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Die grosse Harmonisierung kommt

CH & EU Die EU will den gemeinsamen Markt neu lancieren. Sagt sie. In Wahrheit ist sie daran, die Steuern der EU-Länder zu harmonisieren und also anzuheben. Die Schweiz sollte sich warm anziehen.

Ist die Schweiz ein zweites Irland? Ein Land also, das – wir erinnern uns – so lange abstimmen sollte, bis sich die Meinung von Regierenden und Regierten deckt? Diesen Eindruck gewinnt, wer die Äusserungen vieler Politiker, Intellektueller und Medienvertreter nach dem Volksentscheid zur Anti-Minarett-Initiative verfolgt hat. Sich für eine Ungültigerklärung oder Wiederholung der Abstimmung einzusetzen, ist natürlich deren gutes Recht. Doch dürfte ihrem Ansinnen kein Erfolg beschieden sein. Dies zeigt, dass die Schweiz (noch) anders funktioniert als die Europäische Union.

Dabei ist in der ganzen Aufregung der letzten Wochen eine Nachricht untergegangen, die genau das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU betrifft, eine Nachricht mithin, die sich für die Schweiz als viel einschneidender herausstellen könnte als die Annahme der Anti-Minarett-Initiative. Der Präsident der Europäischen Union, José Manuel Barroso, hat Professor Mario Monti einen Auftrag erteilt, der uns beunruhigen sollte. Monti, der von 1994 bis 2004 EU-Kommissar war, soll die «Koordination» der Steuerpolitik zwischen den EU-Staaten an die Hand nehmen.

Der Auftrag kam unverdächtig formuliert daher – offiziell geht es um die Neulancierung des gemeinsamen Marktes –, doch erging er mit verdächtiger Diskretion und Schnelligkeit Ende Oktober 2009, noch bevor die neue Kommission sich konstituierte. Das Geschäft muss also wichtig sein, und es braucht nicht viel Phantasie, um den Grund zu begreifen. Wenn in der EU von «Koordination» und «Harmonsierung» die Rede ist, so geht es stets um dasselbe: um eine Nivellierung nach unten oder, im Fall der Steuern, nach oben. Das wird für die Schweiz nicht ohne Folgen bleiben.

Die EU hat zwei grosse Verdienste. Sie hat einerseits einem durch zwei Weltkriege verwüsteten Kontinent Frieden gebracht, indem sie die Voraussetzungen dafür schuf, weitere bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland zu vermeiden. Und anderseits kommt ihr das Verdienst zu, durch die Etablierung eines gemeinsamen Marktes einen wachsenden Wohlstand in Europa ermöglicht zu haben. Leider werden die Staaten nun aber in der Folge der Finanzkrise vom Dämon des Protektionismus geplagt. Rhetorisch beschwören sie zwar weiterhin die freien Märkte. Doch faktisch betrachten sie die Liberalisierung der Märkte als Hindernis für die populäre Schutzpolitik zugunsten nationaler Industrien (zum Beispiel Opel in Deutschland) oder als Gefahr für Interventionen zugunsten der Rettung irgendwelcher Arbeitsplätze. Wenn sich die EU-Staaten dermassen abzuschotten beginnen, wird auch die Schweiz die Folgen zu spüren bekommen.

Aber zurück zu Professor Monti. Er wird weitherum für seine Kompetenz, seine Integrität und seine Konsequenz geschätzt. Das stimmt zweifellos. Ebensowahr ist jedoch, dass er eine technokratische Weltsicht und eine seltsame Auffassung von Wettbewerb vertritt. Sein diesbezügliches Denken liesse sich folgendermassen zusammenfassen:

• Der gemeinsame Markt zeigt zunehmende Anzeichen von Schwäche, wobei vor allem Frankreich und Deutschland ihre Unzufriedenheit bekunden, indem sie – wie erwähnt – eigenmächtige Massnahmen im eigenen Interesse ergreifen. Ein Pfeiler der EU bekommt also gefährliche Risse.

• Die Unzufriedenheit beruht auf einem Konflikt zwischen den Zielen des gemeinsamen Marktes und den momentanen sozialpolitischen Erfordernissen der einzelnen Mitgliedstaaten. Die EU muss sich von Gesetzes wegen staatlichen Subventionen oder Interventionen widersetzen, die den Wettbewerb beeinträchtigen. Den Staaten ist diese Wettbewerbspolitik jedoch ein Dorn im Auge.

• Eine intelligende und einfache Lösung dieses Konflikts besteht deshalb darin, den Steuerwettbewerb nach Möglichkeit auszuschalten. Wenn der Steuerdruck europaweit koordiniert wird – das heisst wenn die Steuern überall gleichmässig angehoben werden –, so haben alle Staaten mehr Geld zur Verfügung, ohne einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Staaten zu erleiden.

Ich komme zum entscheidenden Punkt. Die grossen EU-Staaten – und das sind die Staaten, die letztlich entscheiden – wollen keine Steuerkonkurrenz. Sie sind überschuldet und erfüllen die selbstverordneten Maastricht-Kriterien (jährliches Defizit unter 3 Prozent und Gesamtverschuldung unter 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts) längst nicht mehr. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass viele Länder in den nächsten Jahren eine Gesamtverschuldung von über 100 Prozent des BIP erreichen werden. Das sind alarmierende Entwicklungen.

Die Wirtschaft wird gegenwärtig durch enorme Liquiditätszufuhren der Zentralbanken und durch eine drastische Erhöhung der Staatsschulden gestützt, oder vielleicht sollte man besser sagen: gedopt. Aber irgendwann lässt die Wirkung des Dopings nach, irgendwann werden die Schulden zurückgezahlt werden müssen. Hierzu gibt es nicht viele Möglichkeiten: entweder wird mehr gearbeitet und gespart (illusorische Hypothese), oder es wird weniger ausgegeben (noch illusorischer), oder es wird mehr einkassiert (wahrscheinliche Variante), oder es kommt zum grossen Scheitern (ultima ratio: die Staaten entledigen sich ihrer Schulden durch Inflation).

Die Aussichten sind nicht besonders rosig. Fest steht: wenn der Steuerzahler maximal ausgepresst werden soll, dürfen auf europäischer Ebene keine Staaten mehr existieren, die auf niedrige Steuern setzen. Sonst hätte der Steuerzahler nämlich die Möglichkeit, mit den Füssen abzustimmen und seinen Wohn- oder Firmensitz zu wechseln. Die EU ist also mit anderen Worten gerade daran, jene Staaten zu diskriminieren, die sich als weniger spendabel, als effizienter oder schlanker präsentieren. Das wird nicht ohne Folgen für die Schweiz bleiben.

Unter dem Deckmantel der sogenannten Gerechtigkeit (gleiche, das heisst gleich hohe Steuern für alle!) wird die EU die Schweiz unter Druck setzen. Viele unserer Medien werden in den verlogenen moralischen Singsang einstimmen. Und der politische Widerstand wird weiter bröckeln.

Es scheint, als hätten wir uns nach einem harten Jahr 2009 fast schon daran gewöhnt, den Gang der Dinge einfach hinzunehmen. Doch nichts wäre falscher als das. Wir sollten uns vielmehr präventiv Gegenmassnahmen überlegen, Allianzen bilden (inner- und aussereuropäische), gemeinsame Interessen herausstreichen (wir haben auch Steuerzahler anderer Länder auf unserer Seite), Kompromisslösungen skizzieren (quid pro quo).

Wir sollten vorsorgen. Und uns darüber hinaus für alle Fälle warm anziehen. Der Streit mit der EU um das Bankgeheimnis dürfte uns im Rückblick wie ein Vorgeplänkel erscheinen im Vergleich zu dem, was uns nun erwartet.

Tito Tettamanti, geboren 1930, ist Anwalt und Financier.

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