
Die Grenzen der Unterstützung
Die Ukraine erhält westliche Militärhilfe in beispiellosem Umfang: Waffensysteme, Ausbildung und Aufklärung. Ein Sieg über den Angreifer Russland kann damit aber nicht erzwungen werden.
Anlässlich des ersten Jahrestages der russischen Invasion äusserten sich Colin Kahl und Derek Chollet, beides hochrangige Berater des US-Verteidigungs- bzw. Aussenministeriums, in einem Podcast auf bemerkenswerte Weise über den Stand der US-Planung vor Kriegsausbruch. Wie viele Experten und Analysten hatte die Administration von Präsident Joe Biden einen Kriegsauftakt mit massiven Luftschlägen erwartet, gefolgt von schnellen Vorstössen der russischen Armee und einem raschen Kollaps der ukrainischen Streitkräfte.1 Die US-Entscheidungsträger glaubten offenbar nicht daran, dass die Ukraine in einem konventionellen Krieg gegen Russland bestehen könnte. Stattdessen bereitete man sich auf die Unterstützung einer Widerstandsbewegung vor, welche die russischen Besatzer in einem langjährigen Kleinkrieg zermürben würde. Es scheint naheliegend, dass die eigenen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan eine solche Lagebeurteilung beeinflussten.
Bekanntermassen hat sich diese Einschätzung im vergangenen Jahr nicht bestätigt. Ukrainische Soldaten – inklusive Angehörige der Territorialverteidigung und verschiedener Freiwilligenverbände – leisteten erbitterten Widerstand bei der Schlacht um Kiew und entlang der Frontlinie in Donezk und Luhansk; sowohl die politische als auch die militärische Führung des Landes blieben handlungsfähig. Der Fortbestand von Regierung und Streitkräften bildete die notwendige Grundlage für eine in ihrem Umfang – zumindest seit Ende des Kalten Kriegs – beispiellose Militärhilfe seitens der Nato und weiterer westlicher Staaten.2
Dank umfassender Waffenlieferungen sowie Unterstützung in den Bereichen Führung und Aufklärung, Ausbildung, Logistik und Cyber gelang es den Ukrainern im vergangenen Herbst sogar, zeitweise in die Offensive überzugehen und die russischen Streitkräfte im Raum Charkiw bzw. Cherson zurückzudrängen. Die darauf einsetzende Euphorie ist mittlerweile allerdings weitgehend verpufft. Sie war ohnehin mehr die Folge der medial befeuerten Verlautbarungen zahlreicher Experten, nicht wenige davon mit handfester Agenda, als das Resultat objektiver Analysen. So prognostizierte etwa der pensionierte US-Dreisternegeneral Ben Hodges, ehemaliger Kommandeur der US Army Europe, wiederholt eine Rückeroberung der Krim bis «Ende August 2023». Die Parallelen solcher Aussagen zur Erwartung, Kiew würde «innerhalb von drei Tagen fallen», sind augenscheinlich. Nicht bestritten werden kann, dass die Ukraine mittlerweile vollständig abhängig ist von der Nato-Militärhilfe. Diese sichert gegenwärtig zwar ihr Überleben, bietet aber keine Garantie dafür, den Krieg zu einem siegreichen Ende zu führen.
Ein koordinierter Kraftakt des Westens
Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es sich bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine in jeglicher Hinsicht um einen bemerkenswerten Kraftakt handelt. Noch unter Präsident Barack Obama hatten die Vereinigten Staaten nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch der Kampfhandlungen im Donbass auf die Bereitstellung von Rüstungsgütern verzichtet – offenbar, weil man befürchtete, dadurch in einen Stellvertreterkrieg mit Russland verwickelt zu werden.3 Eine Kurskorrektur folgte unter Obamas Nachfolger Donald Trump. Im April 2018 erhielt die Ukraine erstmals tragbare Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Javelin (37 Start- und Kontrolleinheiten sowie 210 Lenkflugkörper), wobei diese Waffenlieferung zum damaligen Zeitpunkt als «hauptsächlich symbolisch» charakterisiert wurde. Angesichts der immer konkreteren Anzeichen eines russischen Grossangriffs erteilten die USA Litauen und Lettland im Januar 2022 die Erlaubnis zur Weitergabe von Stinger-Flugabwehrlenkwaffen, einem schultergestützten System, das Washington bereits während des Kalten Kriegs an Aufständische in Afghanistan und Angola geliefert hatte. Daneben beteiligten sich weitere Staaten wie das Vereinigte Königreich, Kanada, Polen, Slowenien, Estland und die Niederlande mit Militärhilfe in Form von Sturm- und Maschinengewehren, Munition und ballistischen Schutzhelmen bzw. -westen.4 Die russische Invasion führte dann zu einer regelrechten Zäsur – Deutschland etwa revidierte seinen langjährigen Grundsatz, kein Kriegsmaterial in Konfliktgebiete zu liefern, und auch formell neutrale Staaten wie Schweden, Finnland und selbst Irland beteiligten sich mit Rüstungsgütern. Die Anzahl an EU- bzw. Nato-Mitgliedstaaten, die keine Hilfe bereitstellen, lässt sich mittlerweile an einer Hand abzählen.
Seit Frühling 2022 wird die militärische Assistenz an die Ukraine im…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1105 – April 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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