Die Illusion der absoluten
Sicherheit erstickt Kreativität und Lebensfreude
Immer detailliertere Vorschriften versprechen, uns vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Doch sie machen das Leben nur langweilig und halten uns gefangen in der Komfortzone. Da hilft nur eines: mehr Chaos wagen!

Neulich in Kanada bekam ich den «Nanny State» in seiner ganzen Absurdität zu spüren. Eine staatliche Inspektorin besuchte mein Ferienhaus auf Prince Edward Island, um es offiziell als Ferienwohnung abzunehmen. Am Ende ihrer Checkliste fehlte nur ein kleines Detail: eine Fussmatte neben dem Bett. «Safety first, Sir!», betonte sie und machte mir klar: Ohne diesen Teppich könnte ich beim Aufstehen stürzen. Und auch: Ohne diesen Teppich ist keine Vermietung möglich. Ich holte also gehorsam ein Stück Flickenteppich, und schon gab’s grünes Licht.
Die Szene war für mich wie ein Sinnbild dafür, wie weit wir es mit unseren Regeln und Vorschriften inzwischen treiben. Wo hört verantwortungsvolle Vorsicht auf, und wo beginnt die «Strangulation durch Regulation»?
Im Grunde begegnet uns dieses Phänomen überall: Wir räumen ständig jede kleine Stolperfalle aus dem Weg und reden uns ein, das sei fortschrittlich. Doch je mehr wir alles abfedern, desto weniger Spielraum bleibt für Kreativität, Spontaneität und echte Lebensfreude. Der Eindruck, wir würden in einem sterilen Kokon der Sicherheit ersticken, ohne jemals richtig zu atmen, trügt nicht.
«Je mehr wir alles abfedern, desto weniger Spielraum bleibt für
Kreativität, Spontaneität und echte Lebensfreude.»
Hier setzt der australische Bestsellerautor Markus Zusak an, bekannt durch «The Book Thief». In seinem neuen Werk «Three Wild Dogs (and the Truth)» zeigt er, was passiert, wenn man sich nicht pedantisch absichert, sondern das Chaos bewusst einkalkuliert: Zusak adoptiert die drei «Problemhunde» Frosty, Archer und Reuben, die sein Leben seitdem in permanentem Alarmzustand halten. Mal wird ein Opossum in einem öffentlichen Park gerissen, was ein blutiges Tohuwabohu auslöst, mal muss er sich mit aufgebrachten Nachbarn, teuren Tierarztbesuchen und Polizeianfragen herumschlagen.
Warum nur wählt er freiwillig den Weg der Ungewissheit? Weil sich im Chaos eine Intensität entfaltet, die unserer hochregulierten Welt oft fehlt. Wenn wirklich gar nichts vorhersehbar ist, bleibt uns nur noch die eigene Fähigkeit, spontan zu handeln und Lösungen zu finden. Indem wir uns ständig vor potenziellen Gefahren schützen, nehmen wir uns die Chance, an ihrer Überwindung zu wachsen.
Die pure Wucht des Daseins
Je stärker jedoch die «Strangulation durch Regulation» zunimmt, desto grösser wird unsere Ohnmacht, wenn wir doch einmal in eine brenzlige Lage geraten. Wer nie hinfällt, weiss nicht, wie man sich wieder aufrappelt. Und wer alles von staatlichen Vorgaben und Verboten erstickt sieht, verliert irgendwann den Mut, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Zusaks Buch ist kein süsses Hundeabenteuer, sondern eine Erinnerung daran, dass wir uns in unserer Komfortzone selbst lähmen. Der Preis für diese totale Sicherheit ist erstickende Langeweile.
Die Kehrseite der Übervorsicht zeigt sich auch in Zusaks Leben: Er kommt mit einer Flut von Problemen in Kontakt, die er sonst nie gehabt hätte – und das macht seine Geschichten so lebendig! Echte Freude. Echtes Leiden. Echte Hingabe. Wer ständig die perfekten Bedingungen abwartet, bleibt in Watte gepackt und erfährt kaum je die pure Wucht des Daseins. Kein Wunder, leiden immer mehr Menschen an psychischen Krankheiten.
«Wer ständig die perfekten Bedingungen abwartet, bleibt in Watte
gepackt und erfährt kaum je die pure Wucht des Daseins.»
Vielleicht wird es Zeit, den Druck der «Strangulation durch Regulation» selbst ein wenig zu lockern. Wagen Sie einen Schritt ins Ungewisse, statt auf Nummer sicher zu gehen. Lassen Sie sich auf ein spontanes Projekt ein, das Sie nicht zu 100 Prozent unter Kontrolle haben. Oder verzichten Sie einfach mal auf die vorgeschriebene Fussmatte. Denn erst wenn wir uns trauen, ab und zu gegen die Regelflut zu schwimmen, begreifen wir, was es heisst, wirklich zu leben.