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Die Illusion am Rhein
Chrigel Farner, zvg.

Die Illusion am Rhein

Der Damhirsch Peter, das Munotglöcklein, die Abstimmungspflicht: Von Deutschland ummantelt und durch den Rhein vom übrigen Schweizer Festland getrennt ist Schaffhausen schon fast Ausland.

Knarrend öffnen sich die Fensterläden der Riegelhäuser, weisse ­Pappelwolleflocken tanzen durch die Luft. Haubentaucher flitzen quer übers Wasser, Unterteller klappern von einer der beschirmten Terrassen her, aufgeworfene Wellen schnalzen an den Pfosten eines Bootsstegs. Natürlich scheint die Sonne. Stein am Rhein ist eine Zeitmaschine, die jeden Morgen wieder auf denselben Sommertag vor über hundert Jahren zurückspringt. Hier kann Gott seine Hände getrost in den Schoss legen, es gibt für ihn absolut nichts zu tun.

Ich stehe auf jener Rheinbrücke, wo der Hochrhein vom Bodensee herkommend aus dem Kanton Thurgau in den Kanton Schaffhausen fliesst. Mit dem stoischen Unter­nehmertum einer Rolltreppe zieht der Fluss in die dreidimensionale Postkartenansicht hinein. Über seinen Linien liegt ein Friede, wie er im urbanen Leben nur noch auf Friedhöfen anzutreffen ist. Und tatsächlich diente manch verschwiegene Aue weiter den Rhein hinunter, nach den Auseinandersetzungen der Kriege um 1799, als Massengrab für die Gefallenen. Mein Onkel Paul, ein leidenschaftlicher Taucher, vermachte dem Heimatmuseum mehrere Säbel und anderes Kriegsbesteck, das er aus dem Fluss fischte. Ein paar sogenannte Wiffen ragen wie Marterpfähle aus dem Wasser. Die grün-weissen Verkehrszeichen auf Eichenpfählen markieren die Fahrrinne. Die grüne Seite ist für die Kursschiffe, die weisse für die Boote mit weniger Tiefgang.

Als Kind tauchte ich gerne bis zum Grund der Wiffen, wo sich knapp über der zerklüfteten Flusslandschaft kleine Grüppchen von Aalen zusammenfanden, die wirkten, als wollten sie hinter den Pfählen versteckt in Ruhe eine rauchen – endlich, nach der weiten Reise den Atlantik hoch und von Holland aus den Spiessrutenlauf durch unzählige Kraftwerke und Schleusen gegen den Rheinstrom absolvierend, bis hierher, magnetisch an­gezogen vom Bodensee. Und dann komme ich und störe sie beim Paffen… Selbst den Rheinfall, immerhin der zweitgrösste Wasserfall auf dem europäischen Kontinent, konnten sie überwinden. Einst bezwangen ihn auch Lachse. Im 19. Jahrhundert war der Fluss so fischreich und die Lachsfänge so gut, dass der Lachs die Speise für arme Leute und Bedienstete wurde. Das ging so weit, bis ein Gesetz verabschiedet wurde, wonach Bedienstete mindestens ein Mal in der Woche eine andere Nahrung erhalten mussten. Obwohl der Hochrhein noch immer sehr fischreich ist, gibt es darin keine Lachse mehr. Es wird versucht, sie wieder bei uns anzusiedeln. Dazu müssen aber erst alle Kraftwerke und Staustufen bis zum Meer für die Fische passierbar gemacht werden.

Das zeitlose Grenzgebiet

Nachdem ich durch die für ihre historischen Fassaden­bilder berühmte Altstadt spaziert bin, stehe ich, zwischen dem Parkplatz für die Touristenbusse, vor einem kleinen Torbogen aus rotem Stein. Er erinnert an das Portal aus Frau Holles Himmelreich – märchenhaft wie so vieles in Stein am Rhein. Ich spaziere hindurch. Gottlob, nichts passiert. Dahinter blickt man in eine kleine Grube, eine Art Miniausgabe des Berner Bären­grabens, auch wenn darin kein Bär, sondern ein Biber sitzt. Auf einer Infotafel ist zu lesen: «Schaffhausen ist der einzige Kanton mit obligatorischer Abstimmungspflicht.» Kann es sein, dass der Text mit einem anderen Schild vertauscht wurde? Was hat das mit dem Biber zu tun (Frage an die Kantonsverwaltung)? Der Biber ist übrigens aus Holz.

Traditionell gehört Schaffhausen zu den reformierten Kantonen. Mit einer Ausnahme, der im Bibertal direkt an der deutschen Grenze gelegenen katholischen Gemeinde Ramsen, von wo aus man in die Vulkanlandschaft am Ho­hentwiel blicken kann. Vor mir hält ein Regionalbus, der rundum mit dem Panoramabild eines blühenden Sonnenblumenfeldes eingekleidet ist, als wäre er selbst ein Stück Sonnenblumenfeld, das knallgelb tutend in die ebenfalls knallgelben Rapsfelder Richtung Ramsen eintaucht. Und dann heisst die Haltestelle, von der aus es nicht mehr weit bis zum Atelier des Künstlers Hansueli Holzer ist, auch noch «Sonne». In meiner Jugendzeit machten wir uns gelegentlich mit Ölfarbkasten und Feldstaffelei ausgerüstet auf die Pirsch, um die Landschaft um Ramsen in Pinsel- oder Federstrichen einzufangen. Holzer war mein Lehrmeister, und ich danke meiner Mutter für die Vermittlung und die Idee dazu sowie Hansueli Holzer für die Weitergabe seines Wissens. Er widmete vielen imposanten Bäumen rund um Ramsen teilweise mehrere Holzschnitte, auf denen die besondere Stimmung der Gegend spürbar ist, jene Aufgehobenheit wie in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Das nicht vorhandene Ticken im Grenzgebiet. Während in Stein am Rhein die Zeit täglich zurückgedreht wird, ist sie hier gar nicht mehr vorhanden.

Was eigentlich ins Wappen von Schaffhausen gehört, illustriert von Chrigel Farner.

Das Läuten des Munot

Anders in Schaffhausen, wo es manchmal sogar regnet. Bim, bam, bim, bam, bim, bam – der Damhirsch Peter, benannt nach dem Stadtpräsidenten der Kantonshauptstadt, wackelt vom Burggraben aus mit den Ohren. Bim, bam, bim, bam und so weiter. Wie allabendlich um Punkt 9 Uhr verrichtet die Munotwächterin ihr Werk und betätigt für fünf Minuten die letzte von Hand geläutete Alarmglocke der Schweiz. Von der Turmspitze der Munotfestung aus wandert ihr Hall über den Emmersberg, den Weinreben entlang hinunter in die Altstadt zu den Parkplätzen am Flussufer zur Rhy-Badi, dem grössten noch erhaltenen Kastenbad der Schweiz. Das Läuten des Munotglöckli begleitet die Ablösung der Mauer­segler mit den Abendseglern, vermischt sich mit dem Verkehr auf der Rheinbrücke Feuerthalen, die vom Kanton Schaffhausen hinein in den Kanton Zürich und als Strasse bis in den Kanton Thurgau führt. Sogar in Deutschland ist das Läuten zu vernehmen. Zugegeben, eine Riesenglocke ist dafür gar nicht nötig, da alles nahe aufeinanderhockt.

Im Mittelalter kündigte das Läuten übrigens nicht nur die Schliessung der Stadttore, sondern auch das Ende des Schankbetriebes in den Wirtshäusern der Stadt an. «Jetzt kommen sie wieder vom Baum runter», hiess es dann. Gemeint waren die Gäste der «Linde», einer Gartenwirtschaft, die im Geäst einer gewaltigen Linde eingerichtet wurde. Die Wirtschaft zählte 18 Tische und sogar einen Brunnen. Sie soll sehr beliebt gewesen sein. Bis eines Tages die Sturmglocke ausserhalb der üblichen Zeit geschlagen wurde: Ein Orkan war im Anmarsch, kehrte in die Gartenwirtschaft ein und hinterliess sie geknickt.

Kindheit in den 1970er-Jahren

Knapp unterhalb von Feuerthalen, im Schatten des Munots, lag die Anlagestelle des Weidlings von Hulda und Gottlieb Farner. Mein Vater Meinrad war der jüngste ihrer sechs Sprösslinge. Der Weidling, ein neun Meter langer Holzkahn, besass einen Motor und Sitzgelegenheiten für zehn bis zwanzig Passagiere, für die alle sich stets ein Plätzchen fand, sonst musste man sich eben schmal machen – ob am Heck neben dem Motor, in der Mitte auf einem der «zwa» oder «dra» Sitzbretter oder am Bug vorne über der Holzluke, dem begehrtesten Platz unter dem Zuwachs, so auch bei mir. Wenn der Kahn schnell den Fluss hochklatschte, konnte man von da aus, auf dem Bauch liegend, die Hand scharf wie eine Haifischflosse ausgestreckt, das Wasser zersäbeln oder entgegenkommende Seegrassträhnen aufsammeln und dann ins Boot schmeissen. Schnell war alles voll mit Flohkrebsen, Würmchen, Schnecken, Wasserasseln, Köcherfliegennestern, Muscheln und anderem Gezappel unterschiedlichster Farben und Formen. Das Grasfischen diente keinem höheren Zweck, das Gras wurde weder gegessen noch machten wir Klamotten daraus, es waren die 1970er-Jahre, wo alle pausenlos die stärksten Zigaretten rauchten und man noch keine Handys ins Wasser werfen konnte. Darum warf man eben Seegras ins Boot und anschliessend wieder ins Wasser zurück, zumindest wir Kinder.

So tuckerten wir also, meist am Wochenende, Füdli an Füdli mit Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins im Weidling den Rhein hoch, Richtung Diessenhofen, ankerten an einer der bewaldeten Stellen, sammelten Holz für ein Feuer und brieten Cervelats, Fische oder andere Tiere, und wenn die Knochen weggeräumt waren, wurden auch mal Lieder gesungen. Obwohl es mitten in den 70ern war, keine von Dylan, Joplin oder Cohen – dafür welche über die Gilberte de Courgenay, das Haus von Rocky Docky oder über Schaffhausen selbst mit Dieter Wiesmanns «Blos e chlini Stadt». Gelegentlich kam auch der Herrgott vor oder Engel, aber die Texte waren nicht so wichtig, man sammelte zusammen, was man fand, und übergab es wie Brennmaterial nach und nach dem Feuer.

Schaffhausen ist eine Illusion

Wenn die letzte Glut erloschen war, legte man wieder ab und liess sich in der Stille der Nacht, überdacht von Sternen, den Rhein zurück Richtung Anlegestelle treiben. Man konnte noch mal vom Kahn aus in die nasse Dunkelheit springen und sich dem Strom überlassend vorstellen, weiter dem Rhein und dem Kanton entlangzutreiben –  vorbei an Schaffhausen und Neuhausen, dann den Rheinfall, diese lautstarke Oase, hinunter und mit dem verebbenden Rauschen durch bewaldetes Gebiet. Man würde angenagte Baumstämme passieren, ein Fährschiff, Fischreiher, das «Heute Ruhetag»-Schild mit dem Falkenbierlogo vor der Tür einer Gaststätte. Bei Rüdlingen winkte man der Reisegruppe auf Fahrrädern zu, die über die Rebhügel fährt, wo sie in einer Besenbeiz Blauburgunder, Schüblig und ein Hofplättli erwarten. Bei Buchberg verlässt der Rhein den Kanton Schaffhausen und fliesst in den Kanton Zürich. Er zieht sein Ding durch – Schwarzwald, Holland, Nordsee, die grosse Welt –, und vielleicht macht man es wie die Aale und schwimmt in die Sargassosee, um zu laichen.

Bevor wir aber zu weit abdriften, machen wir noch mal einen Sprung zurück in den Kanton Schaffhausen – nach Thayngen, wo vor über 10 000 Jahren in der prähistorischen Wohnhöhle Kesslerloch die ersten Menschen lebten und wo vor über 30 Jahren die Band «Der Böse Bub Eugen» gegründet wurde. Sowohl dieser Gruppe wie auch dem 2020 verstorbenen Sänger Oliver Maumann, besser bekannt als Olifr. M. Guz, könnte die Kantonsverwaltung, wenn sie das Infoschild neben dem Holzbiber auswechselt, gleich ein Denkmal setzen. Vielleicht mit folgendem Zitat, das einem Stück von Guz’ bekanntester Band entstammt, den Aeronauten: «Schaffhausen ist eine Illusion, wenn ich mich umdreh’, ist es weg.»

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