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«Die grösste Herausforderung für die Altersvorsorge ist die
Unfähigkeit der Politik»

Die erste und zweite Säule müssten dringend auf eine tragfähige Basis gestellt werden, sagt FDP-Ständerat Damian Müller. Reformen ja, aber nicht auf Kosten der Frauen, ­entgegnet seine SP-Kollegin Marina Carobbio.

«Die grösste Herausforderung für die Altersvorsorge ist die  Unfähigkeit der Politik»
Marina Carobbio, fotografiert von Daniel Jung.

 

Frau Carobbio, Sie sind Ärztin. Lassen sich die Beschwerden der Schweizer Altersvorsorge minimalintensiv behandeln oder braucht es eine grössere Operation?

Marina Carobbio: Man muss sie sicher behandeln. Ob mit einer grossen Operation oder eher einer kleineren, hängt davon ab, ob der Wille da ist, etwas zu erreichen. Die Reformen, die im Moment auf dem Tisch liegen, bedeuten keine Heilung für die Altersvorsorge.

Seit Jahren findet in der Altersvorsorge eine schleichende Umverteilung von den Jüngeren zu den Älteren statt. Herr ­Müller, Sie sind 37jährig. Reicht es noch für eine Rente für Sie?

Damian Müller: Davon bin ich schwer überzeugt. Man wird vorher der Landwirtschaft das Geld wegnehmen, bevor die AHV-Renten nicht mehr ausbezahlt werden. Spass beiseite: Ich werde eine Rente erhalten – die Frage ist nur, wie sie finanziert wird. Ich glaube, da müssen wir extrem aufpassen. Um das Bild von vorher aufzunehmen: Im ­Moment setzt man auf eine homöopathische Behandlung und versucht noch ein Arnika zu verabreichen – im ­Wissen darum, dass übermorgen bereits ein Herzeingriff nötig wird. Wir wissen, dass wir aufgrund der demografischen Entwicklung Probleme bekommen mit der Finanzierung. Da braucht es jetzt Massnahmen. Wir müssen uns bewusst sein, dass das System bis 2035 eine Million zusätzliche Rentner der Babyboomergeneration auf­nehmen muss. Ohne Reform wird sich das Defizit der AHV innerhalb von fünf Jahren – zwischen 2030 und 2035 – nochmals von 5 auf 10 Milliarden Franken verdoppeln. Wenn wir jetzt nichts tun, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Mehrwertsteuer dannzumal massiv zu er­höhen.

Die Zeit drängt, aber das Parlament lässt sich Zeit. Die Reform der ersten Säule heisst AHV 21, weil sie ursprünglich 2021 in Kraft treten sollte. Jetzt ist die Vorlage, mit der das Renten­alter der Frauen auf 65 Jahre erhöht und die Mehrwertsteuer angehoben werden soll, noch immer nicht umgesetzt. Warum tut sich die Schweiz so schwer mit Reformen in der Alters­vorsorge?

Carobbio: Die Reformen, die momentan diskutiert werden, sind keine Antwort auf die Probleme der Rentnerinnen und Rentner. Ich bin nicht gegen eine Reform, aber ich bin gegen eine Reform auf Kosten der Frauen. Wir wissen, dass ein Lohnunterschied von 20 Prozent zwischen Frauen und Männern besteht. Frauen erhalten im Schnitt ungefähr einen Drittel weniger Rente als Männer, ungefähr ein Drittel der Frauen hat keinen Zugang zur zweiten Säule, und viel mehr Frauen als Männer sind von der Sozialhilfe abhängig.

Sie sind für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, warum nicht beim Rentenalter?

Carobbio: Weil es im Moment keine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gibt. Es gibt Lohnunterschiede, die Frauen machen den grössten Teil der sogenannten Care-Arbeit, viele Frauen arbeiten immer noch Teilzeit. Wenn wir mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt bringen würden, wenn mehr Frauen Vollzeit arbeiten könnten, zum Beispiel dank besserer Vereinbarkeit von Familie und ­Beruf, dann würden auch mehr Beiträge in die AHV fliessen. Wenn man den Lohn-Gap korrigieren würde, würden jährlich 800 Millionen Franken mehr in die AHV fliessen.

Damian Müller, fotografiert von Daniel Jung.

Wer ist aus Ihrer Sicht schuld am Reformstau, Herr Müller?

Müller: Der Hauptgrund, warum keine Reformen zustande kommen, ist die Politik. In der AHV wird das Referenzalter politisch fixiert. Ehrlicherweise müsste man das Rentenalter entpolitisieren und an die Lebenserwartung koppeln. Auch der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge ist politisiert und hat nichts mit der Realität zu tun. Was die AHV betrifft, muss ich meiner Kollegin Carobbio massiv ­widersprechen. Insgesamt sind die Frauen in der AHV nicht schlechtergestellt. Sie bekommen sogar im Durchschnitt ­etwas mehr, sie leben auch länger als die Männer. Die Probleme der Frauen liegen im BVG. Da geht es zum Beispiel um den Koordinationsabzug. Man diskutiert dar­über, diesen zu halbieren – das ist das Mindeste aus meiner Sicht. Der nächste Schritt wäre, ihn ganz aufzuheben. Wir müssen Frauen, die Teilzeit arbeiten, die Möglichkeit geben, mehr Alterskapital anzusparen. Am Ende müssen wir bei beiden Vorlagen sicherstellen, dass sie mehrheitsfähig sind. Die erste und die zweite Säule müssen existenz­sichernd sein. Wir dürfen nicht bei den tiefen Einkommen sparen, weder in der AHV noch im BVG. Noch etwas zur Lohnungleichheit: Es gibt einen Lohnunterschied von etwa 7 Prozent zwischen Frauen und Männern, der statistisch nicht erklärt ist. Aber genau dafür hat ja das Parlament ein Gesetz beschlossen: Die grösseren und mittleren Unternehmen müssen jetzt im Geschäftsbericht klar sagen, wie sie die Lohnungleichheit angehen. Wir sind also daran, das Problem zu korrigieren.

Carobbio: So einfach, wie Kollege Müller die Situation darstellt, ist sie leider nicht. Diese Massnahmen betreffen nur Unternehmen mit mehr als hundert Mitarbeitern – in der Schweiz sind weniger als 1 Prozent aller Unternehmen im Land so gross. Tatsache ist, dass viele Frauen immer noch Teilzeit arbeiten, weil die Strukturen und Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ungenügend sind. Da müssten wir mehr machen. Dann hätten wir auch mehr Frauen, die am BVG angeschlossen sind. Was die AHV-­Reform betrifft: Die AHV 21 ist für viele Frauen eine ­Verschlechterung. 1,2 Milliarden Franken werden durch die Rentenalterserhöhung auf Kosten der Frauen eingespart. Die Kompensationsmassnahmen sind ungenügend. Die letzte AHV-Reform, die vor dem Volk Erfolg hatte, sah viel höhere Kompensationen vor. Aber das grosse Problem – da gehe ich mit Herrn Müller einig – liegt beim BVG: Viele Frauen haben keinen Zugang zur zweiten Säule, und wenn doch, dann ­haben sie im Schnitt viel tiefere Renten. Und was macht der Nationalrat? Er verschlechtert den Kompromiss, der von den Sozialpartnern vorgeschlagen und vom Bundesrat aufgenommen wurde. Die Kosten werden Frauen, Teilzeitarbeiter und Menschen mit tieferen Einkommen tragen. Wir haben zwei Reformen, die in der jetzigen Version die Frauen und die tieferen Einkommen stark benachteiligen.

Aufgrund der Demografie wäre die Angleichung des Renten­alters der Frauen an jenes der Männer überfällig. Im Raum steht bereits die Renteninitiative der Jungfreisinnigen, die noch weiter gehen und das Rentenalter generell an die Lebens­erwartung koppeln möchte.

Carobbio: Die Realität ist, dass die AHV seit vielen Jahren nicht mehr angepasst wurde. Es gibt immer noch viele Menschen, insbesondere Frauen, die stark abhängig sind von der AHV. Ich bin einverstanden, es gibt eine demografische Entwicklung, und angesichts der tiefen Zinsen muss man etwas tun. Wichtig ist, dass, wenn wir Anpassungen vornehmen, die Renten gesichert werden.

Wie stehen Sie zur Idee der Koppelung des Rentenalters an die ­Lebenserwartung, Herr Müller?

Müller: Jedes Kind, das heute auf die Welt kommt, hat das Potenzial, hundert Jahre alt zu werden. Die SP will am Status quo festhalten. Damit gehen Frauen mit 64 in Pension und beziehen im Durchschnitt bald 35 Jahre eine Rente. Das kann man machen, wir müssen dann einfach die Mehrwertsteuer um 2, 3, 4 oder 5 Prozentpunkte erhöhen. Da frage ich Sie, Frau Carobbio: Wer wird durch eine Mehrwertsteuererhöhung überproportional bestraft? Es sind die tiefen Einkommen. Und die Behauptung, wir sparten auf Kosten der Frauen, stimmt schlichtweg nicht. Rein buchhalterisch bräuchte es keine Ausgleichsmassnahmen für die Rentenalterserhöhung, die Frauen sind in der AHV nicht benachteiligt. Wir wissen ja, dass wir in die roten Zahlen hineinlaufen. Aber das Parlament hat gesagt: Weil wir in die Rentenplanung der Frauen eingreifen, werden wir sie entschädigen. Wir investieren jetzt etwa 700 Millionen Franken dafür. Ja, man könnte auch noch grosszügigere Ausgleichsmassnahmen beschliessen. Aber wenn wir die ganzen Einsparungen gleich wieder ausgeben, dann lassen wir es lieber ganz sein. Die Initiative der Jungfreisinnigen wirft eine Frage auf, die diskutiert werden muss, was Bundesrat Berset und ihm nahestehende Kreise natürlich überhaupt nicht wollen. Das Referenzalter an die Lebenserwartung zu koppeln, wäre nichts als fair. Gerade angesichts des Fachkräftemangels ist es richtig und wichtig, dass die Leute, auch weil sie eine längere Lebens­erwartung ­haben, länger im Arbeitsmarkt bleiben. Diese Initiative ermöglicht es, strukturelle Reformen anzupacken.

Carobbio: Ich finde es gut, dass das Parlament und das Volk über die Initiative der Jungfreisinnigen diskutieren. In den Berichten der Kommission haben Sie aber gesehen, was es bedeutet, die AHV an die Lebenserwartung zu koppeln, insbesondere für Menschen mit niedrigen Einkommen. Es gibt Pro­bleme für Teilzeitarbeitende, für Frauen, die eine tiefere Rente haben. Sie sagen immer, das würden wir im BVG korrigieren. Der Nationalrat macht aber keine Anstalten in diese Richtung – im Gegenteil: Der Kompromiss der Sozialpartner wird kaputtgemacht.

Kommen wir auf die BVG-Reform im Detail zu sprechen. Der Umwandlungssatz soll von 6,8 auf 6,0 Prozent gesenkt werden, aber rein rechnerisch reicht das nicht: Aufgrund der Lebens­erwartung und der erwarteten Renditen am Kapitalmarkt müsste er eigentlich noch tiefer liegen. Warum machen Sie hier nur einen halben Schritt?

Müller: Die Absenkung des Mindestumwandlungssatzes auf 6,0 Prozent ist der erste grosse Schritt, den wir machen können. Ich weiss, dass eigentlich 4,8 oder 5 Prozent korrekt wären. Politisch geht das im Moment aber nicht, also machen wir den ersten Schritt. Es ist jetzt wichtig, dass wir diesen ersten Schritt nicht aus dem Fokus verlieren. Ich bin der Auffassung, dass unsere Schwesterkommission im Nationalrat etwas über die Stränge gehauen hat. Es ist in dieser ersten Runde natürlich auch ein wenig ein Wunschkonzert. Ein gravierender Fehler ist beispielsweise, dass die Kommission die Eintrittsschwelle fürs BVG von 21 510 auf 12 518 Franken herabsetzen will. Damit hätten wir bis zu 300 000 Menschen mehr, für die wir BVG ausbezahlen müssten. Das bedeutet Mehrkosten – höhere Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber – von etwa 500 Millionen Franken. Es ist am Ständerat, als «Chambre de Réflexion» wieder ein wenig zur Besinnung zu kommen. Wir dürfen das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren, sonst scheitert die Reform. Es geht um die Senkung des Mindestumwandlungssatzes und Kompensationsmassnahmen, um das Rentenniveau zu halten.

Frau Carobbio, was wäre aus ­Ihrer Sicht ein gangbarer ­Kompromiss?

Carobbio: Ich stehe zum BVG-Kompromiss der Sozialpartner. Leider wird dieser im Nationalrat in Frage gestellt. Ziel des Kompromisses ist, das Rentenniveau zu sichern, die Finanzierung zu stärken, die Teilzeit­beschäftigten abzusichern und damit insbesondere die Situation der Frauen zu verbessern. Um dies zu erreichen, ist ein Ausgleichsmechanismus vorgesehen. Leider will die Nationalratskommission die Kompen­sationen begrenzen und die Beiträge erhöhen. Das führt zu Renteneinbussen beim obligatorischen Teil von bis zu 12 Prozent. Die geplante Entschädigung für die Frauen ist unzureichend. Ich hoffe immer noch, dass wir uns im Ständerat wieder auf die Kompromisse der Sozialpartner besinnen, um mindestens in diesem Bereich einen Schritt zu tun. Man kann das BVG nicht von der AHV entkoppeln.

Der Vorschlag des Bundesrates sieht Kompensationen vor, die faktisch zu einer zusätzlichen Umverteilung führen. Ist das ­eigentlich nicht unfair? Die Idee der zweiten Säule ist ja, dass jeder für sich spart.

Carobbio: Dass jeder für sich spart, ist vor allem die Idee der dritten Säule. Aber eben, die Vorlage des Bundesrats ist ein Kompromiss. Ein Vorschlag der SP für eine BVG-­Reform würde anders aussehen. Nicht alles, was wir wollen, ist im Kompromiss enthalten.

Müller: Sowohl der Bundesrat als auch die Parteien haben den Sozialpartnern einen Auftrag gegeben. Die Sozialpartner haben sich gefunden. Aus meiner Sicht ist der Kompromiss etwas zu grosszügig ausgestaltet. Jetzt gilt es daran zu arbeiten. Ich lade Frau Carobbio ein, mitzuarbeiten und nicht wie bei der AHV die Arbeit zu verweigern. Es ist ein Geben und Nehmen. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass es nicht um Versicherte mit viel überobligatorischem Kapital geht, sondern um solche mit nur obligatorischem Kapital oder wenig mehr. Das sind nicht jene, die unbedingt zu den Privilegierten gehören. Wo landen diese Leute, wenn wir bei den tiefen Einkommen wieder irgendwo etwas abkratzen und ihre Renten sinken? Sie landen bei den Kantonen und bei den Gemeinden, die ihre Ergänzungsleistungen bezahlen müssen. Damit steigen die Ausgaben der Gemeinden und letztlich die Steuern. Es ist an der Zeit, dass wir die Parteipolitik verlassen und das Auge auf das Wohl des Landes richten. Corona hat gezeigt, dass es jetzt nicht angezeigt ist, dass wir in diesem Land Krach haben. Es ist die Aufgabe des Parlaments, die Gräben wieder zuzuschütten, und das heisst auch, solidarisch zu sein. Solidarität gibt es auch im BVG. Am Ende muss das Ganze einfach finanzierbar und mehrheitsfähig sein.

Es ist klar, dass diese Reformen nicht ausreichen werden, um die Vorsorgewerke langfristig auf eine stabile Basis zu ­stellen, sondern die Probleme bloss ein paar Jahre in die ­Zukunft ­verschieben. Wie geht es dann weiter? Werden wir alle fünf Jahre wieder über eine Reform sprechen? Oder müsste man sich grundsätzlicher Gedanken machen, wie man die Altersvorsorge auf eine nachhaltige Grundlage stellt?

Carobbio: Für die Zukunft müssen wir erstens sicherstellen, dass wir bessere Renten haben, um zu vermeiden, dass Rentnerinnen und Rentner in Schwierigkeiten kommen und Ergänzungsleistungen beziehen müssen. Zweitens gibt es neue Arbeitsformen, die in den Sozialversicherungen heute nicht oder nur zum Teil berücksichtigt sind. Es geht beispielsweise um Selbständigerwerbende im Kulturbereich oder um Plattformarbeiter. In Zukunft werden ­atypische Arbeitsformen zunehmen. Wir müssen auch in diesem Bereich eine soziale Absicherung garantieren. Die finanzielle Seite müssen wir ebenfalls anschauen – wir ­haben aber Zeit, weil durch die Steuerreform (STAF) mehr Geld in die AHV fliesst.

Herr Müller, was ist aus Ihrer Sicht die grösste ­Herausforderung für die Altersvorsorge?

Müller: Die Unfähigkeit der Politik. Die Politik ist nicht ­fähig, das Rentenalter und den Umwandlungssatz zu entpolitisieren. Würde uns das gelingen, hätten wir eine ganz andere ­Diskussion, die sich auf das Wesentliche konzentrieren würde. Wenn wir länger leben, dann müssen wir auch die Voraussetzungen schaffen, um länger zu arbeiten. Dafür braucht es auch ein gewisses Umdenken bei den Patrons. Etwa 30 Prozent aller Erwerbstätigen gehen frühzeitig in Pension – das ist ein Zeichen des Wohlstands. Wir sollten nicht Leute privilegieren, wenn sie früher in den Ruhestand gehen, sondern Anreize schaffen, damit sie länger arbeiten. Das ist der Weg der Zukunft.


Das Gespräch fand am 18. November 2021 im Zunfthaus zur Waag in Zürich statt.

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