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Die Grenzen der Unterstützung
Michel Wyss, zvg.

Die Grenzen der Unterstützung

Die Ukraine erhält westliche Militärhilfe in beispiellosem Umfang: Waffensysteme, Ausbildung und Aufklärung. Ein Sieg über den Angreifer Russland kann damit aber nicht erzwungen werden.

Anlässlich des ersten Jahrestages der russischen Invasion äusserten sich Colin Kahl und Derek Chollet, beides hochrangige Berater des US-Verteidigungs- bzw. Aussenministeriums, in einem Podcast auf bemerkenswerte Weise über den Stand der US-Planung vor Kriegsausbruch. Wie viele Experten und Analysten hatte die Administration von Präsident Joe Biden einen Kriegsauftakt mit massiven Luftschlägen erwartet, gefolgt von schnellen Vorstössen der russischen Armee und einem raschen Kollaps der ukrainischen Streitkräfte.1 Die US-Entscheidungsträger glaubten offenbar nicht daran, dass die Ukraine in einem konventionellen Krieg gegen Russland bestehen könnte. Stattdessen bereitete man sich auf die Unterstützung einer Widerstandsbewegung vor, welche die russischen Besatzer in einem langjährigen Kleinkrieg zermürben würde. Es scheint naheliegend, dass die eigenen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan eine solche Lagebeurteilung beeinflussten.

Bekanntermassen hat sich diese Einschätzung im vergangenen Jahr nicht bestätigt. Ukrainische Soldaten – inklusive Angehörige der Territorialverteidigung und verschiedener Freiwilligenverbände – leisteten erbitterten Widerstand bei der Schlacht um Kiew und entlang der Frontlinie in Donezk und Luhansk; sowohl die politische als auch die militärische Führung des Landes blieben handlungsfähig. Der Fortbestand von Regierung und Streitkräften bildete die notwendige Grundlage für eine in ihrem Umfang – zumindest seit Ende des Kalten Kriegs – beispiellose Militärhilfe seitens der Nato und weiterer westlicher Staaten.2

Dank umfassender Waffenlieferungen sowie Unterstützung in den Bereichen Führung und Aufklärung, Ausbildung, Logistik und Cyber gelang es den Ukrainern im vergangenen Herbst sogar, zeitweise in die Offensive überzugehen und die russischen Streitkräfte im Raum Charkiw bzw. Cherson zurückzudrängen. Die darauf einsetzende Euphorie ist mittlerweile allerdings weitgehend verpufft. Sie war ohnehin mehr die Folge der medial befeuerten Verlautbarungen zahlreicher Experten, nicht wenige davon mit handfester Agenda, als das Resultat objektiver Analysen. So prognostizierte etwa der pensionierte US-Dreisternegeneral Ben Hodges, ehemaliger Kommandeur der US Army Europe, wiederholt eine Rückeroberung der Krim bis «Ende August 2023». Die Parallelen solcher Aussagen zur Erwartung, Kiew würde «innerhalb von drei Tagen fallen», sind augenscheinlich. Nicht bestritten werden kann, dass die Ukraine mittlerweile vollständig abhängig ist von der Nato-Militärhilfe. Diese sichert gegenwärtig zwar ihr Überleben, bietet aber keine Garantie dafür, den Krieg zu einem siegreichen Ende zu führen.

Ein koordinierter Kraftakt des Westens

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es sich bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine in jeglicher Hinsicht um einen bemerkenswerten Kraftakt handelt. Noch unter Präsident Barack Obama hatten die Vereinigten Staaten nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch der Kampfhandlungen im Donbass auf die Bereitstellung von Rüstungsgütern verzichtet – offenbar, weil man befürchtete, dadurch in einen Stellvertreterkrieg mit Russland verwickelt zu werden.3 Eine Kurskorrektur folgte unter Obamas Nachfolger Donald Trump. Im April 2018 erhielt die Ukraine erstmals tragbare Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Javelin (37 Start- und Kontrolleinheiten sowie 210 Lenkflugkörper), wobei diese Waffenlieferung zum damaligen Zeitpunkt als «hauptsächlich symbolisch» charakterisiert wurde. Angesichts der immer konkreteren Anzeichen eines russischen Grossangriffs erteilten die USA Litauen und Lettland im Januar 2022 die Erlaubnis zur Weitergabe von Stinger-Flugabwehrlenkwaffen, einem schultergestützten System, das Washington bereits während des Kalten Kriegs an Aufständische in Afghanistan und Angola geliefert hatte. Daneben beteiligten sich weitere Staaten wie das Vereinigte Königreich, Kanada, Polen, Slowenien, Estland und die Niederlande mit Militärhilfe in Form von Sturm- und Maschinengewehren, Munition und ballistischen Schutzhelmen bzw. -westen.4 Die russische Invasion führte dann zu einer regelrechten Zäsur – Deutschland etwa revidierte seinen langjährigen Grundsatz, kein Kriegsmaterial in Konfliktgebiete zu liefern, und auch formell neutrale Staaten wie Schweden, Finnland und selbst Irland beteiligten sich mit Rüstungsgütern. Die Anzahl an EU- bzw. Nato-Mitgliedstaaten, die keine Hilfe bereitstellen, lässt sich mittlerweile an einer Hand abzählen.

Seit Frühling 2022 wird die militärische Assistenz an die Ukraine im Rahmen der sogenannten Ukraine Defense Contact Group koordiniert, eines multilateralen Gremiums unter Führung der USA, das erstmals am 26. April auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland zusammenkam. Die grundsätzlich einmal monatlich stattfindenden Treffen haben massgeblich zur Ausweitung der militärischen Hilfe beigetragen, selbst wenn viele wegweisende Entscheide ausserhalb des Formats kommuniziert wurden. So überwand die Kontaktgruppe innert weniger Monate ihre anfängliche Zurückhaltung, neben leichten Flug- und Panzerabwehrwaffen auch schwere «Offensivsysteme» wie beispielsweise gezogene bzw. selbstfahrende Haubitzen oder Mehrfach-Raketenartilleriesysteme zu liefern.5 Insbesondere die Lieferung des amerikanischen Systems MI142 Himars (High Mobility Rocket Artillery System), von US-Präsident Biden am 31. Mai 2022 erstmals öffentlich angekündigt, zog grosse Aufmerksamkeit auf sich. Die tatsächliche Effektivität von Himars, das dank GPS-Lenkung Ziele punktgenau bekämpfen kann, ist aber schwierig zu bemessen. Insbesondere in der Anfangsphase dürfte das System wirkungsvoll gegen Munitionslager, Kommandoposten und Truppenunterkünfte hinter der Front eingesetzt worden sein, doch hat Russland in der Zwischenzeit eine Reihe von Gegenmassnahmen ergriffen. Dazu gehört zum einen die Verlegung solcher Ziele ausserhalb der Einsatzreichweite, zum anderen deuten verschiedene Indizien darauf hin, dass die russische Boden-Luft-Verteidigung wie das Mittelstreckensystem Pantsir in der Lage ist, die Geschosse von Himars abzufangen.

Die zunehmende Komplexität der gelieferten Plattformen hat Folgen für die Ausbildung. Während sich die Handhabung von mobilen Panzer- und Flugabwehrlenkwaffen und selbst Panzerhaubitzen in relativ kurzer Zeit erlernen lässt, dürfte die Umschulung auf westliche Panzermodelle des Typs Leopard II oder M1 Abrams wenigstens einige Monate in Anspruch nehmen. Von einem viel grösseren Zeitbedarf müsste hingegen bei der Ausbildung auf westlichen Kampfflugzeugen ausgegangen werden, wie etwa dem von der Ukraine und ihren Unterstützern zunehmend geforderten F-16 Fighting Falcon. Selbst optimistische Einschätzungen rechnen mit einer Mindestdauer von zwölf Monaten, dazu kämen eine Reihe logistischer Herausforderungen. Abgesehen von der Schulung auf spezifischen Waffensystemen absolvieren neurekrutierte Ukrainer unter anderem auch einen Trainingskurs im Vereinigten Königreich, in dem sie auf den Einsatz an der Front vorbereitet werden. Das Ziel der «Operation Interflex», an der sich auch weitere Staaten wie beispielsweise Neuseeland, Australien und Norwegen betei­ligen, besteht darin, innert 120 Tagen jeweils 10 000 ukrainische Rekruten in der «urbanen Kriegsführung» auszubilden.6

Mantel des Schweigens zu ­Cyberoperationen

In Anbetracht der medialen Fokussierung auf Waffenlieferung und Ausbildung gehen – insbesondere im deutschen Sprachraum – andere Dimensionen der westlichen Unterstützung oftmals etwas unter. Sie sind aber nicht weniger bedeutsam. Bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch wurde bekannt, dass die Ukraine von der Nato mit Informationen versorgt werde, zuhanden ihrer «erkannten Luftlage» (Recognized Air Picture, RAP), einer integralen Darstellung aller sich in der Luft befindenden russischen Kampfflugzeuge und -helikopter. Kurze Zeit später folgten erste Hinweise auf den Austausch umfassender nachrichtendienstlicher Erkenntnisse. Obwohl die Biden-Administration abstritt, die Ukrainer mit Daten für Echtzeitzielerfassung zu versorgen, gilt mittlerweile als gesichert, dass solche Informationen in einem grossen Umfang übermittelt wurden. Anfang Februar 2023 erklärten ukrainische Beamte gegenüber der «Washington Post», der Einsatz von Himars erfolge «fast ausschliesslich» mit Hilfe von Zielkoordinaten, die von den USA übermittelt würden. Einen weiteren Bereich, über den sowohl die Ukraine als auch die USA den Mantel des Schweigens hüllen, stellen Cyberoperationen dar. Zwar ist bekannt, dass das US Cyber Command sowohl defensive als auch offensive Aktionen zugunsten der Ukraine im Cyberraum durchführt, doch öffentlich verfügbar sind Informationen weder zu Inhalt noch Ausmass dieser Aktivitäten.

«Obwohl die Biden-Administration abstritt, die Ukrainer mit Daten für Echtzeitzielerfassung zu versorgen, gilt mittlerweile als ­gesichert, dass solche Informationen in einem grossen Umfang übermittelt wurden.»

All diese militärische Unterstützung garantiert letztlich aber nicht, dass die Ukraine einst siegreich aus dem Krieg hervorgehen wird. Zum einen scheint sich zunehmend abzuzeichnen, dass Wille und Vermögen des Westens zur Lieferung immer weiterer Waffensysteme in absehbarer Zeit an Grenzen stossen werden. Der Krieg befindet sich seit längerem in einer Phase der Abnutzung, bei der Russland offenbar davon ausgeht, letztlich über den längeren Atem zu verfügen. Die kürzlich beschlossene Bereitstellung westlicher Kampfpanzer geht nur sehr schleppend vonstatten – entgegen den wiederholten Äusserungen und Erklärungen mehrerer Staaten, die zuerst Deutschland des Zögerns bezichtigten, nun aber selbst nicht bereit sind, im angekündigten Masse zu liefern. Während die Ukraine bereits eine Kampagne für die Lieferung westlicher Kampfflugzeuge lanciert hat, besteht das Weisse Haus darauf, dass die Prioritäten im Bereich der Boden-Luft-Verteidigung liegen. Doch moderne Systeme wie MIM104 Patriot oder das deutsche IRIS-T sind enorm kostspielig und deshalb nur in geringer Stückzahl verfügbar. Der Patchworkansatz aus zahlreichen unterschiedlichen Schiesseinheiten und Radarsystemen erschwert die Etablierung eines «Integrated Air Defense System» (IADS) zusätzlich.

Zum anderen zeichnet sich eine zunehmende Bruchlinie in bezug auf die Kriegsziele zwischen der Ukraine und ihren westlichen Unterstützern ab. Während die ukrainische Regierung und zahlreiche nord- und osteuropäische Länder zumindest öffentlich auf der Befreiung sämtlicher von Russland besetzten und annektierten Gebiete beharren (das heisst inklusive Krim und Donbass), scheint sich in Westeuropa und Übersee die Einsicht durchzusetzen, dass es vor allem darum gehen müsse, die Ukraine durch weitere begrenzte Gebietsrückeroberungen in eine Position der Stärke zu versetzen, damit die Ausgangslage für Verhandlungen mit Russland besser sei.

Die Hoffnung des Westens beruht deshalb vor allem darauf, dass der Ukraine im Verlauf dieses Jahres eine erfolgreiche Gegenoffensive gelingt. Dabei darf allerdings nicht vergessen gehen, dass sich die Russen bereits seit Monaten auf einen ukrainischen Gegenstoss vorbereiten und ihre Verteidigungsstellungen im Süden und Osten des Landes entsprechend ausgebaut und durch zusätzliches Personal verstärkt haben. Entgegen so mancher Expertenverlautbarung können weder die Lieferung westlicher Kampfpanzer noch die Bereitstellung weiterreichender Himars-Munition vom Typ GLSDB (Ground Launched Small Diameter Bomb) einen ukrainischen Sieg erzwingen. Das Wesen des Kriegs ist am Ende stets einer Dialektik unterworfen – und der Erfolg der eigenen Vorgehensweise abhängig davon, ob und auf welche Art und Weise der Gegner darauf zu reagieren vermag. Die Nichtlinearität und Ungewissheit des Kriegsverlaufs machen präzise Vorhersagen in den meisten aller Fälle zu einem Unterfangen, dessen treffendste Bezeichnung in der englischen Sprache zu finden ist: «a fool’s errand».

  1. Sinnbildlich für diese Einschätzung siehe z.B. Michael Kofman und ­Jeffrey Edmonds: «Russia’s Shock and Awe». In: Foreign Affairs, 22. ­Februar 2022. http://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/
    2022-02-21/russias-shock-and-awe.

  2. Davon ausgenommen sind die direkten Interventionen in Afghanistan und Irak 2001 bzw. 2003. Viel geringer waren hingegen die Kosten für Operation Odyssey Dawn (Libyen 2011) bzw. Inherent Resolve (­Bekämpfung des «Islamischen Staats» in Syrien und Irak, ab 2014). Auch im ­Vergleich zu bewaffneten Konflikten während des Kalten Kriegs wie etwa der sowjetischen Intervention in Afghanistan fällt die westliche ­Unterstützung für die Ukraine um ein Vielfaches höher aus

  3. Lawrence Freedman: «Ukraine and the Art of Limited War». In: Survival, Jg. 56, Nr. 6 (2014/15), S. 25. Ironischerweise argumentiert Freedman nun, dass es sich beim Krieg in der Ukraine trotz massiver westlicher ­Unterstützung nicht um einen Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland handle. Lawrence Freedman: «Ukraine Is Not a Proxy War». In: The New Statesman, 23. Januar 2023. http://www.newstatesman.com/world/europe/ukraine/2023/01/ukraine-proxy-war-russia-vladimir-putin-nato.

  4. Ein ausführlicher und gut dokumentierter, wenn auch vermutlich nicht vollständiger Überblick bietet das Forum on the Arms Trade,
    http://www.forumarmstrade.org/ukrainearms.html.

  5. Die Sinnhaftigkeit einer Unterscheidung zwischen Offensiv- und ­Defensivwaffen wird in der Forschung seit Jahrzehnten debattiert. Siehe z.B. Robert Jervis: «Realism, Game Theory, and Cooperation»; in: World Politics, Jg. 40, Nr. 3 (1988), sowie Sean M. Lynn-Jones: «Offense-Defense Theory and Its Critics»; in: Security Studies, Jg. 4, Nr. 4 (1995).

  6. Anzumerken ist dabei, dass die Ukrainer im Kampf im überbauten ­Gelände mittlerweile über viel mehr Erfahrung verfügen als ihre Nato-Unterstützer. Der letzte reale «Stadtkampf» der Briten etwa war die «Schlacht von Basra» gegen die Mahdi-Armee im Jahr 2008. Sie endete mit einer britischen Niederlage und dem Rückzug aus der Stadt.

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