würdigung der geistigen Kräfte ziehen müssen, die gegenwärtig die Grundlagen einer freien Gesellschaft untergraben. Einer der wichtigsten Umstände, der heute den Einfluss des liberalen Denkers auf die öffentliche Meinung beschränkt, ist paradoxerweise gerade die Tatsache, dass er meist noch grösseren Einfluss auf die laufende Politik ausüben kann: Er ist dadurch nicht nur weniger geneigt, sich auf langfristige Spekulationen von der Art einzustellen, welche die Stärke der Sozialisten ist, sondern scheut sich sogar davor, weil er dadurch seinen Einfluss auf die Lösung der Tagesprobleme beeinträchtigen würde. Diesen Einfluss verdankt er seinem Ansehen bei den Repräsentanten der bestehenden Ordnung und dieses Ansehen würde er gefährden, wenn er sich auf «unpraktische» Spekulationen einliesse. Sein Einfluss beruht darauf, dass er den Ruf hat, «praktisch», «vernünftig» und «realistisch» zu sein. Solange er sich mit den drängenden Problemen des Tages befasst, kann er nicht nur unmittelbar Gutes bewirken, sondern wird auch materiellen Erfolg und Einfluss in jenen Kreisen haben, die bis zu einem gewissen Grad seine Ansichten teilen. Aber die Männer der Praxis, durch die er wirken muss, haben für jene Spekulationen über allgemeine Prinzipien nicht viel übrig, die die geistige Atmosphäre der Zukunft bestimmen. Wenn er sich ernstlich auf solche langfristige Spekulationen einlässt, so läuft er Gefahr, von jenen bald als unorthodox oder sogar als halber Sozialist betrachtet zu werden, weil er nicht bereit ist, die bestehenden Zustände mit jener freien Gesellschaftsordnung zu identifizieren, die er anstrebt.

Widmet sich solch ein liberaler Denker aber trotzdem den Problemen der tiefergehenden Reformen, die wünschenswert scheinen, so muss er bald feststellen, dass es gefährlich ist, sich zu eng mit den Mächten zu verbinden, die anscheinend seine Position vertreten. Es gibt in der Tat zurzeit kaum eine undankbarere Aufgabe als gerade jene, deren Lösung so besonders dringend ist, nämlich die Fortbildung der philosophischen Grundlagen, auf denen sich eine freie Gesellschaft weiterentwickeln kann. Wer sich an ihr versucht, muss bereit sein, einen grossen Teil der bestehenden Institutionen zu erhalten, und erscheint daher den Intellektuellen, die ihrer Phantasie freieres Spiel lassen, als ein zaghafter Verteidiger des Bestehenden, während die Praktiker ihn gleichzeitig als weltfremden Theoretiker betrachten werden. Nicht radikal genug für jene, die in der Welt leben, in der die Gedanken leicht beieinander wohnen, ist er zugleich doch viel zu radikal für die, die nur sehen, wie sich die Sachen hart im Raume stossen. Wenn er sich der Unterstützung der Praktiker versichern will, verdirbt er es sich zugleich mit jenen, von denen die Verbreitung seiner Ideen abhängt. Er muss vorsichtig alles vermeiden, was irgendwie extravagant oder übertrieben erscheinen könnte. Denn während der sozialistische Theoretiker sich scheinbar auch durch den albernsten Vorschlag nicht diskreditiert, so ist das Ansehen des liberalen Denkers doch sofort erschüttert, wenn er sich auch nur einmal auf eine unpraktische Idee festlegt. So unabhängig er sich auch erhalten mag, seine Pläne werden doch den Intellektuellen nie kühn und spekulativ genug erscheinen im Vergleich zu den radikaleren Plänen eines Neubaus der Gesellschaft, die ihre unbeschwertere Einbildungskraft fesselt.

Es scheint fast, als ob in einer Gesellschaft, in der die Grundvoraussetzungen der menschlichen Freiheit schon verwirklicht sind und der weitere Fortschritt im wesentlichen Einzelheiten betreffen muss, das liberale Programm notwendig den Zauber verlöre, den eine völlige Neukonstruktion ausübt. Um den weiteren Fortschritt zu würdigen, der innerhalb des Rahmens dieses Systems möglich erscheint, ist grösseres Verständnis des Funktionierens dieses Systems erforderlich, als der durchschnittliche Intellektuelle besitzt. Die Erörterung dieser schrittweisen Verbesserungen muss sich auf einer viel realistischeren Ebene bewegen als die mehr revolutionären Programme; sie erhält dadurch eine Form, die dem Intellektuellen nicht behagt, und macht eine Auseinandersetzung mit einer Type von Menschen notwendig, die ihm widerstreben. Die Männer der Praxis, welche die Details der bestehenden Ordnung genau kennen, sind meist auch persönlich daran interessiert, dass gewisse Elemente dieser Ordnung erhalten bleiben, auch wenn sie durch keine allgemeinen Grundsätze zu rechtfertigen sind. Und im Gegensatz zu den Idealisten, die nach einer völlig neuen Ordnung streben und dabei naturgemäss die Hilfe des Theoretikers suchen, haben die Verteidiger der bestehenden Ordnung gewöhnlich wenig Achtung für ihn, weil sie überzeugt sind, dass sie die entscheidenden Probleme viel besser verstehen als er.

Das grosse Hindernis, das heute den Mann der Praxis, dem die Erhaltung einer freien Gesellschaft wirklich am Herzen liegt, von den Kräften isoliert, die die Entwicklung der öffentlichen Meinung bestimmen, ist sein eingewurzeltes Misstrauen gegen alle theoretische Spekulation. Dieses und sein Hang zur Orthodoxie richten eine schier unübersteigbare Mauer zwischen ihm und jenen Intellektuellen auf, die dasselbe Ziel verfolgen und deren Unterstützung unentbehrlich ist, wenn seine Ideale siegen sollen. Wenn diese Einstellung auch nur zu verständlich ist bei Männern, die ein System verteidigen, weil es sich praktisch bewährt hat, und denen seine intellektuelle Rechtfertigung unwesentlich erscheint, so ist sie doch verhängnisvoll für den Fortbestand dieses Systems. Jede Orthodoxie, jeder Anspruch, dass ein Gedankensystem als endgültig betrachtet und in seiner gegenwärtigen Form dauernd herrschend bleiben muss, stösst unvermeidlich alle Intellektuellen ab. Eine Einstellung, welche die Menschen danach beurteilt, wie vollständig sie die anerkannten Ansichten teilen, wie weit sie als «verlässlich» anzusehen sind und wie weit man mit Sicherheit erwarten kann, dass sie in allen Punkten die gutgeheissenen Anschauungen vertreten, muss die Unterstützung der Kreise verlieren, die in der modernen Gesellschaft die Entwicklung der öffentlichen Meinung bestimmen. Für den Intellektuellen bildet die Möglichkeit, an den herrschenden Ansichten Kritik zu üben und mit neuen Ideen zu experimentieren, die Atmosphäre, die er zu seiner Existenz braucht. Ein System, das dafür keine Gelegenheit bietet, macht ihn sich zum Feind und ist daher in einer Gesellschaft, die, wie die unsrige, auf seine Dienste angewiesen ist, dem Untergang geweiht.

VII.

Es mag sein, dass eine freie Gesellschaft, wie wir sie gekannt haben, die Keime ihrer eigenen Zerstörung in sich trägt, dass die Freiheit, wenn sie einmal errungen ist, als selbstverständlich hingenommen und nicht mehr wirklich geschätzt wird und dass das freie Wachstum der Ideen, das zu einer freien Gesellschaft gehört, schliesslich zur Zerstörung der Grundlagen dieser Freiheit führt. Im Augenblick scheint es fast, als ob in den Ländern, die noch nicht erfahren haben, was der Verlust der Freiheit bedeutet, sie als Ideal für die Jugend wenig bedeutet. Anderseits kann man in Deutschland und verschiedenen andern Ländern beobachten, wie für junge Menschen, die nie eine freie Gesellschaft gekannt haben, die Aufgabe, eine solche Gesellschaft aufzubauen, dieselbe Anziehungskraft ausüben kann, wie das die sozialistischen Programme während der letzten hundert Jahre getan haben. Viele Besucher Deutschlands in den letzten Jahren haben die Erfahrung gemacht, dass dort unter der studentischen Jugend eine Diskussion der Grundlagen einer liberalen Gesellschaft einen stärkeren Widerhall findet, als das in den westlichen Demokratien der Fall ist. Aber auch in England scheint sich unter der Jugend in allerjüngster Zeit ein neues Interesse für die Grundlagen des wahren Liberalismus zu zeigen, das vor wenigen Jahren nicht bestand.

Heisst das, dass wir die Freiheit erst schätzen lernen, nachdem wir sie verloren haben, dass die ganze Welt zunächst durch eine dunkle Periode sozialistischen Totalitarismus hindurchgehen muss, bevor Aussicht auf ein Wiederaufstehen der Freiheit besteht? Vielleicht ist das unvermeidlich, aber wir müssen hoffen, dass es nicht so ist. Freilich, solange die Kreise, die auf längere Sicht die Entwicklung der öffentlichen Meinung bestimmen, in ihren sozialistischen Überzeugungen verharren, wird diese Entwicklung fortdauern. Ihre Richtung kann sich nur ändern, wenn ihnen ein neues Programm geboten wird, das ihre Einbildungskraft gefangen nimmt und das die Schaffung einer freien Gesellschaft wieder zu einer geistigen Tat, einem Akt des Mutes macht. Was uns heute mangelt, ist eine liberale Utopie, ein Programm, das weder eine blosse Verteidigung des Bestehenden ist, noch einfach als ein verwässerter Sozialismus erscheint, ein liberaler Radikalismus, der weder die Empfindlichkeiten der bestehenden Interessengruppen schont noch glaubt, so «praktisch» sein zu müssen, dass er sich auf Dinge beschränkt, die heute politisch möglich erscheinen.

Was der echte Liberalismus vor allem aus dem Erfolg der Sozialisten lernen muss, ist, dass es ihr Mut zur Utopie war, der ihnen die Unterstützung der Intellektuellen gewann und damit jenen Einfluss auf die öffentliche Meinung gab, der schrittweise das möglich machte, was eben noch unmöglich schien. Wer sich stets auf das beschränkt, was im gegebenen Stand der Meinungen durchführbar scheint, hat immer noch erkennen müssen, dass bald auch das politisch unmöglich wurde, weil Kräfte, auf die er keinen Einfluss genommen hat, die öffentliche Meinung geändert haben. Wenn es uns nicht gelingt, die Voraussetzungen einer freien gesellschaftlichen Ordnung wieder zu einer brennenden geistigen Frage und ihre Lösung zu einer Aufgabe zu machen, die den Scharfsinn und die Erfindungsgabe unserer besten Köpfe herausfordert, dann sind die Aussichten für den Fortbestand der Freiheit tatsächlich gering. Wenn wir aber jenen Glauben an die Allmacht von Ideen wiedergewinnen können, der das vornehmste Merkmal des Liberalismus in seiner grossen Periode war, muss der Kampf noch nicht verloren sein. Eine geistige Wiedergeburt des Liberalismus ist in vielen Teilen der Welt schon im Gange. Die grosse Frage ist, ob sie noch rechtzeitig dazu dienen kann, um den Verfall unserer Zivilisation zu verhüten.


Erschienen: Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 29 (1949-1950), Heft 5

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