Die grosse Verstädterung
Die Völkerwanderung ist längst nicht abgeschlossen – schon gar nicht die von den Dörfern in die Städte. Noch immer sind sie Einfallstore für ein besseres Leben. Aber nur, so Doug Saunders, wenn sie Ankunftsstädte sind: Orte der Optionen und nicht von Urbanisten gestaltete Ghettos.
Die Urbanisierung ist das grosse Thema des 21. Jahrhunderts – das ist die Hauptthese Ihres Bestsellers «Arrival City». Wie kommen Sie darauf?
Ganz einfach: die Verstädterung, die sich in den entwickelten Ländern seit 200 Jahren abspielt, schreitet auch im Rest der Welt unaufhaltsam voran. Ich betone: unaufhaltsam. Wir haben den Punkt erreicht, an dem auch in den sich entwickelnden Ländern – der Ausdruck gefällt mir besser als «Entwicklungsländer» – der Hauptteil der Bevölkerung mittlerweile in Städten lebt. Wir sind Zeugen der grössten Wanderungsbewegung aller Zeiten, und sie wird noch einige Jahrzehnte andauern. Es wird die grösste Massenwanderung gewesen sein, weil die Leute erst in der Stadt zur Ruhe kommen, hier erst die Geburtenrate sinkt. Urbanisierung bedeutet im besten Fall: wachsender Wohlstand, mehr Lebenschancen, Stärkung der Stellung der Frauen, politische Stabilität.
Von welchen Zahlen sprechen wir, wenn wir von einer globalen Massenwanderung ausgehen? Können Sie die Bewegungen näher quantifizieren?
Ein Drittel aller Menschen ist in diesem Jahrhundert in Bewegung, zieht vom Dorf in die Stadt. Am Ende des 21. Jahrhunderts werden drei Viertel aller Menschen in Städten leben. Es gab nicht nur noch nie so viele Menschen wie heute, sie lebten auch noch nie in so geballten Räumen wie heute und schon gar nicht wie in der Zukunft. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Entwicklung lässt sich mit einem einfachen Vergleich illustrieren. Nehmen wir China und Polen: In beiden Ländern wird heute mehr Geld von den Städten in die Dörfer überwiesen, als in den Dörfern mit Landwirtschaft generiert wird. Die Verstädterung wird unser aller Leben radikal verändern.
Wer im Westen wohnt, gewinnt den Eindruck, hier sei die Bewegung hin zu Städten mittlerweile zum Stillstand gekommen, zumal das konzentrierte Wohnen auch Probleme verursacht. Stimmt der Eindruck?
Der Westen ist zu 70 bis 90 Prozent urbanisiert, wobei natürlich Leute aus ländlichen Gegenden anderer Weltteile nach wie vor versuchen, in die westlichen Städte zuzuwandern. Die Verstädterung schreitet hier also voran, nur kommen die Leute von ausserhalb. In Südamerika hat die grosse Bewegung in Richtung Stadt in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren stattgefunden. Das ist der Grund, weshalb wir heute tendenziell weniger von Unterdrückung und Diktatur und mehr von Wachstum, Wohlstand und Demokratie lesen, wenn es um südamerikanische Länder geht. Gegenwärtig findet die Urbanisierung vor allem im asiatischen und afrikanischen Raum statt. In einigen Ländern vollzieht sich dieser Wandel rasant schnell wie zum Beispiel in Bangladesch.
Städte wachsen in der Regel, indem sie sich Aussenbezirke einverleiben, also in das Stadtgebiet aufnehmen. Sie nennen diese urbanen Randzonen «Arrival Cities». Wie genau würden Sie Bedeutung und Funktion einer Ankunftsstadt definieren?
Sie ist das Gegenteil einer etablierten Stadt. Die Ankunftsstadt trägt viele Namen, und die arrivierten Städter rümpfen oftmals die Nase über sie: Slum, Favela, Barrio, Bustee, Ashwaiyyat, Urban Village. Die Idee ist im Grunde ganz einfach: Menschen ziehen nie wahllos vom Land in eine Stadt oder von einem Land in ein anderes. So findet Migration nirgendwo statt. Sie verläuft über bestehende interpersonelle Netzwerke. Es verhält sich so, dass Menschen einer bestimmten ländlichen Umgebung in eine spezifische, neue, urbane Region ziehen, in der sie ihre eigene Wirtschaft etablieren können. Die Bewohner Nord- oder Westlondons kommen nicht aus dem Nirgendwo, sondern aus ländlichen Clusters Schlesiens bzw. Südwestpolens; die Bewohner im Süden von Los Angeles stammen nicht von irgendwo aus Südamerika, sondern aus klar lokalisierbaren ländlichen Gebieten Guatemalas, Salvadors und Honduras’.
Familienbande bilden also die Struktur dieser Migrationsflüsse?
Im weiteren Sinne, ja. Es geht hier um bestehende Netzwerke, die regionen- und länderübergreifend funktionieren und in neuen Kontexten justiert werden – Know-how, Wohnungen, Kredite, alles Mögliche wird unter Leuten getauscht und vermittelt, die sich vertrauen. Viele Migranten kommen zunächst oftmals, um ein paar Monate fern von der Heimat zu leben und Extrageld zu verdienen. Am Ende bleiben sie länger, lassen sich nieder und ziehen ein eigenes Business auf – und Leute aus ihrer Heimat nach. In diesen Vorhöfen der Stadt, in denen es noch genügend Platz hat, um sich anzusiedeln, entstehen dann die Slums, Favelas und Barrios. Dieser neue Lebensraum zwischen dem alten Dorf und der neuen Stadt ist die Ankunftsstadt.
Ist die Ankunftsstadt die Terra promessa der Leute, die aus eher ärmlichen, ländlichen Gebieten ausziehen, um das grosse Glück zu versuchen?
Um das zu klären: am Anfang steht zumeist die Not. Die besten und mutigsten Familienglieder ziehen in die Stadt, um Geld zu verdienen und die Verwandten im Dorf durch Überweisungen besserzustellen. Nach der ersten Orientierungszeit versuchen die Neuankömmlinge neue Verbindungen zur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Struktur der Stadt zu knüpfen. Dadurch erschliessen sie sich neue Perspektiven für ihr eigenes Leben. Die Leute in der Ankunftsstadt definieren sich für gewöhnlich nicht durch das, was sie waren oder sind, sondern durch das, was sie sein wollen bzw. werden, mithin durch ihre Kinder, die es besser haben sollen als sie. Sie sehen sich selbst als Protagonisten des Übergangs und Akteure des Wandels. Sie stellen eine unglaubliche Ressource dar, und so sollten sie von den etablierten Kräften auch gesehen werden: Was zählt, ist nicht die aktuelle Armut; was zählt, ist vielmehr die soziale Mobilität innerhalb der Generationen. London und New York sind Beispiele dafür, wie gut diese Netzwerke funktionieren können. Dennoch wird das Potential der Ankunftsstädte weiterhin verkannt – gerade die Bewohner wohlhabender Gesellschaften blicken auf die Slums und Favelas herab. Dabei sind Städte wie London, Paris oder Berlin vor 150 Jahren genau so gewachsen. Die Migranten quartieren sich freiwillig in der Peripherie ein, und sie tun dies aus einem einzigen Grund: weil es ihnen da besser geht als zuvor, oder genauer: weil sie mehr Optionen haben als zuvor, weil sie Aussicht auf soziale Mobilität haben. Die Kinder der Bewohner der Ankunftsstädte sind die Vertreter des künftigen Mittelstands.
Und das sind die Bürger, die sich die Städte heute doch wünschen. Denken wir also mal pragmatisch: Lässt sich Urbanisierung auch fabrizieren?
Die Versuche, die Verstädterung zu erzwingen, haben bisher stets in Gewalt und Chaos geendet – denken Sie nur an die Anstrengungen des Schahs im Iran der 1960er und 1970er Jahre. Die Bewegung vom Land in die Stadt geschieht spontan, wenn sich die Menschen in den Städten Aussicht auf neue Lebensoptionen versprechen. Sie verfügen über einen verlässlichen Überlebensinstinkt; sie leben, wo es sich für sie zu leben lohnt. Die ambitionierten unter den Familien auf dem Lande ziehen in dichtere Siedlungsgebiete; sie sorgen für eine Rückfallebene, sollte die Ernte einmal ausfallen. Sie sind leidens-, verzicht- und leistungsbereit, wollen hochkommen, sparen, vorsorgen. Sie wissen: die Dichte in den Städten begünstigt den Tausch von Ideen, Emotionen, Waren. Das ist ihre Chance.
Die Dichte kann aber auch dafür sorgen, dass sich die Menschen in die Quere kommen – wenn der eine dem anderen den Platz wegnimmt.
Absolut. Ankunftsstädte können stets beides sein: Hort eines besseren Lebens und Orte des Scheiterns, sprich: neuer Mittelstand oder Rückfall in alte Verhaltensmuster. Ich denke, die Entwicklung der Städte bestimmt mehr als alle anderen Faktoren, welche Richtung Wirtschaft und Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten einschlagen werden. Dabei ist eines klar: wenn Leute sich besserstellen wollen, ziehen sie in die Städte. Sie arbeiten in der Illegalität, wenn’s sein muss; das tun beispielsweise gerade 200 Millionen Chinesen, die sich von restriktiven Gesetzen nicht davon abhalten lassen, Ankunftsstädte zu gründen. Ebenso klar ist, dass die Zuwanderung mit Ängsten der etablierten Stadtbewohner einhergeht, zumal die Ankunftsstädte oftmals chaotisch und schmutzig sind. Aber die neuen Städter, die in der Peripherie leben, sind zu allem bereit – von diesem Leistungswillen können alle profitieren.
Sie idealisieren. Vielleicht kommen sie in die Stadt, weil sie sich falsche Hoffnungen machen.
Klar gehört Scheitern zum Alltag in Ankunftsstädten. Aber wenn nur eine Familie von zwanzig reüssiert, zieht sie die anderen neunzehn mit. Und jene, die in die Stadt ziehen, haben bereits eine Selektion hinter sich; es sind für gewöhnlich die risikobereiten, die mutigen, die ambitionierten Leute, die ein neues Leben wagen.
Das klingt wirklich schön, aber wie reagiert eine Stadt konkret auf eine Vielzahl Zuwanderer? Soll die Verwaltung alle mal machen lassen – also einfach nichts tun?
Es bedarf zweifellos keiner Polizeiüberwachung, keiner sozialen Interventionsprogramme. Was es braucht, ist Anerkennung, Infrastruktur, Bildung für die Zuzüger. Wenn die Stadtregierung keine Schulen baut, dann tut es jemand anders – im Gamaliya-Quartier in Kairo, wo 400 000 Menschen wohnen, waren es die Muslimbrüder, in den brasilianischen Favelas waren es lange Zeit die Drogenbanden. Die Leute in den Ankunftsstädten brauchen passable Strassen, Rechtssicherheit und öffentliche Einrichtungen, um ihr Business aufzuziehen und Hauseigentum zu erwerben, sie müssen sich zugehörig fühlen, die Bürgerschaft bekommen, damit sie sich auch politisch engagieren – dann sind sie ein aktiver Teil der Stadt, ein selbstbewusster Mittelstand, mit dem zu rechnen ist.
Zugleich gibt es jene, die abgehängt werden. Jene, die auf Kosten anderer zu leben versuchen. Jene, die das System ausnutzen.
Die gibt es überall, mitunter in der bestehenden Stadt. Ich leugne auch nicht, dass es stets Gewaltpotential gibt – ich will hier kein Märchen erzählen. Vieles hängt zweifellos von den spezifischen Bedingungen im Land und vor Ort ab. Der Punkt ist aber: wenn die Bewohner der bestehenden Stadt jenen der Ankunftsstadt Anerkennung und Mitsprache verweigern, begünstigt dies Unrast, Ex-tremismus, Gewalt.
Sie haben in Amsterdam, Berlin, Paris und London gelebt. Würden Sie sagen, dass in diesen Städten die Urbanisierung immer noch funktioniert, also Mehrwert für ihre Bewohner schafft, oder lässt sich hier beobachten, wie einst erfolgreiche Städte sich segregieren?
Die Urbanisierung funktioniert insgesamt hervorragend, auch wenn die Medien natürlich gerne auf die negativen Erfahrungen fokussieren. Es gibt einzelne Bezirke, in denen sich die Armut über Generationen hält – in denen eine Art Parallelgesellschaften entstanden sind, zum Beispiel in Belleville im Osten und Nordosten von Paris. Dieser Entwicklung liegen politische Fehlentscheide zugrunde. Die Leute leben in architektonischen Ghettos aus den 1960er Jahren, die als Arbeitersiedlungen geplant waren, in Wohnblocks oder Plattenbauten. Hier entsteht kein Austausch, keine Intensität, keine Dichte, kein städtisches Leben. Diese tristen Orte sind isoliert, verfügen über keine belebten Plätze, hier entstehen kaum Geschäfte, hier investiert niemand, will niemand Eigentum erwerben. Kurzum, das sind eher politische Ghettos als spontan entstandene, pulsierende Ankunftsstädte.
Hat der politisch gewollte soziale Wohnungsbau in den europäischen Grossstädten ungewollt zu einer Ghettoisierung geführt?
Die Projekte waren gut gemeint, aber nicht gut. Was ursprünglich für den heimischen Mittelstand gedacht war, ist zur Endstation von Migranten geworden. Symptomatisch hierfür sind die erschreckend leeren Räume zwischen den Häusern, wo nichts, absolut nichts passiert. Das Problem ist allerdings erkannt. Die Bürgermeister von Hamburg, London und Amsterdam sagen mir alle dasselbe: Wir brauchen Quartiere des verdichteten Wohnens, der dichten Nachbarschaft, des intensiven Austauschs. Der soziale Wohnungsbau entwickelt sich weiter und füllt die bestehenden Lücken aus.
Sie haben die Ankunftsstädte in der ganzen Welt studiert. Wie sieht der ideale Wohn- und Lebensraum aus? Wie viel Privacy braucht es, wie viel öffentliche Plätze, wie viel Zement, wie viel Grünflächen?
Eine der erfolgreichsten Ankunftsstädte, vielleicht die erfolgreichste in der Geschichte des Westens überhaupt, ist Manhattan. Was sehen wir da? Maximale Dichte, hohe Gebäude, gute Strassen, kein Grün. So sieht die ideale Ankunftsstadt aus. Ich habe für mein Buch Umfragen unter den Bewohnern ganz verschiedener Ankunftsstädte durchgeführt. Die Ergebnisse sind für die Städteplaner ernüchternd: schöne öffentliche Plätze, Parkanlagen – all diese Sachen interessieren die Neuankömmlinge nicht. Die drei wichtigsten Punkte für sie sind: Sicherheit, gute Transportwege, Dichte.
Die öffentlichen Begegnungsorte sind geradezu eine Obsession der Urbanisten…
…nicht so für die Ankömmlinge. Von zentraler Bedeutung ist für sie der private Lebensraum. Ihr Ziel ist es, Eigentum zu erwerben. Sie wollen ungestört sein, ungestört arbeiten. Wo eine Ankunftsstadt klare Eigentumsverhältnisse kennt, sind kaum Spuren von Verwahrlosung zu erkennen. Eigentum bedeutet Verantwortung. Wenn die Strasse ihren Anwohnern gehört, so können wir davon ausgehen, dass es eine gepflegte, saubere Strasse ist. Natürlich bedeuten öffentliche Räume nicht per se Verwahrlosung und Verschmutzung, doch bedarf es hierfür eines höheren, erst zu bildenden Bürgersinns. Jeder will, dass sein Wohnraum glänzt und strahlt; nicht alle wollen, dass anonyme Orte, die niemandem gehören, gut aussehen.
Kennen Sie die Schweiz?
Klar, ich kenne auch ein paar merkwürdige politische Entscheidungen der jüngeren Zeit. Die Schweiz ist zwar sehr stark urbanisiert, auch globalisiert, und die Städte wirtschaften ziemlich erfolgreich, zudem haben sie Einwanderer hervorragend in die städtische Ökonomie integriert. Die Schweiz kennt kaum Immi-grationsprobleme, wie mir scheint. Dies hat zweifellos damit zu tun, dass viele qualifizierte Leute aus Europa in die Schweiz kommen, um ihr Glück zu suchen. Dennoch haben sich viele Schweizer eine Art ländliches Denken bewahrt. Die Staatsbürgerschaft wird wie ein Fetisch behandelt. Dies dürfte mit der speziellen Geschichte des Landes zusammenhängen. Der ferne Beobachter versteht, so aufmerksam er sich auch zu sein bemüht, vieles nicht.
Die Schweiz ist ja eigentlich nichts anderes als eine grosse Stadt, eine Art City State mit einem Ausländeranteil von fast 30 Prozent – eine im europäischen Vergleich zweifellos bemerkenswerte Zahl. Wäre es nicht wert, diese Konstellation einmal zu studieren?
Eine interessante Perspektive. Das Besondere der Schweiz besteht in ihrer dezentralen Struktur. Sie ist de facto eine einzige grosse Stadt, die mit dem ganzen Umland tausendfach verbunden ist, aber eben eine maximal subsidiär organisierte. Genf, Bern und Zürich sind zwar stark vernetzt, funktionieren aber nach ihren je eigenen Logiken. Ich denke, diese Organisationsform ist einer der Hauptgründe für die anhaltende Attraktivität der Schweiz.