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Die heilige Kuh schlachten

Wie viel ist eine Demokratie ohne Sezessionsrecht ihrer Gemeinden wert?

Die heilige Kuh schlachten
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Wenn wir wichtige Indikatoren wie Lebenserwartung, Frieden und Wohlstand betrachten, gehört die Schweiz zweifellos zu den lebenswertesten Ländern dieser Welt. Zugleich ist sie auf allen Regierungsebenen eines der am demokratischsten regierten Länder. Ist sie also erfolgreich, weil sie so demokratisch ist?

Ich habe meine begründeten Zweifel an dieser Sicht. Und ich werde sie im folgenden begründen.

Die Demokratie ist gerade in der Schweiz eine heilige Kuh. Inhärente Mängel, die in der Demokratietheorie bestens erforscht sind, werden konsequent ausgeblendet. Ich werde mich in diesem Essay darum als Schlächter dieser Kuh betätigen und meine Skepsis mit moralischen und praktischen Argumenten ausführen. Doch sind wir nicht am Ende der Geschichte angekommen, Regierungstechniken und Staatsformen können, ja müssen sich weiterentwickeln. Mit Alternativen und Innovationen werde ich mich im zweiten Teil meines Essays beschäftigen.

Moral

Ich will mich nicht allzu lange darüber auslassen, warum demokratische Mehrheitsentscheidungen an sich nicht moralisch, ja recht bedacht sogar unmoralisch sind. Beschränken wir uns darum auf ein einfaches Beispiel, das diesen Umstand illustriert. Wenn ich Ihnen einen Gutteil Ihres Einkommens abnehme, empfinden Sie dies zu Recht als Diebstahl. Wenn nun ein Staat über Besteuerung dasselbe tut – und das tut er in der Tat, denn er entscheidet nach eigenem Gutdünken als Monopolist, was er Ihnen allenfalls als Gegenleistung anbietet –, so geht das plötzlich völlig in Ordnung. Offizielle Begründung: die Steuer wurde von Leuten beschlossen, die demokratisch gewählt wurden, oder von der Mehrheit der Leute selbst. Handlungen, für die der Staat Menschen ohne Zögern ins Gefängnis stecken würde, werden mit einem Hinweis auf deren demokratische Legitimierung plötzlich legal, ja unhinterfragt hingenommen. Mehr noch: wer diesen Umstand kritisiert, wird von der Mehrheit postwendend zurechtgewiesen, wenn nicht medial hingerichtet. Ich bleibe dabei: Wer Ihnen Geld gegen Ihren Willen wegnimmt, handelt wie ein Dieb. Moral und Unmoral sind also keine Fragen von Mehrheiten.

Praktische Ergebnisse

Kommen wir nun zu den praktischen Argumenten, die die strukturellen Schwächen der herrschenden modernen Demokratien aufzeigen. Ich halte das gegenwärtige Demokratieverständnis westlicher Gesellschaften für eine kollektivistische Ideologie, deren Umsetzung an denselben Konstruktionsfehlern wie alle kollektivistischen Ideologien leidet: Einschränkung der individuellen Freiheit durch immer neue Gesetze, Regulierung des Lebens bis hinein in den Intimbereich, Aufblähung des bürokratischen Apparates, zunehmende Zentralisierung der Macht, mächtiger Staat und Leben auf Pump.

Wer heute von Demokratie spricht, meint damit meist die Vorstellung, dass wir über alles in der Gesellschaft kollektiv entscheiden können bzw. müssen und dass sich alle an die einmal getroffenen Entscheidungen zu halten haben. Wenn man diese Idee zu Ende denkt, ist im Prinzip keine Privatsphäre, kein Vermögen und kein Freiheitsrecht vor demokratischer Einmischung sicher. Gern wird Demokratie mit Redefreiheit, mit Rechten für Minderheiten, mit der Herrschaft der Gesetze gleichgesetzt, doch ist dies eine verkürzte Sicht der Dinge. Denn zunächst meint (repräsentative) Demokratie einmal bloss das Recht, zu wählen und ein politisches Amt für eine bestimmte Zeit wahrzunehmen. Das Grundprinzip eines demokratischen Systems besteht darin, dass keine Minderheit und kein Individuum ein anderes unveräusserliches Recht haben als eben jenes zu wählen. Wie in anderen kollektivistischen Staatsformen ist das Individuum auch in einer totalen Demokratie den Wünschen eines wie auch immer gearteten Kollektivs letztlich schutzlos ausgeliefert. Die «Qualität» einer Demokratie hängt also elementar von der «Qualität» der Wähler ab, ihrer Weltsicht und Motivation. Eine «hohe Qualität» ist dabei keineswegs sicher oder gar gottgegeben, sondern im Gegenteil ist derlei «Qualität» sehr leicht manipulierbar, wie das 20. Jahrhundert mehrfach erwiesen hat.

Demokratie wird oftmals als eine Form der Selbstregierung dargestellt – sie wird dabei mit der Vorstellung identifiziert, dass die Bürger Kontrolle über ihr Leben haben. Leider trifft auch das, genau bedacht, nicht zu: Demokratie reduziert die Verschiedenheit von Millionen individueller Entscheidungen auf die Einformatentscheidung der Mehrheit bzw. einiger gewählter Politiker, die nicht einmal von einer Mehrheit gewählt sein müssen. Jede demokratische Entscheidung verringert die Entscheidungsmacht jedes einzelnen über sein eigenes Leben ganz enorm. Das ist reine Mathematik und eigentlich für jeden Maturanden leicht nachvollziehbar.

In einer Demokratie ist potentiell alles politisch und nichts privat. Die Grenzen verschwimmen beliebig. Es gibt keine persönliche Angelegenheit, die es nicht verdiente, zum Politikum erklärt zu werden. In den meisten westlichen Ländern sind demokratische Systeme seit 1945 installiert, und in der seither vergangenen Zeit liess sich ein enormer Anstieg von Steuern und Staatsquoten beobachten. Wie Zahlen der Zeitschrift «The Economist» (17. März 2011) zeigen, wurden die durchschnittlichen Staatsausgaben der wichtigsten westlichen Länder von 28,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 1960 auf mehr oder minder 50 Prozent heutzutage erhöht, wobei die Schweiz mit «bloss» 37 Prozent immerhin eine positive Ausnahme darstellt.

Ich will selbstverständlich nicht in Abrede stellen, dass der Grad an individueller Freiheit im letzten Jahrhundert ebenso zunahm: Dank Recht auf Abtreibung oder Sterbehilfe in einigen Ländern, dem gleichen Wahlrecht beider Geschlechter oder zusätzlichen Rechten für Homosexuelle darf man behaupten, dass sich hier auch viel Positives entwickelt hat. Auch in verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren wurde die Macht des Staates abgebaut (Telecom, Flugverkehr). Diese Erkenntnisse sind schön, aber auch sie haben weniger mit Demokratie als vielmehr mit einem erhöhten Aufklärungsgrad der Menschen zu tun.

Dessen ungeachtet lässt sich in allen modernen Demokratien auch ein gegenläufiges Phänomen beobachten: Der Staat hat im Kleinen begonnen, das Leben seiner Untertanen zu bestimmen. Er sagt ihnen, was sie essen sollen, wann und wo sie arbeiten sollen, wie sie ihr Geld ausgeben sollen usw. Er nimmt regelmässig und mittlerweile fast unbemerkt Einfluss auf die Beziehungen und Handlungen unter den Bürgern. Eigentümer und Mieter können nicht mehr frei über Mieten und Kündigungsfristen entscheiden. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können nicht mehr frei über den Lohn und die Arbeitsbedingungen bestimmen. Arzt und Patient können sich nicht frei auf die Art der Behandlung und ihren Preis einigen. All diese Dinge sind mittlerweile politisch vorgegeben, und viele von uns finden dies in Ordnung, einfach weil sie sich daran gewöhnt haben.

Politiker haben einen umfassenden Einfluss auf das Leben der Individuen, während das Individuum mit seiner Einzelstimme zugleich bloss einen vernachlässigbaren Einfluss auf die Politik hat. Das Wählen gibt ihm die Illusion der Einflussnahme, im Tausch gegen einen Verlust an Freiheit. Und das Ergebnis? Wir kennen es alle: um sich greifende Politikverdrossenheit.

Prinzipien und Dynamiken

Diese negativen Auswirkungen können leicht durch die Prinzipien und Dynamiken der modernen Demokratien erklärt werden. Ein Beispiel: Politiker sind nur für eine bestimmte Zeit im Amt; es liegt in der Natur der Sache, dass sie dazu tendieren, kurzfristig zu denken und zu handeln. Sie wissen, dass es ihre Nachfolger sind, die sich mit den Problemen, die sie allenfalls durch ihre Gesetzgebung schaffen – hohe Besteuerung, Mehrausgaben, Kreditaufnahme, Krieg –, herumschlagen müssen. Und ihre Nachfolger haben ihrerseits dieselben Anreize, schmerzhafte Lösungen von gegenwärtigen Problemen auf später zu verschieben. Es ist darum kein Wunder, sondern nur konsequent, wenn viele demokratische Staaten heute schon überschuldet sind. Ganz abgesehen davon ist es natürlich so, dass Politiker stets das Geld anderer Leute ausgeben, nicht ihr eigenes.

Die Wähler ihrerseits sind, ganz eigennützig, darum bemüht, andere Leute für ihre persönlichen Vorteile und Zwecke zahlen zu lassen (über Sozialhilfechecks, Mutterschaftsversicherung, Entwicklungs­hilfe etc.). Das rationale Verhalten der Wähler in einer Demokratie lässt sich am besten mit dem Verhalten angeblicher Freunde bei einem Abendessen vergleichen. Unsere 10 Freunde entscheiden im voraus, dass die Rechnung des geplanten gemeinsamen Abendessens von allen zu gleichen Teilen bezahlt wird. Wenn also jemand ein Dessert für 10 Franken bestellt, kostet es ihn bloss einen Franken. Alle Teilnehmer haben damit denselben Anreiz, mehr zu bestellen, als sie sonst ordern würden, was – sofern es unter den «Freunden» solche gibt, die dieses Spiel in ihrem Sinne ausnutzen wollen – in eine hohe Rechnung mündet, die eigentlich niemand wollte. Dieser Umstand in Kombination mit der natürlichen Neigung von Politikern und Beamten, lieber mehr als wenig Macht zu haben, erklärt ziemlich gut, warum Steuern in Demokratien über die Jahrzehnte ständig steigen und die Anzahl von Gesetzen scheinbar unaufhaltsam zunimmt.

Referenden und Initiativen

Demokratien neigen also, entgegen der gängigen Meinung, dazu, die Staatsmacht eher auszubauen als zu beschränken. Auch demokratisch gewählte Politiker haben immer wieder gezeigt, dass sie bereit sind, teure Kriege anzuzetteln, Steuern willkürlich zu erhöhen, Wahlversprechen zu brechen, grosse Schulden anzuhäufen, mächtige Geschäftsbanken und multinationale Unternehmen mit Milliarden von Franken zu retten, in unpopuläre internationale Vereinigungen einzutreten – und dies ohne grosse Angst davor, dass die Wähler sie bei der nächsten Wahl abstrafen werden. Sie wissen: das Gedächtnis der Wähler ist kurz, und neue Versprechungen lassen auch alte Versäumnisse schnell wieder vergessen.

Doch wie steht es um Referenden und Initiativen? Sind sie nicht dazu angetan, Demokratien zu verbessern? Hier kommen wir zum Sonderfall Schweiz, der bekannt (und gehätschelt) ist für diese Form der Partizipation durch das Volk.

Direkte Demokratien mit bindenden Referenden und Initiativen können zweifellos eine Verbesserung gegenüber der Situation in «indirekten» Demokratien bringen, insofern sie die Macht der Politiker beschränken; sie sind eine Drohung nur schon durch ihre blosse Möglichkeit. Anderseits leiden sie am selben Manko wie alle Entscheidungen in repräsentativen Demokratien: Referenden und Initiativen können schnell zu einem Machtfaktor werden, in dem die einen (50 Prozent der Stimmen der Wählenden + 1) über die anderen (50 Prozent der Stimmen der Wählenden – 1) bestimmen. Letztlich garantiert also auch direkte Demokratie nicht mehr individuelle Freiheit.

Referenden sind womöglich eine Verteidigung gegen unwillige Politiker, doch sind sie keine Verteidigung gegen hyperaktive Mitbürger, die es darauf anlegen, sich in das Leben anderer einzumischen, es zu «verbessern». Die meisten Leute sind per definitionem weder herausragend noch überdurchschnittlich vermögend. Jene, die sich durch Leistung auszeichnen, durch Sorgfalt, Verantwortung, Risikobereitschaft, werden in der demokratischen Umverteilungsmaschine schlicht und einfach häufig überstimmt. Sie können bloss auf den Anstand und die Zurückhaltung ihrer Mitbürger hoffen. Die direkte Demokratie der Schweiz konnte nicht verhindern, dass die Steuerquote in den letzten 100 Jahren von 17 auf 37 Prozent stieg. Und die direkte Demokratie Kaliforniens war nicht dagegen gefeit, dass der Staat enorme Schulden anhäufte, die ja nichts anderes als aufgeschobene Steuern darstellen.

Wohlstand

Demokratie wird gern mit Wohlstand gleichgesetzt, doch ist auch diese Sicht nicht mehr als eine schöne Geschichte. Einige Demokratien sind wohlhabend, während andere wie Indien, die grösste Demokratie der Welt, unter weit verbreiteter Armut leiden. Man kann aber mit Fug und Recht behaupten: Je mehr den Leuten die Früchte ihrer Arbeit zugutekommen, desto mehr Wohlstand werden sie schaffen und desto wohlhabender wird die Gesellschaft sein. Real existierende Demokratien verletzen dieses Prinzip, indem sie über politische Stimmenmaximierung als Umverteilungsmaschinen agieren und darum Trägheit und unverantwortliches Handeln belohnen, während sie zugleich Leistungsbereitschaft bestrafen. Aus geschichtlichen Gründen verstehen dies einige Demokratien besser als andere, und das ist wohl ein Grund dafür, warum die einen wohlhabender sind als andere – trotz, nicht wegen dieser Fehlanreize.

Mit der Europäischen Union (EU) hat die Umverteilung in Europa immerhin eine neue Qualität erreicht. Der ohnehin schon grosse Abstand zwischen Regierenden und Regierten hat weiter zugenommen, und der bereits vernachlässigbar geringe Einfluss einer einzelnen Wählerstimme wurde total fiktiv: Wer da wen in Brüssel wählt und bezahlt und wer in Brüssel im Interesse von wem was beschliesst – niemand weiss es. Was wir wissen: Subventionen und neuerdings Rettungsgelder und Kredite, für die letztlich die Bürger der Geberländer aufkommen bzw. haften müssen, fliessen vom reicheren Norden Europas in den ärmeren Süden. Dies hat zu Moral Hazard in den Empfängerländern geführt, die auch weiterhin nicht in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen. Wirtschaftliche Rezession, soziale Unrast und Arbeitslosigkeit sind die Folgen – schlechte Folgen für alle.

Soziale Unrast

Nach gängiger Auffassung bringen demokratische Gesellschaften Toleranz hervor, weil unterschiedliche Leute mit unterschiedlichen Sichtweisen zusammentreffen. Aber auch hier muss ich widersprechen. Demokratien befördern vielmehr soziale Spannungen, weil in Demokratien der Grundsatz gilt: The winner takes it all. Die Mehrheit kann die Minderheit nach Belieben herumkommandieren, letztere macht das eine gewisse Zeit mit, in ihr staut sich aber die Wut. In Wahlzeiten lassen sich diese Spannungen und ihre Entladungen besonders leicht beobachten, doch zeigen sie sich auch in den Massenprotesten in den Strassen Athens oder Madrids. Dann gilt: Die anderen werden für die eigene Misere verantwortlich gemacht. Es handelt sich hier um eine Maschine, die soziale Spannungen geradezu produziert.

Die Alternative

Halten Sie mich nun, nachdem ich seitenweise die Demokratie kritisierte, für einen, der die Diktatur als das einzige mögliche Gegenmodell zur Demokratie darstellen wird? Das werde ich nicht tun, denn die Demokratie als politisches System ist zu einer Diktatur viel kompatibler als mein Gegenvorschlag – schon Alexis de Tocqueville bezeichnete die Demokratie als «Tyrannei der Mehrheit». Die einzige Alternative zur Mehrheitsregel ist die Selbstbestimmung: Ich entscheide, wofür ich mein Geld ausgebe; ich entscheide, wie ich mein Leben führe, sofern ich niemandem zur Last falle; ich entscheide, mit wem ich zusammenarbeite und mich austausche. Die Alternative zur Wahl mit dem Kugelschreiber (voice), wie wir bei Wahlen für gewöhnlich verfahren, ist ein Abstimmen mit den Füssen (exit), wie wir dies auf einem Marktplatz zu tun pflegen.

Die Alternative zum Markt für politische Parteien ist ein Markt für Regierungstechniken mit vielen verschiedenen Anbietern, mit Start-up-Ländern, die ihren potentiellen Kunden – den Bürgern – etwas Neues anbieten. Das können plakativ die tieferen Steuern sein, vor denen sich Brüssel so fürchtet, es können aber auch schlicht bessere Gesetze, innovativere Entscheidungsmechanismen, bessere Verfassungen, durchdachtere Formen politischer Partizipation sein – wichtig ist einfach, dass es dafür einen Markt gibt. Der Markt für Regierungstechniken hat aber in unseren Sphären noch viel zu wenige Akteure und ist darum für Kunden bisher zu unattraktiv. Oder anders: die bisherigen Nationalstaaten haben erfolgreich ein Kartell etabliert, das den Bürgern schadet.

Die besten Chancen, innovativ zu sein, haben hier zweifellos kleine, agile Länder. Es ist opportun, hier wieder auf die Schweiz zurückzukommen. Sie verfügt im Innern über einen hohen Grad der Dezen­tralisierung. Verglichen mit dem Rest Europas hat die Confoederatio Helvetica damit einen besseren Markt für Regierungstechniken. Meiner Ansicht nach war und ist das Land nicht wegen der direkten Demokratie erfolgreich, sondern weil es über kleine administrative Einheiten verfügt (Gemeinden, Kantone), die relativ autonom über Steuern, Erziehung und Gesundheit bestimmen können. Die Anzahl der Schweizer Gemeinden (2600) ist ungleich höher als in den Niederlanden (408), und dasselbe gilt für die Kantone, die in den Niederlanden Provinzen heissen. Dank dieser internen Verfassung können Individuen und Firmen mit ihren Füssen abstimmen, und die Kluft zwischen Regierenden und Regierten ist relativ gering.

Damit nun ein solcher Markt für Regierungstechniken weltweit wächst, bedarf es der Einsicht in die Vorteile von Dezentralisierung und Sezession. So wie die Freiheit, ein Unternehmen zu gründen, ein Sicherheitsventil gegen Kartelle und Monopole darstellt, so ist das Recht auf Sezession das Sicherheitsventil gegen Big Government. Kleine Länder können, indem sie einen Markt für Regierungstechniken etablieren, die Rolle der Avantgarde spielen und im globalen wie im lokalen Massstab viel bewegen.

Das beste Beispiel für das Gelingen eines derart avantgardistischen Projekts ist Shenzhen in China, eine Sonderwirtschaftszone, die im Jahr 1979 noch eine kleine Stadt war und sich über die Jahre in eine prosperierende Megacity mit 10 Millionen Einwohnern verwandelte. Zugegeben: sie wurde von der Zentralregierung von oben durchgesetzt – das ist in der Volksrepublik China nicht anders denkbar. Doch inspirierte das florierende Shenzhen später die chinesischen Gesetzgeber, den Leuten auch anderswo grössere Freiheitsräume zu gewähren. Dasselbe gilt für Dubai, das sich binnen 20 Jahren von einer unfruchtbaren Wüstenstadt zu einem dynamischen Kleinstaat mauserte.

Die Schweiz wiederum hat bereits Erfahrung damit gesammelt, wie friedlich und geregelt auch eine Sezession, also eine Abspaltung eines Teils des Ganzen, vonstattengehen kann. Im Jahre 1979 wurde der französischsprachige Kanton Jura ins Leben gerufen, nachdem ein Teil vom deutschsprachigen Kanton Bern auf Abspaltung gedrängt hatte. Wie wichtig das Recht auf Sezession ist, hat auch das kleine Fürstentum Liechtenstein begriffen. Das Land hat elf Gemeinden, die alle über das Recht auf Sezession verfügen. Das führt nicht zu Spannungen, sondern ganz im Gegenteil – es hält das Land gerade zusammen, weil es sich niemand erlauben kann, auf Kosten anderer zu leben. Man muss stets damit rechnen, dass die anderen sich aus dem Staub machen. Was das Regieren angeht, gilt also der von Leopold Kohr in­spirierte Satz: Small is beautiful. Von den 20 wohlhabendsten Ländern in der Welt sind die allermeisten Kleinstaaten.

Könnten zudem nicht viele Kriege und Konflikte vermieden werden, wenn mehr Leute das Recht auf Sezession hätten? Warum müssen Islamisten und Laizisten in einem Land wie Ägypten zusammenleben? Warum können sie nicht jeweils ihr eigenes Land haben? Dieselbe Frage stellt sich für zahllose andere ethnische oder religiöse Gruppen. Natürlich bringen Sezessionen auch Probleme mit sich. Einige Leute in jenem Gebiet, das sich abspaltet, finden sich plötzlich in der Situation einer Minderheit wieder, während sie zuvor zu einer Mehrheit gehörten. Aber auch sie haben das Recht, sich wiederum abzuspalten – und darum hat die Mehrheit allen Grund, sie gut zu behandeln. Das fördert den sozialen Frieden.

Natürlich anerkenne ich die Notwendigkeit kollektiver Entscheidungsprozesse. Doch weiss ich nicht, welche Entscheidungen getroffen werden sollen und auf welcher kollektiven Ebene. Sie wissen es auch nicht. Und ihr Nachbar auch nicht. Also schweigen wir lieber gemeinsam. Ich verstehe ja auch nicht viel von Autoherstellung und lasse mich eben deshalb nicht darüber aus, wie viele Autohersteller die Niederlande haben und wer sie führen sollte. Alles, was ich weiss, ist, dass ein freier Markt für Autohersteller bessere Fahrzeuge hervorbringt, als jeder noch so potente Staatsmonopolist sich erträumen kann – und dies mit einer grossen Vielfalt und einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis. Ein freier Markt für Regierungstechniken würde analog dazu die besten Gesetze produzieren, mit einer grossen Vielfalt und einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis.

Was ist das Endergebnis, wenn allen Gruppen das Recht auf Sezession zugestanden wird? Das weiss ich wiederum auch nicht, aber ich weiss: Das Staatskartell – 200 Länder für 7 Milliarden Menschen – würde durchbrochen. Je grösser die Vielfalt, desto grösser der Lerneffekt – für alle.

Würden deshalb Demokratie und demokratische Entscheidungsverfahren aussterben? Ich denke nicht. Das Ziel sollte vielmehr darin bestehen, Regierungstechniken zu schaffen, die zu den Leuten passen, die mit ihnen leben wollen. Demokratie ist in all ihren Facetten eine Option unter anderen, es wird sicher viele geben, die in Demokratien leben wollen. Aber unter ihnen gäbe es sicher mehr Formen der Ausgestaltung als heute: viele Grautöne zwischen direkter Teilnahme wie in der Schweiz und stärkerer monarchischer Macht in Ländern wie Liechtenstein, wo der Fürst über ein Vetorecht verfügt und das Parlament auflösen kann. Vielleicht käme es zu klassischen Demokratien wie in den Niederlanden oder eher autoritär regierten Kleinstaaten wie Dubai, Hongkong oder Singapur. Aber vor allem – es käme zu neuen Modellen, die wir noch nicht kennen, weil wir noch nie darüber nachgedacht haben.

Es wäre einen Versuch wert.

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