«Die Grosskonzerne
interessieren sich nicht für die Unabhängigkeit der Schweiz»
Aus Sicht des Holzbauunternehmers Christoph Häring kommen zu viele und die falschen Zuwanderer in die Schweiz. Die frühere SBB-Managerin Kathrin Amacker hingegen sieht die Migration als essenziell für den Erfolg des Landes.
Die Nordwestschweiz ist eine Grenzregion, der Austausch mit den Nachbarländern ist intensiv. Wie erleben Sie die Auswirkungen der Migration im Alltag? Was hat sich seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 geändert?
Kathrin Amacker: Ich habe diese Region nie anders erlebt als sehr offen. Ich bin hier geboren, zur Schule und an die Universität gegangen und war 20 Jahre bei Novartis. Ich kenne die Nordwestschweiz nicht anders denn als trinationale Region mit Grenzgängerinnen und Grenzgängern. Die ausländische Bevölkerung hat immer etwa einen Drittel ausgemacht. Fehlt dieser Drittel, in einem Spital, in der Pharmaindustrie oder auch in der Forschung, sind wir wirtschaftlich und auch kulturell nicht mehr gleich erfolgreich.
Christoph Häring: Als KMU beschäftigen wir natürlich Leute aus der Region. Wir haben gute Leute aus Baden-Württemberg oder dem Elsass. Das ist in unserer Region normal. Die Migration hat aber natürlich auch negative Auswirkungen.
Welche?
Häring: Es kommen zu viele und die Falschen. Es kommen Einwanderer, die eine Belastung sind für unsere Gesellschaft. Mein Bruder ist kürzlich im Alter von 72 Jahren nach Australien ausgewandert. Er musste sich bewerben und wurde akzeptiert, weil er als Person mit besonderen Kenntnissen eingestuft wurde. Grundsätzlich hat jeder die Möglichkeit, nach Australien einzureisen. Aber wer sich nicht anmeldet, sondern einfach kommt, wird auf eine Insel verlegt und dann ins Heimatland zurückspediert. In der Schweiz dagegen haben wir keine Ordnung mehr.
Amacker: Ich bin einverstanden, dass zum Teil die Falschen kommen – aber zu einem grossen Teil kommen die Richtigen. Wir haben eine gesteuerte Einwanderung. Aus der EU kann man nicht einfach hierherkommen; man braucht eine Arbeitsstelle. Aus einem Drittstaat kann man auch nicht einfach hierherkommen; man muss im Rahmen des Kontingents aufgenommen werden. Das Problem ist, dass es auch Leute gibt, die illegal kommen, die untertauchen. Das sind Dinge, die man benennen muss. Man muss aber auch sagen, welche Massnahmen es dagegen gibt und wie man diese vollziehen kann.
Häring: Wir haben es nicht im Griff, Frau Amacker. Seit dem Jahr 2000 ist die Bevölkerung um 21 Prozent gewachsen. Jetzt sind wir dann bei 9 Millionen Einwohnern und gehen auf die 10 Millionen zu. Wir haben sehr viele ungebetene Gäste hier, und das ist eine grosse Belastung für unsere Gesellschaft. Gehen Sie an die deutsche Grenze. Jedes Auto, das die Grenze überquert, wird dort kontrolliert. Bei uns kann praktisch jeder einreisen, ohne kontrolliert zu werden. Wir haben ein Maximum an ungewollter Einwanderung.
Amacker: Ich bin nicht der Meinung, dass wir die Zuwanderung nicht im Griff haben. Wir wissen ziemlich genau, wer kommt, wer geht. Wir haben ein geregeltes Asylverfahren, das beschleunigt wurde. Als Teil des Schengen-Dublin-Raums haben wir offene Grenzen. Es gibt illegale Grenzübertritte, aber deswegen bricht das Land nicht zusammen, und wir haben auch keine Wohnungsnot deswegen. Wenn wir alle Grenzgänger, die hier arbeiten, täglich kontrollieren würden, würden wir sie in ihrer Tätigkeit einschränken. Dass das nicht funktioniert, hat uns die Coronazeit deutlich vor Augen geführt. In Basel stören diese Leute überhaupt nicht. Es gibt höchstens Probleme mit Asylsuchenden, die am Bahnhof herumlungern, aber das hat nichts mit der Personenfreizügigkeit zu tun.
Häring: Aber mit Migration.
Warum kommen denn so viele Leute in die Schweiz?
Amacker: Weil wir sie brauchen. Unser Gesundheitssystem, unsere Landwirtschaft, unser IT-Sektor und unsere Forschung würden ohne Zuwanderer zusammenbrechen; sie tragen zum hohen Bruttosozialprodukt bei, das wir erwirtschaften. Die Schweiz ist flächenmässig sehr klein, aber wirtschaftlich ein Gigant. Wir haben eine viel zu grosse Wirtschaft mit grossen Holdings. Das haben wir so gewollt. Wenn wir das nicht mehr wollen, können wir wirtschaftlich schrumpfen, aber dann müssen wir auch die Konsequenzen tragen.
«Unser Gesundheitssystem, unsere Landwirtschaft, unser IT-Sektor und unsere Forschung würden ohne Zuwanderer zusammenbrechen.»
Trotz der Personenfreizügigkeit herrscht Fachkräftemangel. Ist das nicht ein Widerspruch?
Amacker: Das ist kein Widerspruch. Wir haben nicht genug Kinder. Ohne Zuwanderung wächst unsere Bevölkerung nicht, aber unsere Wirtschaft wächst. Wirtschaftswachstum ist toll, aber irgendwo müssen die Leute herkommen, um in dieser wachsenden Wirtschaft zu arbeiten. Ich bin ein Babyboomer, 62 Jahre alt und gehe bald in Rente, wie viele andere auch. Manche Unternehmen werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren einen Drittel ihrer Belegschaft verlieren.
Sie, Frau Amacker, haben erwähnt, dass die Personenfreizügigkeit die Wirtschaft antreibe.
Aber steigert sie auch den Wohlstand pro Kopf, oder ist es vor allem ein Wachstum in die Breite?
Amacker: Wir haben ein hohes Wirtschaftswachstum. Auch die Durchschnittslöhne sind relativ hoch und die Arbeitslosigkeit ist tief. Von den offenen Grenzen profitiert die ganze Schweiz, weil die Wertschöpfung indirekt, insbesondere durch den nationalen Finanzausgleich, allen zugutekommt.
«Von den offenen Grenzen profitiert die ganze Schweiz, weil die
Wertschöpfung indirekt allen zugutekommt.»
Häring: Der Wohlstand pro Kopf wächst nicht. Frau Amacker vertritt ganz klar die Interessen eines Grosskonzerns, und das ist auch in Ordnung so. Im Kanton Basel-Stadt sind nur zwei Konzerne für fünfzig Prozent des Bruttosozialprodukts verantwortlich. Ich dagegen bin ein Vertreter der KMU aus Baselland. Wir KMU beschäftigen einen Grossteil der Bevölkerung.
Sind Sie zufrieden mit dem, was die Schweiz bietet?
Häring: Ich kenne viele Deutsche, die beeindruckt sind von der Art und Weise, wie die Schweiz funktioniert – diese guten Bedingungen will ich beibehalten. Natürlich brauchen wir Menschen, und ich schätze Ausländer. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass ein internationaler Konzern einen leichten Zugang zu Arbeitskräften aus Deutschland haben möchte. Tatsache ist: Die Grosskonzerne interessieren sich weder für die Unabhängigkeit der Schweiz noch für die Interessen der meisten Schweizerinnen und Schweizer.
Sind Sie als Unternehmer nicht auch froh, dass Sie relativ unbürokratisch Leute aus der EU einstellen können?
Häring: Als Unternehmer habe ich nichts gegen unbürokratische Vorgänge, und auch nichts gegen Leute, die kommen und arbeiten. Einer meiner Angestellten ist ein eritreischer Asylbewerber; der arbeitet hart. Ich bin aber nicht sicher, ob die Bulgaren und Rumänen, die uns jetzt überschwemmen, alle eine Arbeit haben.
Amacker: Ich habe nicht den Eindruck, dass wir völlig überschwemmt werden von Ausländern, und die Zahlen geben das auch nicht her. Sie zeigen aber, dass die Kriminalität zugenommen hat. Das ist nicht in Ordnung und darum müssen wir uns kümmern. Aber wenn sich etwas Kleines verdoppelt, dann ist das Doppelte immer noch wenig.
Häring: Wir haben in der Region Basel eine ausufernde Kriminalität, die ich selbst erlebt habe. Vor unserem Haus in Füllinsdorf ging am helllichten Tag ein Mann vorbei. Ich fragte ihn: «Kann ich Ihnen helfen?» Da lief er davon. Ich verfolgte ihn und holte ihn ein. Es stellte sich heraus, dass es ein Algerier war – die Polizei war bereits von jemand anderem alarmiert worden. Die Kriminalität von Ausländern ist doppelt so hoch wie jene von Schweizern. Das wird zu einer Industrie, derer wir bald nicht mehr Herr werden.
Was war vor der Personenfreizügigkeit schlechter in unseren Beziehungen zur EU?
Amacker: Durch die Erweiterung des Arbeitsmarktes gab es mehr Leute, die sich überlegt haben, in der Schweiz zu arbeiten, weil die Löhne relativ hoch sind. Als Kind habe ich erlebt, wie wir als Privatpersonen immer wieder am Zoll angehalten und kontrolliert wurden. Ich habe lange in Bern gearbeitet und bin in dieser Zeit von Basel aus mit dem öffentlichen Verkehr dorthin gefahren. Wenn ich abends in Basel am Bahnhof ankam, spürte ich die europäische Öffentlichkeit, die in Bern fehlte. Deshalb konnte ich auch nie aus Basel wegziehen: Ich brauche diese Offenheit und dieses globale Denken.
Herr Häring, was wäre denn Ihre Alternative zum heutigen Zuwanderungssystem?
Häring: Wir brauchen eine wirklich kontrollierte Einwanderung. Wir sind lasch geworden, die Verwaltung schläft. Sie wird immer mehr zu einem links unterwanderten Deep State, in dem sich die Asylindustrie frei ausbreiten kann.
Amacker: Die Zustände in der Schweiz sind nicht perfekt. Die Schweizer neigen zum Nörgeln – das macht uns auch stark, weil es unseren Perfektionismus kultiviert. Ich glaube nicht, dass ein Überschreiten der 10-Millionen-Grenze zum Ruin führen würde. Im Grossen und Ganzen leiden wir nicht unter Dichtestress. Im Prinzip funktioniert die Schweiz, aber wenn wir weiterwachsen wollen, dann müssen wir in der Siedlungspolitik ansetzen, mehr und dichter bauen.
«Die Verwaltung schläft. Sie wird immer mehr zu einem links
unterwanderten Deep State, in dem sich die Asylindustrie frei ausbreiten kann.»
Aber die Infrastruktur gerät immer mehr unter Druck. Wollen Sie aus der Schweiz ein Singapur machen, Frau Amacker?
Amacker: Die Frage ist, was man baut. Klar ist jedenfalls, dass der Ausbau der Mobilitätsinfrastruktur zu mehr Verkehr führt. Sobald man neue Strassen und Bahnlinien schafft, tritt sofort eine Bequemlichkeit ein, die dann dazu führt, dass sie auch genutzt werden. Man sieht das beim Gotthardbasistunnel: Viele wohnen in Bellinzona und arbeiten in Zürich. Im Idealfall sollte man dort wohnen, wo man arbeitet.
Häring: Autobahnen und Schienennetz können nicht unbegrenzt ausgebaut werden. Auch die Selbstversorgung würde unter Druck geraten. Nach Ihrem Modell, Frau Amacker, müssten die Industriegebiete bebaut und die Stadtzentren erweitert werden, was die Gebäude in die Höhe treiben würde. In Singapur werden bereits bestehende Hochhäuser aufgestockt. Das Verkehrsnetz der Schweiz ist bereits stark belastet. Man muss also der Zuwanderung Grenzen setzen.
Was halten Sie von der Idee einer Eintrittsgebühr anstelle der Personenfreizügigkeit? Dann müssten Sie, Herr Häring, bezahlen, dass Sie Ausländer einstellen können.
Häring: Damit habe ich im Prinzip kein Problem, es käme einfach auf den Preis an.
Amacker: Ich könnte mir das bei der Einwanderung aus Drittstaaten vorstellen, aber bei der Personenfreizügigkeit mit der EU nicht.
Und was halten Sie vom Punktesystem Kanadas, wo man sich bewirbt und für bestimmte Fähigkeiten oder Diplome Punkte erhält, die die Einwanderung ermöglichen und erleichtern?
Häring: Ich finde das gut.
Amacker: Ich nicht. Ein solches System würde mehr Bürokratie verursachen und den Unternehmen Entscheidungsfreiheit wegnehmen. Heute entscheiden Unternehmen, welche Arbeitskräfte sie einstellen wollen. Es wäre eine Verschlechterung, wenn der Staat sich dazwischenschalten würde.