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«Die Globalisierung wird ein Comeback erleben»
Harold James, fotografiert von Lukas Leuzinger

«Die Globalisierung wird ein Comeback erleben»

Die geopolitischen Spannungen und der Aufstieg der künstlichen Intelligenz verändern die Weltwirtschaft fundamental, sagt der Historiker Harold James. Er sieht die wirtschaftliche Dominanz der USA am Ende und den Dollar in Gefahr.

Herr James, in Ihrem Buch «Schockmomente» beschreiben Sie, wie Krisen die Globalisierung und die Weltwirtschaft verändern. Heute scheint es, als würden wir uns permanent in einer Zeit vieler Krisen befinden. Sehen Sie das auch so oder ist das nur unser momentaner Eindruck?

Harold James: Die Diskussion über Krisen ist alt und erlangte in den 1990er-Jahren neue Popularität. Zur gleichen Zeit, als Francis Fukuyama seine These vom Ende der Geschichte formulierte, fanden zahlreiche Intellektuelle Gefallen an der Idee einer permanenten Krise. Der französische Philosoph Edgar Morin schrieb über die «Polykrise». Und Reinhart Koselleck, ein grosser deutscher Analyst der Begriffsgeschichte, sah es als ein Phänomen der Moderne, dass wir uns in einer ständigen Krise befinden. Diese Sichtweise unterscheidet sich vom klassischen Verständnis von Krise.

 

Inwiefern?

Das Wort «Krise» kommt aus dem Griechischen und bezeichnet einen Augenblick der Entscheidung. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde es vor allem medizinisch verwendet. In einer Krise kann sich der Zustand eines Patienten verbessern oder verschlechtern. In diesem Sinne kann eine permanente Krisensituation keine Krise sein, denn sie ist ja gerade nicht ein Augenblick der Entscheidung.

 

Dennoch ist die Rede von der Klimakrise, der Ukrainekrise, der Nahostkrise und so weiter. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt Wörter, die inflationär gebraucht werden, und Krise ist eines davon. Wenn ein Wort inflationär gebraucht wird, ist es wie beim Geld: Es verliert an Wert.

 

Wir sollten das Wort Krise also nicht übernutzen.

Interessanterweise hat Edgar Morin nicht nur von Polykrise gesprochen; er prägte auch Begriffe wie «polysecure» oder «polywise». Ich finde, wir sollten «polysecure» sein: Wir sollten ­weniger aufgeregt sein über Krisenphänomene, sondern selbstsicherer und mutiger.

«Wir sollten weniger aufgeregt sein über Krisenphänomene, sondern selbstsicherer und mutiger.»

 

Sie schreiben, dass Schockmomente eine Chance zum Lernen seien. Was haben Investoren und Politiker aus der Finanzkrise von 2008/09 gelernt?

Es ist interessant, dass die Politik manchmal die falschen Lehren aus einer Krise zieht. In diesem Fall lautete die Lehre, dass man eine grosse Krise durch eine unkonventionelle Geldpolitik und eine ausgabenfreudige Fiskalpolitik verhindern könne. Beides war 2008 wichtig. Beim Ausbruch der Pandemie 2020 griffen die Entscheidungsträger zu den gleichen Methoden, was in dieser Krise jedoch ein Fehler war. Denn 2008 bestand eine Nachfragekrise, 2020 dagegen eine Angebotskrise, in der wir sehr spezifische Dinge brauchten wie Schutzkleidung für Ärzte oder Impfstoffe. Da hilft eine allgemeine grosszügige Ausgabenpolitik überhaupt nicht.

 

Die aus der letzten Krise gezogenen Lehren behindern also oft die Lösung neuer Probleme. Was sind gegenwärtig diese neuen Probleme?

Neu sind sicher die geopolitischen Spannungen: der Angriffskrieg Russlands, die Bedrohung der baltischen Staaten sowie Moldawiens, Polens, der EU, hinzu kommen die Spannungen im Nahen Osten. Damit verbunden ist Chinas Vision einer neuen Weltordnung.

 

Sehen wir das Ende der alten, von den USA dominierten Weltordnung?

Natürlich sind die Vereinigten Staaten in der Weltwirtschaft heute weniger wichtig, das gilt indes auch für die G7-Staaten, Deutschland oder Europa. Aber die Prinzipien, auf denen diese Weltordnung aufgebaut ist, sind grundlegender als die Dominanz der USA. In diesem Sinne ist eine Welt des Handels, der internationalen Ströme von Kapital, Waren und Dienstleistungen eine gute Idee. Das ist die Welt, die Bestand haben wird. Die Idee, sich von der Weltwirtschaft abzuwenden, ist nicht einmal in grossen Staaten wie China oder den USA umsetzbar – und ganz sicher nicht in der Schweiz. Die Schweizer wissen, dass sie nicht autark sein können; die Amerikaner und die Chinesen halten zum Teil an dieser Illusion fest. Sie haben die Klimakrise angesprochen …

 

In dieser macht Autarkie noch weniger Sinn.

Ja. Wenn man wirklich klimaneutral werden will, muss man stärker international agieren. Die Komponenten, die wir für Batterien brauchen, kommen aus einigen wenigen Ländern, zum Teil aus China, zum Teil aus Afrika. Kürzlich zeigte die ­European Bank for Reconstruction and Development in einem Bericht auf, wie wichtig China für die grüne Wende ist. Wenn die USA und jetzt auch die EU Strafzölle auf chinesische Elek­troautos erheben, dann verhindern oder verlangsamen sie diese grüne Revolution. Es gibt eine gute historische Parallele aus den 1970er-Jahren. Damals ging es nicht um CO2-Neutralität, sondern um die Energieeffizienz von Autos. Die USA und Grossbritannien wehrten sich gegen den Import von Autos aus Japan. Als ich damals die Schweiz besuchte, war ich beeindruckt, dass hier fast nur japanische Autos fuhren. Für mich zeigte das den Wert des offenen Wettbewerbs. Wenn man wie die Schweiz nicht an eine eigene (Auto-)Industrie gebunden ist, kauft man das Beste und Günstigste.

 

Dennoch ist eine gewisse Rückkehr des Protektionismus zu beobachten. Die Globalisierung ist nicht am Ende, aber sie wird gebremst.

Auf jeden Fall, in den USA vor allem unter Trump, und Biden hat diesen Kurs fortgesetzt. Wir werden bald sehen, wie kontraproduktiv das ist. Es geht nicht nur um die Autoindustrie, sondern auch um Stahl und Aluminium. Die amerikanische Indus­trie braucht diese Materialien. Werden sie teurer, verlieren die USA an Wettbewerbsfähigkeit.

 

Im Zuge des Ukrainekrieges hat der Westen Russland vom SWIFT-System ausgeschlossen und die Reserven der russischen Zentralbank eingefroren. Besteht nicht die Gefahr, dass dies kontraproduktiv ist, weil Russland und andere autoritäre Staaten ihre Zusammenarbeit verstärken?

Bis zu einem gewissen Grad ist das passiert. Nicht nur in Bezug auf autoritäre Staaten, sondern auch in Bezug auf Staaten, die sich unter dem Banner des sogenannten globalen Südens gegen den Westen positionieren. So treibt Brasilien unter Präsident Lula die Idee einer neuen Weltwährungsordnung intensiv vor­an. Die geopolitischen Spannungen fallen in eine Zeit, in der auch über die Zukunft des Geldes nachgedacht wird, über digitale Alternativen wie Kryptowährungen. Vieles ist in Bewegung. Die fiskalische Expansion in den Vereinigten Staaten, die immer mehr bezahlen müssen, um ihre Schulden zu bedienen, ist auch eine Gefahr für die amerikanische Währung. Wir sind in einem Moment des Wandels.

«Die fiskalische Expansion in den Vereinigten
Staaten, die immer mehr bezahlen müssen, um
ihre Schulden zu bedienen, ist auch eine Gefahr für die amerikanische Währung.»

 

Wir könnten also das Ende der Dominanz des US-Dollars erleben?

Das sehe ich in der Tat als mittelfristige Perspektive.

 

Das könnte massive negative Auswirkungen auf die USA haben.

Das sehe ich nicht unbedingt. Die USA ziehen keine grossen Vorteile aus der Bereitstellung einer Reservewährung.

 

Sie können sich billig verschulden.

Es gibt Studien, welche die Einkünfte aus der Währungssouveränität messen; da kommen keine grossen Summen zusammen. Sie erklären nicht, warum die amerikanische Wirtschaft so dynamisch ist. Und daher würde die amerikanische Wirtschaft auch nicht zusammenbrechen, wenn der Dollar nicht mehr die Leitwährung der Welt wäre.

 

Sie schreiben auch, dass Schocks oft zum Durchbruch neuer Technologien führen, und ich dachte sofort an künstliche Intelligenz. Wie sehen Sie die nahe Zukunft in diesem Bereich?

Die Entwicklung der Rechenleistung von Computern ist rasant. In den 1960er-Jahren gab es das Moore’s Law, das besagte, dass sich die Anzahl der Transistoren in einem System innerhalb von zwei Jahren verdoppeln würde. Inzwischen ist das Tempo noch gestiegen. Das wird die Wirtschaft, die Politik und vieles mehr revolutionieren. Zum Beispiel bei Umweltproblemen wie CO2-Emissionen oder Pestiziden, die Insekten töten und Vogelarten aussterben lassen. KI kann eingesetzt werden, um den Einsatz von Pestiziden um 95 Prozent zu reduzieren, indem diese ganz präzise auf das Unkraut auf den Feldern gespritzt werden. KI berechnet dann, wo genau das Unkraut ist, wo man das Pestizid spritzen muss. Wir können also nicht nur CO2-Emissionen einsparen, sondern auch viele andere Dinge.

 

Sie sind überzeugt davon, dass die Globalisierung unser Leben verbessert. Haben Sie das Gefühl, dass in den nächsten Jahren das Bewusstsein dafür zurückkehrt?

Absolut. Die Globalisierung wird ein Comeback erleben.

 

Was macht Sie so zuversichtlich?

Die Globalisierung gibt uns mehr Kontrolle über unser Leben. Ich finde es schön, in Zürich an einer Tramhaltestelle zu stehen und auf der elektronischen Anzeige genau zu sehen, wie lange man noch warten muss. Das ist nur dank der Globalisierung möglich. An sich sind das triviale Dinge, aber wenn man sie alle zusammennimmt, machen sie die Welt wirklich besser. 

Das Gespräch wurde im Juni am Rande eines Vortrags geführt, den Harold James in Zürich auf Einladung des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik hielt.

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