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Die «Genfer Erklärung» zu Israel und Palästina

Medienspektakel oder Weg aus der Sackgasse? Die medienwirksame Präsentation der sogenannten «Genfer Erklärung» durch
die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey kann nicht darüber hinweg täuschen, dass das Dokument relativ wenig zur Problemlösung beiträgt.

Nicht nur der Inhalt der «Genfer Erklärung», sondern auch die Umstände ihres Zustandekommens sind mehr als ungewöhnlich. Erstmals in der Diplomatiegeschichte wurde von Seiten einer Regierung Ex-Politkern, sprich Privatpersonen, eine diplomatische Bühne geboten. In letzter Sekunde wurde aus einer geplanten offiziellen Unterzeichnungszeremonie ein surreales politisches Happening der besonderen Art. Ob dies im Lichte der Schweizer Neutralität ein politisch kluges Verhalten war, darf jedoch bezweifelt werden.

Die Veröffentlichung dieses Dokumentes führte zu einem Sturm der Entrüstung der gesamten politischen Elite in Israel; die Zustimmungsrate der Bevölkerung sank von anfangs 40 auf 25 Prozent. Der erste und auch heftigste Kritiker war zu aller Überraschung Ehud Barak. Erst dann folgte der Likud, die Schinu-Partei und die Scharfmacher der Arbeitspartei, von den nationalistischen Extremisten in der Regierung gar nicht zu sprechen. Barak verdammte das Abkommen und monierte, dass es den Verzicht auf ein Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge nicht ausdrücklich garantiere. Aber ausgerechnet diesen Verzicht hat erstmals eine palästinensische «Verhandlungsdelegation» angeboten. Baraks politische Unaufrichtigkeit kommt in einem Artikel vom 29. August 2003 in der Zeitung «Yedioth Aharonot» zum Ausdruck, in dem er über Camp David zu Recht behauptete, dass er dort «nicht die kleinste Konzession» gemacht habe. Er brüstete sich auch noch, den einseitigen Weg des Oslo-Prozesses gestoppt zu haben. Es wurde in der Öffentlichkeit nie zur Kenntnis genommen, dass Barak als damaliger Innenminister unter Yitzhak Rabin als einziger Minister gegen das Interimsabkommen gestimmt hatte!

Die israelische Regierung kritisierte nicht nur Yossi Beilin, sondern auch die Regierung der Schweiz, weil sie als quasi Staatsgäste Delegationen behandelt habe, die in niemandes Auftrag handelten. Israels Aussenminister Silvan Shalom nannte diese Übereinkunft einen «Verrat am Staate Israel». Sharon sprach von einem «intellektuellen Experiment», dessen Autoren keine Autorität hätten. Knesset-Abgeordnete verlangten, die Autoren vor Gericht zu stellen. Nathan Scharansky, als ehemaliger sowjetischer «Gefangener Zions» gehätschelt, sprach von einer «Bande». In Israel gibt es niemanden von politischem Einfluss, der seine Unterschrift unter dieses Dokument setzen würde. Man sollte sich in Europa also von diesem wohlorchestrierten und gut finanzierten Medienspektakel nicht über den wirklichen Einfluss der Initiatoren täuschen lassen. Nur sehr wenige Palästinenser unterstützen das Abkommen; sie gehören durchwegs der privilegierten Führungselite an. Keiner von diesen kann sich mit diesem Abkommen in ein Flüchtlingslager oder an eine Universität wagen.

Friedenspläne haben Hochkonjunktur

In Israel veröffentlichen zahlreiche Politiker und sogar die Siedlerbewegung ihre Vorstellungen zum Friedensprozess. In der «Genfer Erklärung» haben erstmalig «Vertreter» beider Seiten in der Tat die weitreichendsten Konzessionen gemacht. Ob sie jemals umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Die Vorteile dieser Erklärung liegen sowohl im sachlichen als auch persönlichen Bereich. Der grösste Erfolg ist, dass das palästinensische Verhandlungsteam eine «Lösung» des Flüchtlingsproblems akzeptiert hat, in der von Rückkehrrecht keine Rede mehr ist. Israel kann eigenmächtig entscheiden, wie viele Flüchtlinge es akzeptieren will. Auch die finanzielle Kompensation wird fast ganz auf die internationale Staatengemeinschaft abgewälzt.

Beilin wird dieses «Abkommen» als Wahlkampfplattform für seine neugegründete «linke» Arbeitspartei instrumentalisieren. Die ersten Wahlplakate sind in Israel bereits geklebt. Die Initiatoren wollten den Fehler von Oslo nicht wiederholen und die schwierigen Fragen wie Siedlungen, Jerusalem, Grenzen und Rückkehrrecht der Flüchtlinge ausklammern. Die Vereinbarung widerlegt diejenigen innerhalb der politischen Klasse Israels, die behaupten, dass es auf palästinensischer Seite keinen Partner gebe, wie von Barak und Sharon immer wieder behauptet worden ist. Erstmalig wurde das Recht des jüdischen Volkes auf Staatlichkeit endgültig anerkannt. Dies bedeutet, dass Israel für immer das historische Palästina für alle Juden auf der Welt offenhalten kann, wohingegen den palästinensischen Flüchtlingen ihr Rückkehrrecht in ihre angestammte Heimat verweigert würde. Die «Genfer Initiative» sieht mit Einschränkungen die Schaffung eines souveränen Staates Palästina vor. Alle israelischen Siedler, die sich nach der Grenzanpassung im palästinensischen Staat befinden, sollen nach Israel umgesiedelt werden. Alle Siedlungen in Gaza sollen verschwinden, aber auch grosse Siedlungen wie Ariel, Har Homa und Efrat in der Westbank.

Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten. Israel behält die Souveränität in den Stadtvierteln, in denen überwiegend Juden wohnen, die Palästinenser in den arabischen Stadtvierteln. Der Haram al Sharif (Tempelberg) bleibt unter palästinensischer Souveränität. Auch bleiben die jüdischen Siedlungen in Ost-Jerusalem und der Siedlerring um die Stadt Teil des israelischen Jerusalem und unter israelischer Oberhoheit. Auf dem Tempelberg soll es eine multinationale Präsenz geben, während das Plateau unter palästinensischer Souveränität stehen soll. Die Klagemauer, das jüdische Viertel, die Zitadelle, der jüdische Friedhof auf dem Ölberg und der Tunnel unter der Westmauer bleiben israelisch. Das christliche, muslimische und armenische Viertel kommen unter palästinensische Aufsicht. Die Westbank und der Gaza-Streifen werden durch einen Korridor verbunden. Israel behält über diesen die Souveränität, die Palästinenser dürfen ihn verwalten und die Polizeikontrolle ausüben. Damit sollen alle bisherigen Uno-Resolutionen ersetzt werden.

Unbekannte Ausführungsbestimmungen

Das grösste Handikap dieser Vereinbarung dürfte sein, dass im Haupttext 52mal auf einen «Anhang X» verwiesen wird. Alle wichtigen Ausführungsbestimmungen zu den wohlfeil klingenden Artikeln befinden sich in diesem noch nicht bekannten Anhang, wie z. B. das Recht Israels zur Benutzung der Umfahrungsstrassen, die nur für Juden bestimmt sind. Wie schon beim «Interimsabkommen» vom 28. September 1995, in dem in den zahlreichen Anhängen alle die Konzessionen, die im Vertragstext gemacht worden sind, relativiert oder zurückgenommen worden sind, muss auch hier die Skepsis überwiegen; man erlebt ein déja vu. In diesem Abkommen werden oft Details aneinandergereiht, die um Insignifikanz wetteifern. So wurde ausführlich über die Vergabe von Taxilizenzen geschrieben, wohingegen im Artikel zum Wasser der Hinweis «noch zu vervollständigen» genügen musste. Wären die Unterhändler wirklich an einem «gerechten Frieden» interessiert gewesen, hätte man zur Wasserverteilung beispielsweise folgendes schreiben können: «Der Zugang zu den Wasserressourcen von Israel und Palästina wird entsprechend der Bevölkerungszahl verteilt.» Zu euphorischen Kommentaren, wie sie in Europa geäussert worden sind, besteht also kein Anlass.

Diejenigen, die diese Genfer Erklärung unterzeichnet haben, behaupten, dass dies die einzige Alternative zu dem brutalen Weg Sharons sei und geben vor, dass das palästinensische Volk diesem Weg zugestimmt hätte. Wenn einmal ein solches Abkommen unterzeichnet ist, das auf das Rückkehrrecht verzichtet und die Siedlungen akzeptiert, obwohl nicht bindend, wird es für jede palästinensische Verhandlungsdelegation in der Zukunft sehr schwer, hinter diese Position zurückzufallen. Israel kann jederzeit ein neues Minimum festsetzen. Dramatisiert wird die Sache noch dadurch, dass nur die palästinensische Führung dieses Abkommen gebilligt hat. Die israelische Regierung hat es verworfen. Es werden also neue Realitäten geschaffen. Jeder, der von nun an gegen diese Erklärung ist, weil sie als die einzig mögliche bezeichnet worden ist, stellt sich folglich gegen den Frieden.

Die Lösung des Konfliktes verlangt keine Wiederaufbereitung fehlgeschlagener Abkommen wie Oslo, Camp David oder Taba. Die Uno-Resolutionen und das Völkerrecht reichen dazu aus. In ihnen liegt das Rezept für einen gerechten Ausgleich, Sicherheit, territoriale Integrität und Achtung der Menschenrechte. Beilins Blaupause wird den Widerstand nicht beenden und keinen neuen Frieden einläuten. Eine Wende zum Besseren kann nur durch den israelischen Wähler erfolgen. Diejenigen Israeli, die sich nach Frieden sehnen, müssen verstehen, dass Frieden und Versöhnung nicht realisiert werden können, solange die Israeli nicht mit ihrer nationalen Verantwortung für die palästinensische Tragödie ins Reine kommen.

Ludwig Watzal, geb. 1950, promovierte in Politikwissenschaft und Philosophie und ist Redaktor und Publizist in Bonn. Er ist Autor des Buches «Feinde des Friedens. Der endlose Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern», Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002.

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