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Die heimliche Schönheits­königin
Panoramablick mit Abendsonne auf den Lac de Joux und das Joux-Tal im Winter. Bild: Switzerland Tourism / Stéphane Godin.

Die heimliche Schönheits­königin

Die Rückkehr in die Waadt nach drei Jahrzehnten zeigte mir: Es ist alles noch viel besser geworden am Lac Léman. Ein sentimentales Porträt eines Kantons.

Lisez la version française ici.

Die Waadt habe ich zweimal kennen- und liebengelernt. Anfangs der 1970er Jahre war ich als Korrespondent von «National-Zeitung» und «Badener Tagblatt» in Lausanne. Dann kam ich 25 Jahre später 2002 als Chefredaktor von «Le Matin» wieder an den Lac Léman. Und staunte, wie rasant der Kanton und seine Bevölkerung sich gewandelt hatten. Unverändert geblieben ist die hohe Lebensqualität in Lausanne und Umgebung. Die prachtvolle Landschaft mit dem Rebberg Lavaux. Der riesige See mit den Savoyer Alpen im Hintergrund. Das mediterrane Klima fast ohne Nebel. Das Gefühl, an einem Ferienort zu leben. Die Waadt ist ein grosser Kanton, in dem auf kurzer Distanz alle schönsten Landschaftsarten der Schweiz erreicht werden können. Einmalig. Es gibt sogar eine Wüste, eine Busstation namens «Désert», in Lausanne.

Ich war so begeistert das erste Mal, dass ich mir sagte: Ich muss hier wieder weg. Und vielleicht nach der Pensionierung wieder hierherkommen. Denn für einen jungen Menschen ist es in dieser Stadt am Hang von idealer Grösse zu schön, um zu arbeiten: Keine Verkehrsprobleme, ein riesiges Angebot an Schulen, Kultur, Theater, Museen. Und die Skipisten der «Portes du Soleil» sind nur eine Autostunde entfernt. Die lieblichen Juraberge mit ihren unendlichen Langlaufloipen noch näher. Kein Wunder, dass sich so viele Musiker, Schriftsteller, Denker, Autorennfahrer im letzten Jahrhundert an den Ufern des Lac Léman niedergelassen haben, von Igor Strawinsky über Charlie Chaplin bis Vladimir Nabokov, von Phil Collins über Audrey Hepburn bis Freddy Mercury. Und kein Wunder, dass in den Evaluationen der internationalen Firmen über die Lebensqualität der Städte Lausanne weit vorne steht und so viele Expats anzieht.

Zehn Jahre vor meiner Pensionierung wurde mir von Verleger Pierre Lamunière (Edipresse, heute Tamedia) ein Superjob angeboten. Mein Traum wurde wahr, ich kam zurück und habe es nie bereut. Meine Zürcher Freunde fragen mich regelmässig, wann ich wiederkomme. Sie denken, ein gutes Leben sei nur an der Limmat möglich. Weil sie die Waadt nicht kennen.

Höhlenbewohner vs. elastische Schnauzen

Als ich 2002 zurückkehrte, war ich angenehm überrascht, alles hatte sich zum Besten verändert. Die Waadt war in den 1970ern ein reaktionärer Landkanton; die Genfer sagen noch heute, zu Unrecht, er sei «rupestre», was ungefähr heisst, dass man hier auf dem Niveau der Höhlenbewohner lebe. Die Waadtländer zahlen es ihnen heim, indem sie ihnen das Grossmaul vorwerfen, wie es auf jedem Auto heisst: GE, Gueules Elastiques (GE), elastische Schnauze. Genfer und Waadtländer mögen sich nicht, das ist schlimmer als zwischen Zürchern und Baslern.

«Dass ihr Kanton plötzlich so intensiv ­bereist wird,

haben die Einheimischen mit gemischten Gefühlen aufgenommen.

‹Es ist schon schön bei uns, aber das ist vor allem für uns gemacht.›»

In jedem Kanton hat die Bevölkerung von alters her eine gewisse Mentalität, die trotz multikultureller Durchmischung immer wieder zum Vorschein kommt. Die Genfer sind stolz auf ihre Republik; sie gehören nur zur Schweiz, weil es in Frankreich schlimmer wäre. Die Walliser sind anarchisch veranlagt, beargwöhnen alles, was aus der Usserschwiiz kommt, ausser das Geld. Die Freiburger sind vertikal orientiert, haben einen direkten Draht ins Bundeshaus und zum Herrgott. Die Neuenburger sind von der preussischen Administration geprägt, nirgends gibt’s so viele Formulare. Die Jurassier sind stolz auf die Autonomie ihres kleinen und teuren Kantons, den ihnen niemand wegnehmen will.

Und die Waadtländer pflegen das Bewusstsein des stolzen Provinzlers, der niemandem etwas schuldig ist und alles Gute direkt vor der Tür findet. «Il n’y en a point comme nous» (Es gibt kaum Leute wie wir), ist noch heute ein geflügeltes Wort, das nicht ironisch zu verstehen ist. Als ich mich das erste Mal anmeldete bei der Einwohnerkontrolle, gab es drei Schalter: für Waadtländer, Confédérés und Ausländer. Heute gibt es nur noch einen. Und in der Regierung sitzen auch nur noch zwei Männer. Aber fünf Frauen.

Weisswein am Vormittag

Aber man spürt noch die Überreste des Untertanentums. Unter bernischer Herrschaft haben die Vaudois gelernt, ihre Meinung nur hinter vorgehaltener Hand zu sagen. Oder aber als «Il y a le pour et le contre» zu deklarieren: Es gibt das Für und das Wider. Noch heute besteht ihre Konfliktvermeidungsstrategie in Friedensangeboten, bevor es überhaupt knistert. Wer aus Zürich kommt, wo mit offenem Visier debattiert wird, stösst am Léman auf Unverständnis. Der sanfte Waadtländer findet sie arrogant und präpotent.

Die natürliche Abneigung gegen andere galt früher den Deutschschweizern, obschon jede zweite Bäckerei mit einem Deutschschweizer Namen angeschrieben war. Doch die Zuge­zogenen hüteten sich stets, Deutsch zu sprechen. «On parle français», ist ernst gemeint. Die Zeitung «Nouvelle Revue de Lausanne» der liberalen Partei forderte einst, dass die Lastwagen, die aus der Deutschschweiz ins Waadtland kommen, ab Murten nur noch Blachen mit französischen Aufschriften tragen sollten.

«Für einen Deutschschweizer bist du noch ganz nett», hörte ich in den Siebzigern mehrmals. Nur einmal in vier Jahren hat mir damals eine Persönlichkeit angeboten, ein Interview auf Deutsch zu führen. Es war der Programmchef des welschen Fernsehens Bernard Béguin, ein veritabler Monsieur. Dafür kriegte ich überall, auch beim Lausanner Stadtpräsidenten Georges André Chevallaz und seinem Nachfolger Jean-Pascal Delamuraz und selbst beim Direktor der Psychiatrischen Klinik Cery, schon um zehn Uhr morgens ein Glas Weisswein angeboten.

Heute wird in den Waadtländer Büros Kaffee getrunken. Lausanne ist eine multikulturelle Stadt geworden, mit portugie­sischen und afrikanischen Buschauffeuren, Zahnärzten und Anwälten, und mit Quartieren, wo man fast nur Schwarze antrifft. Auf der Place de la Riponne, dem schönsten Platz der Stadt, hat die rot-grün beherrschte Gemeinde eine überdachte Anlage für Alkis und Drögeler aller Nationen gebaut. Der Kanton liebt und pflegt seine Ausländer, auch die schwierigen. Über lange Jahre hat er das Bettlerwesen der Roma-Familien geduldet und sich jahrelang mit dem Bund gestritten, um eine Hundertschaft längst ausgewiesener Menschen hier zu behalten. Und auch die Reichen: Kein Kanton hat so viele Steuerabkommen mit ausländischen ­Millionären ausgehandelt.

Geglückte Schulreformen, tolerante Polizei

Für einen Bieler, der das bernische Schulsystem erlebt hat, war mein grösster Schock damals die Paukerschule: Schon im Kindergarten brachten die Kinder jeden Tag Noten nach Hause. Schüler aus bescheidenen Verhältnissen wurden mit einem absurden ­Prüfungssystem systematisch vom Besuch der Oberstufe in der Stadt abgehalten. Um diesen Kasernen zu entkommen, blühten Privatschulen auf. Wer es sich leisten konnte, ersparte seinen ­Kindern die öffentliche Schule, die weit hinter dem Standard der Berner oder Basler nachhinkte.

Heute gehören sie zu den besten. Sie haben einschneidende Reformen durchgemacht, die modernen Lehrmethoden der Privatschulen übernommen und sehr früh sogenannte «Classes d’ac­cueil» (Empfangsklassen) eingeführt, in denen Kinder aus anderen Sprachgebieten zuerst in Französisch geschult werden. Die höheren Schulen gehören zur Weltspitze. Die EPFL (ETH) und die Uni Lausanne sind renommiert, ebenso die Kunstschule ECAL oder die weltberühmte Hotelfachschule EHL. Für Familien mit Kindern ist Lausanne ein Schulparadies, zumal jede Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf kürzestem Weg erreicht werden kann.

Sehr stolz zeigte sich vor Jahrzehnten die Polizei, mit ihren riesigen italienischen und deutschen Motorrädern, den Reithosen und den Stiefeletten. Von diesen Flics angehalten zu werden war kein Spass. Heute gibt sich die Polizei zurückhaltend und tolerant, fährt leichte Motorräder und lässt auch extreme Gruppen wie Extinction Rebellion stundenlang Brücken sperren. Ein Phänomen. Ebenso zum Stolz der Waadtländer gehörte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Tradition eines sicheren Platzes im Bundesrat. Der Syndic (Stadtpräsident) von Lausanne war als Bundesrat gesetzt, die Wahl von Graber, Chevallaz, Delamuraz eine Selbstverständlichkeit. Heute gibt’s Papabili zuhauf, aber sie werden nicht mehr gewählt. Vielleicht, weil sie den Kanton zu selten verlassen.

Wirtschaftlicher Powerkanton

Wirtschaftlich gehört die Waadt heute zu den Motoren der Schweiz und steht in direkter Konkurrenz zum Grossraum Zürich. Es werden rund um die EPFL ähnlich viele Start-ups pro Jahr ­gegründet wie um die ETH Zürich. Führende Unternehmen der Pharma, der Biotechnik, der Mikrotechnik sind am Genfersee ­domiziliert, und das scheint für viele Deutschschweizer eine echte Überraschung zu sein. André Kudelski, der bekannteste Unternehmer des Waadtlandes, sagt: «Die Leute meinen immer, ich sei ein Zürcher», weil die «Financial Times» über ihn berichtet. Logitech wurde von einem Waadtländer gegründet. Nestlé sitzt in Vevey. Ineos in Rolle. Swissquote in Gland. Bobst in Mex. Internationale Firmen wie Hublot, Incyte, Bombardier, Salt, Tetra Laval haben ihren Sitz im Kanton. Die Kantonsfinanzen sind saniert. Bald wird das französischsprachige Schweizer Fernsehen RTS von Genf nach Lausanne ziehen, wo das Radio bereits sitzt. Lausanne wird damit zur zweiten Medienhauptstadt des Landes.

Während der Coronakrise sind mehr Deutschschweizer in die Waadt gepilgert als je zuvor, obschon weder das Montreux Jazz Festival noch das Paléo Festival in Nyon stattfinden konnten. Dass ihr Kanton plötzlich so intensiv bereist wird, haben die Einheimischen mit gemischten Gefühlen aufgenommen. «Es ist schon schön bei uns, aber das ist vor allem für uns gemacht», ­sagen zum Beispiel die Bewohner des Vallée de Joux, die sich stets gegen alle Pläne für neue Hotels oder Ferienhäusersiedlungen ­gesträubt haben. Sie leben sehr gut von den bekanntesten Uhrenmanufakturen der Welt, die alle im Hochtal angesiedelt sind: Audemars Piguet, Jaeger-LeCoultre, Breguet, Vacherin Constantin, Blancpain, Patek Philippe, Bulgari etc.

Auch das gibt es nirgends auf der Welt: ein idyllisches Hochtal mit zwei Seen, vielen Kühen und dem längsten Wald des Landes mit dem besten Geigenholz, mittendrin ein Dutzend Luxusmanufakturen. Und kein einziges Fünfsternhotel für die gutbetuchte Kundschaft, die ihre hunderttausendfränkigen Zeitmesser gerne mit dem Helikopter abholt und vielleicht eine Nacht bleiben möchte. Deshalb hat die Besitzerin von Audemars Piguet, die im Kleinwagen, mit Windjacke und Jeans im Coop einkauft, jetzt für die reiche Kundschaft eins bauen lassen. Nur eins. Ein sehr schönes. Das genügt.

Die Waadtländer vermeiden heute alles, was den Neid der Genfer oder der Deutschschweizer anziehen könnte. Sie wissen, was sie haben, sind glücklich damit und wollen es erhalten. Il y en a point comme eux.

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