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Die Hänny-Variationen

Die Hänny-Variationen

 

Dieser Roman ist ein doppeltes Wagnis. Für den Leser, der sich leicht verirrt in den Satz­ungetümen, den ausschweifenden Beobachtungen, den frei assoziierenden Erinnerungen. Aber auch Reto Hänny selbst wagt einiges: Zum dritten Mal schreibt der 1947 im bündnerischen Tschappina geborene Autor nun ein und dieselbe Geschichte, die doch immer neu bleibt.

Als wäre alles Erzählen sowieso nur Nacherzählen, variiert Hänny erneut, was von der «Odyssee» bis zur «Blechtrommel» schon so oft erzählt wurde. Homer und Grass, Gottfried Keller und James Joyce sind nur einige der vielen Paten, von denen er dankbar und bis in einzelne Wendungen hinein borgt. Am meisten aber borgt er von sich selbst: Nach «Flug» (1984) und der ersten «Übermalung» (2007) erzählt «Sturz» noch einmal die Geschichte vom Bündner Bauernbuben, der hoch hinauswill, dessen Träume vom Fliegen aber früh zerstört werden. Er stürzt ab in die Provinzstadt, wo er unter der Fremdheit und der Bourgeoisie leidet und unter der Schule, die ihn als beschränkten Bauernsohn ausgrenzt. Um dann aber wieder hinaufzusteigen in die Sphären der Literatur und der Musik, hinauf zu Joyce, Bartók und zum Free Jazz.

Auf und ab geht es, geflogen und gestürzt wird vielfach in diesem Roman: in den Kindheitserinnerungen, in den Erzählungen über die Pioniere der Luftfahrt, zuletzt im Flug des zum Schriftsteller gewordenen jungen Mannes, der mit einem Koffer voller Notizen bepackt einem unbekannten Ziel entgegenreist.

Reto Hännys zweite Übermalung verbaut uns zwar einen unmittelbaren Blick auf diese veritable Bildungsgeschichte, die sein Lebensroman zu sein scheint. Doch das schmälert das Leseerlebnis nicht: Wenn man einmal hineingefunden hat in den Sound, den er mit beschwörenden Wortkaskaden wie ein Sprachmagier entstehen lässt, wenn man sich verlaufen hat in den Irrgarten aus Erinnerung, Beobachtung und Reflexion, dann bekommt man das Gefühl, dass einem hier etwas Wohlbekanntes ganz neu erzählt wird. Und man merkt: Es ist ein Wagnis, das sich lohnt.


Reto Hänny: Sturz.
Berlin: Matthes & Seitz, 2020

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