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Die goldene Generation der 48er
Joseph Jung, zvg.

Die goldene Generation der 48er

Mit der Bundesstaatsgründung kamen wirtschaftsliberale Politiker an die Macht. Sie nutzten die Gunst der Stunde, um die Schweiz neu zu erfinden.

 

Die Schweiz nimmt in wichtigen Rankings bis heute fast durchwegs Spitzenplätze ein. Das war nicht immer so. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt sie als rückständig. Die staatlichen Strukturen verhinderten die Umsetzung hochfliegender Pläne. Trotz der vergleichsweise weit fortgeschrittenen Industrialisierung war die Schweiz ein armes Auswanderungsland – noch 1850 arbeiteten 54 Prozent der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft. Es war denn auch nicht die fehlende eisenbahntechnische Erschliessung allein, die Besorgnis erregte. An allen Ecken und Enden fehlten Grundlagen eines modernen Wirtschaftsstaats. Mit diesen Perspektiven und einem eben erst überstandenen Bürgerkrieg trat die Schweiz ins Revolutionsjahr 1848 ein. Während sich in ganz Europa die konservativ-reaktionären Kräfte an der Macht halten konnten, trat in der Schweiz die neue, fortschrittliche Verfassung in Kraft und der moderne Bundesstaat nahm Gestalt an.

Nun ging alles schnell – gar in Windeseile dort, wo wirtschaftsliberale Führungspersönlichkeiten den Ton ­angaben. Der junge Bundesstaat war eine repräsentative Demokratie, in dem die Machtverhältnisse zwischen Interessenverbänden und Parteien noch nicht austariert waren. Ämterkumulation war ein Erfolgsfaktor. Es war die Zeit, da liberale Wirtschaftspolitiker sowohl in den eidgenös­sischen Räten als auch in kantonalen Parlamenten und Regierungen grundsätzlich die Mehrheit hatten. Um Karriere zu machen, brauchten sie nicht auf Wahlerfolg zu hoffen, um sich dann Stufe um Stufe hochzudienen. Sie waren wirtschaftlich unabhängig und lebten nicht von der Politik – sondern für sie.

Der phänomenale Leistungsausweis des jungen Bundesstaats verdankt sich ebenso der klugen Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen, Staat und Privatwirtschaft. Dabei galten zwei Grundsätze: Erstens sollten die Kompetenzen möglichst bei den Kantonen liegen. Dem Bund fielen nur diejenigen Aufgaben zu, die zwingend landesweit geregelt werden mussten. Damit setzten die 48er auf Föderalismus. Zweitens sollte die Privatwirtschaft überall dort in der Verantwortung stehen, wo sie besser als der Staat geeignet schien, die Aufgabe zu lösen.

Die 48er waren international ausgerichtet. Der Weg dürfe nicht in die Isolation führen, lautete ihr Credo. Denn ohne wirtschaftlichen und wissenschaftlich-kulturellen Austausch mit der Welt sei die Schweiz nicht überlebensfähig. Trotz dieser Flughöhe erkannten die 48er die Grenzen der Schweiz als Kleinstaat. Daher bezeichneten sie die bewaffnete Neutralität als Talisman.

In der Geschichte der Schweiz gibt es keine Periode, in der mehr Politiker gleichzeitig bedeutende Unternehmer waren als im jungen Bundesstaat. Anders gesagt: Zu keiner Zeit war der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik grösser. Bemerkenswert ist überdies, dass viele National- und Ständeräte zugleich in kantonalen Parlamenten und Regierungen sassen; ein weiterer Schlüssel zum Erfolg: Denn der wirtschaftsliberale Geist, der sich mit föderalistischem Impetus paarte, führte zu wegweisenden Entscheiden und machte die Schweizer Erfolgsgeschichte möglich. Dies lässt sich beispielhaft am Eisenbahnentscheid von 1852 aufzeigen.

Aufholjagd auf Schienen

Dass sich die Schweiz der Verkehrsfrage und namentlich der fehlenden Eisenbahnentwicklung annehmen musste, war das Gebot der Stunde. Dabei setzten sich die Wirtschaftsliberalen durch. Und so kam es, dass Bau und Betrieb der Bahnen der Privatwirtschaft, die Vergabe der Konzessionen hingegen den Kantonen zugewiesen wurde. Dies war klug abgesteckt und weitsichtig geplant – ein Jahrhundertentscheid mit immensen Auswirkungen. Die Kantone behielten das Heft der Linienführungen in der Hand, während Unternehmer in Konkurrenz auftreten und Investoren sich an den einzelnen Bahngesellschaften beteiligen konnten. Die rasante Erschliessung des Landes war aufsehenerregend. Die alternativ propagierte Staatsbahn dagegen wurzelte in einem kurzsichtigen Zentralismus; sie hätte den Bund massiv überfordert. Wie kein anderes Land in Europa wurde die Schweiz innert kürzester Zeit mit einem Bahnnetz erschlossen – und schuf bald darauf mit der Alpentransversalen durch den Gotthard eine Weltbahn. Dass dem Staat die technischen und unternehmerischen Kompetenzen zur Realisierung solcher Gross­projekte fehlten, ist das eine. Noch schwerer wiegt, dass es dem Bund nicht möglich gewesen wäre, das Potenzial der mit dem Bahnbau einhergehenden Folgebedürfnisse auszuschöpfen. Denn auch die schnelle Entwicklung des Banken- und Versicherungsbereichs war die direkte Folge des Entscheids von 1852. All das wäre mit dem Modell der Staatsbahn nicht möglich geworden.

«In der Geschichte der Schweiz

gibt es keine Periode,

in der mehr Politiker gleichzeitig

bedeutende Unternehmer waren

als im jungen Bundesstaat.»

Für die Beschaffung des not­­wendigen Kapitals standen In­haberaktien und Anleihenobligationen als geeignete Finan­­zierungsinstrumente zur Verfügung. Damit war auch die Grundlage für die Entstehung der Effektenbörsen geschaffen. Mit dem Bahnprojekt stieg nun aber der Bedarf an Industriekapital sprunghaft an und verlangte gebieterisch nach modernen Geschäfts- und Handelsbanken, die auf das Gründungs- und Investitionsgeschäft ausgerichtet waren. Doch damit nicht genug: Die Industriegesellschaft liess nun auch die Nachfrage nach Versicherungsleistungen rasant ansteigen. Während die Banken somit zu Lieferanten des Kapitals wurden, vermittelten die Versicherer ein anderes, ebenso wichtiges Gut: die Sicherheit. Ohne die Möglichkeit zur Absicherung von Gesellschaftsrisiken und Investitionen hätte wohl mancher Pionier der Gründer­generation den entscheidenden Schritt zum Aufbau seiner Firma nicht gewagt oder wäre frühzeitig falliert.

Besessen von einer Mission

Die wirtschaftsliberalen Politiker wurden von ihren politischen Gegnern als Eisenbahn-, Finanz- und Bundesbarone apostrophiert oder als Textil- und Seidenfürsten verunglimpft. Dabei war den 48ern nicht nach höfischem Prunk zumute. Sie waren von ihrer Mission besessen, und die ­lautete: Modernisierung der Schweiz. Nie zuvor und nie danach in der Geschichte des Landes entwickelte sich ein derart tiefstrukturiertes und feingliedriges Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft wie im jungen Bundesstaat. Die gesellschaftliche Elite, die zuvor im Uhren-, ­Textil- und Maschinenbereich oder im Handel vermögend geworden war, nutzte die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich boten: Sie beteiligte sich an Bahnen, ­Banken und Versicherungen, nahm Einsitz in deren Verwaltungsräten und beanspruchte operative Führungsrollen. Auf diese Weise kontrollierten die Wirtschafts­liberalen im jungen Bundesstaat wichtige Wirtschafts­bereiche, und gleichzeitig sassen sie an den Schalthebeln der politischen Macht. Ihr Einfluss war enorm.

An mehreren Orten in der Schweiz entwickelten sich wirtschaftspolitische Gravitationszentren, doch keines hatte Einfluss und Ausstrahlung wie das System der Kreditanstalt mit ihrem Präsidenten Alfred Escher: In ihrem ersten, 15köpfigen Verwaltungsrat sassen 1856 zwei amtierende Regierungsräte und ein ehemaliger Regierungsrat sowie vier Grossräte des Kantons Zürich, je ein Kantonsrat aus Basel und Schaffhausen sowie vier aktive Nationalräte. Beachtet man, wie eng die wirtschaftlichen und personellen Verflechtungen zwischen Kreditanstalt, Nordostbahn und Rentenanstalt waren, wird offensichtlich, welche Potenz der Präsident der Bank, der die drei Unternehmen steuerte, in die eidgenössische wie in die kantonale Politik einbrachte, wo er ebenfalls Spitzenämter bekleidete. Und wenn Seiden- und Baumwollfabrikanten, Besitzer von ­mechanischen Webereien, Export- und Importunternehmer, Handelsherren, Verwaltungsräte und operative Führungskräfte von Bahn- und Versicherungsgesellschaften auf dem politischen Parkett zum Rednerpult schritten, dann wusste man, dass sie alle zugleich im Verwaltungsrat der Kreditanstalt sassen.

Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik

Nun mag man sich fragen, ob für die junge Schweiz ein ­Modell mit mehr Bundeskompetenzen und weniger Spielraum für die Privatwirtschaft und insbesondere mit
direkter statt repräsentativer Demokratie erfolgversprechender ­gewesen wäre. Die Antwort lautet klar nein. Die rasante Entwicklung nach der Mitte des 19. Jahrhunderts konnte nur durch die Stärken und Qualitäten der repräsentativen Demokratie, durch den Fö­deralismus und die starke Hand der Privatwirtschaft getragen werden. Dynamik und Möglichkeiten der Zeitumstände riefen nach Risikokapitalisten, ­Pio­nierunternehmern und grossen Würfen. Die gewaltige Aufbruchsstimmung entsprang erst dem Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft.

Für den jungen Bundesstaat war es ein Glück, dass sich wirtschaftsliberale Führungspersönlichkeiten derart in der Politik engagierten. Mit ihrem Spirit nahmen sie auf die politischen Strukturen Einfluss, gestalteten die Gesetzgebung liberaler und beseitigten Zollschranken. So konnten zweckdienliche Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes geschaffen werden.

Mit der Revision der Bundesverfassung von 1874 veränderte sich die Grundstruktur der Schweiz. Die direkte Herrschaft des Volks wurde als Wesenselement einer neuen schweizerischen Demokratie eta­bliert. In der Politik traten Verbandsvertreter an die Stelle von Grosskapitalisten und Industriellen. Die Entwicklung, welche die Schweiz in der Folge nahm, mag die 48er irritiert haben. Ganz gegen ihre Intentionen drängte nun der Bund die Kantone, der Staat die Privatwirtschaft zurück. Und heute haben Grossunternehmer in der Politik Seltenheitswert. Mit negativen Folgen für Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit des Landes. Wenn wir etwas von der goldenen Ära der 48er lernen können, dann, dass es wieder mehr Unternehmer braucht, die sich für die Politik nicht zu schade sind – auf Bundesebene wie in den Kantonen.

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