«Die Hyperinflation hat die
Menschen und insbesondere die Ärmsten gelehrt, dass
die Regierung das Problem ist»
Der Anwalt und Aktivist Antonio Canova glaubt, dass Venezuela sich politisch wandeln wird. Private Mikroschulen, die Kinder abseits des dysfunktionalen staatlichen Bildungssystems ausbilden, geben Hoffnung.
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Antonio Canova, am 28. Juli finden in Venezuela Wahlen statt. Glauben Sie, dass sie demokratisch sein werden?
Antonio Canova: Nein. Meine Organisation Un Estado de Derecho hat das Wahlsystem untersucht. Wir stellten fest, dass die Wahlen weder fair noch demokratisch waren. In den letzten fünf Jahren hat die Regierung noch stärker versucht, die ganze Gesellschaft zu kontrollieren.
Wie?
Auf viele Arten, aber die wichtigste sind die staatlichen Schulen. Die Schulen wurden von der Regierung politisch vereinnahmt. Die Kinder werden nicht nur indoktriniert, sondern ihnen wird auch der Glaube genommen, dass sie in der Lage seien, aus eigener Kraft ihre Zukunft zu gestalten. Die Schulen brechen das Selbstvertrauen der Schüler.
Wie reagiert die Bevölkerung darauf?
Angesichts des Zustands des staatlichen Bildungssystems haben die Familien selbst ohne jegliche Planung oder Koordination begonnen, Lehrer(inne)n aus den Gemeinden die Ausbildung ihrer Kinder zu übertragen. Die Familien zahlen fünf Dollar pro Woche, damit ihre Kinder bei diesen Lehrern ausserhalb des Systems lernen. Dazu haben diese Lehrer(innen) «Mikroschulen» gegründet; manche haben 10 oder 20 Schüler, manche sind grösser. Sie sind über das ganze Land verstreut. Nach unseren Erhebungen lernen etwa 30 Prozent der Kinder in diesen informellen Schulen.
Und Ihre Organisation unterstützt diese Schulen?
Ja. Wir arbeiten daran, dieses System zu beobachten, zu messen, aber auch zu unterstützen und zu stärken. Es funktioniert nach dem Prinzip der spontanen Ordnung im Bildungssystem: alternativ, parallel, ungeplant. Nach unseren Untersuchungen lernen die Kinder dort wirklich etwas, sie sind glücklich und sicher. Trotz ihrer Armut zahlen Familien sogar für diese alternative Bildung. In Venezuela glauben viele Bildungsexperten, dass die Armen vom Staat unterrichtet werden sollten. Aber die Armen wollen nicht vom Staat unterrichtet werden, sie wollen eine freiere Bildung.
«Die Armen wollen nicht vom Staat unterrichtet werden, sie wollen eine freiere Bildung.»
Können private Schulen besser sein als die staatlichen und zugleich erschwinglich?
Definitiv, sie sind besser und billiger. Das staatliche Bildungssystem gibt sehr viel Geld aus für eine Struktur von 30 000 Schulen im ganzen Land, die nicht funktionieren. Der Kollaps des staatlichen Bildungssystems in Venezuela ist so gravierend, dass es offiziell nur zwei Unterrichtstage pro Woche gibt, nämlich Montag und Dienstag. Das hat die Familien dazu veranlasst, nach Alternativen zu suchen.
Wie ist Un Estado de Derecho entstanden?
Ich habe die Organisation 2010 mit Studenten meiner Universität gegründet. Wir begannen, die institutionelle, politische, wirtschaftliche und menschenrechtliche Situation in Venezuela zu untersuchen und zu dokumentieren. Zum Beispiel die Lage im Justizsystem: Die Gerichte sind seit Beginn der Ära Hugo Chávez von der Regierung übernommen worden. Wir haben 45 000 Urteile analysiert und geschaut, in welchen Fällen die Regierung gewonnen und in welchen sie verloren hat. Die Regierung hat nicht ein einziges Mal verloren. Das zeigt: Es gibt keine Gerechtigkeit in Venezuela. Das Land erfüllt die Definition einer Diktatur: eine Regierung, die ohne Gesetze und willkürlich regiert.
Mit diesen Aktivitäten machen Sie sich wohl viele Feinde in der Regierung. Haben Sie keine Angst?
Doch, ich habe grosse Angst. Die Regierung weiss, dass die Bewegung der Mikroschulen ihr schadet, aber bis jetzt hat sie nichts gegen uns getan, zumindest nicht direkt. Einmal waren wir in grosser Sorge. Im Dezember vergangenen Jahres wurden vier Personen, die uns nahestehen, verhaftet. Wir kauften sofort ein Flugticket für den nächsten Tag und flohen nach Spanien. Am Ende hat sich alles beruhigt, und im Februar kehrten wir nach Venezuela zurück. Das Gute ist, dass die Bewegung so stark wächst, dass sie sich verselbstständigt und unsere Organisation immer unwichtiger wird.
Wie sehen Sie die Situation in Venezuela im Allgemeinen? Wie wird sie sich in Zukunft entwickeln?
Ich glaube, dass sich in Venezuela viel verändern wird.
Warum sind Sie sich da so sicher?
Aus zwei Gründen. Erstens bin ich unverbesserlicher Optimist, sonst könnte ich nicht leben. Zweitens befinden wir uns in der besten politischen Situation, seit Chávez vor 25 Jahren an die Macht kam. Von 2017 bis 2021 litt Venezuela unter einer Hyperinflation. Der Bolívar war nichts mehr wert. Es gibt ihn zwar noch, aber er wird heute nur noch von der Regierung verwendet; wer kann, flieht in US-Dollar oder Kryptowährungen.
Haben Sie auch Bitcoin gekauft?
Klar, ich hatte Bitcoin und Dollar. Aber die Leute, die das nicht hatten, waren auf den Bolívar angewiesen. Die Hyperinflation hat die Menschen und insbesondere die Ärmsten gelehrt, dass die Regierung das Problem ist. Chávez kam 1999 an die Macht, weil viele Menschen glaubten, Venezuela brauche «einen starken Mann», der für Ordnung sorgen, die Korruption eindämmen und den Sozialstaat verbessern würde. Nach der Erfahrung der Hyperinflation denken die Menschen anders. Ohne funktionierendes Geld, ohne ein funktionierendes Tauschmittel brechen die Beziehungen zwischen den Menschen zusammen, es gibt keine Zusammenarbeit mehr, die Leute hören auf zu arbeiten. Warum sollte ich arbeiten oder ein Unternehmen gründen, wenn sich mein Einkommen ständig entwertet?
Wie genau hat diese Erfahrung das Denken der Menschen verändert?
Ich sehe die Veränderung an meiner Universität. Wenn ich 2015 in einer Vorlesung fragte: «Was ist wichtiger: Gleichheit oder Freiheit?», antworteten die Studenten: «Gleichheit!» Wenn ich die gleiche Frage heute stelle, antworten sie: «Freiheit!» In Venezuela sind heute sogar die Ärmsten Liberale. Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden.
«In Venezuela sind heute sogar die Ärmsten Liberale.
Die Menschen wollen in Ruhe gelassen werden.»
In Argentinien ist Javier Milei zum Präsidenten gewählt worden. Glauben Sie, dass in Venezuela etwas Ähnliches passieren kann?
Zu dem beschriebenen Stimmungsumschwung kommt hinzu, dass die Opposition zum ersten Mal geeint ist, und zwar durch eine Frau: María Corina Machado. Sie hat einen anderen Stil als Milei mit seinen Beleidigungen und Konfrontationen, aber ihre Botschaft ist dieselbe.
Die Regierung hat sie jedoch von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen.
Ja. Jetzt tritt die Opposition mit einem anderen Kandidaten an, einem bedächtigen Diplomaten, aber er hat María Corina hinter sich. María Corina darf nicht reisen, sie darf kein Flugzeug besteigen. Aber wo immer sie hingeht, kommen die Menschen, umarmen sie und sagen: «Du bist meine Hoffnung!» Gleichzeitig tun sich in der Regierung Risse auf. Sie besteht aus verschiedenen Fraktionen, die vereint waren, solange es ihnen nützte. Doch nun bröckelt der Zusammenhalt. Kürzlich wurde der ehemalige Ölminister verhaftet. Maduro steht mehr und mehr allein da. Auf der anderen Seite ist die Opposition geeinter.
Sie bleiben positiv gestimmt.
Selbst wenn die Wahlen nicht demokratisch sind, selbst wenn die Regierung betrügt, wo sie nur kann, glaube ich, dass es einen Wechsel geben wird und Maduro die Macht verliert. Dann würde es wie in Argentinien, nur besser.
Das Interview fand am Rande einer Konferenz der Rising Tide Foundation am Bodensee statt.