Die Gemeinnützigkeit braucht ein Update
Die Politik hat eine antiquierte Sicht auf Stiftungen. Das erschwert privates Engagement unnötig.
Die Schweiz ist ein philanthropisches Land. An kaum einem anderen Ort auf der Welt werden so viele Stiftungen errichtet, wird so viel gespendet oder Freiwilligenarbeit geleistet wie hierzulande. Dies hat einerseits mit unserem Wohlstand zu tun, andererseits aber auch mit den vorteilhaften liberalen Rahmenbedingungen. Konsequenz davon ist, dass die Schweiz pro Kopf weltweit mit am meisten gemeinnützige Stiftungen aufweist. Deutlich mehr als etwa Deutschland, Grossbritannien oder die USA.
Mit ein Grund ist sicher, dass philanthropisches Handeln hierzulande durch die Steuerbefreiung gefördert wird. Von den rund 17 500 Stiftungen sind 13 500 «gemeinnützig» und deshalb auch steuerbefreit. Während niemand die liberalen zivilrechtlichen Rahmenbedingungen ernsthaft in Frage stellt, wird der Gemeinnützigkeitsbegriff zurzeit auf vielen Ebenen eifrig debattiert. National- und Ständerat sind sich uneinig darüber, ob Gemeinnützigkeit eine Honorierung von Stiftungsräten zulässt, wie sich in der Beratung der parlamentarischen Initiative Luginbühl gezeigt hat. Nationalrat Ruedi Noser will vom Bundesrat wissen, ob Steuerbefreiung und politische Tätigkeit zusammenpassen. Und die kantonale Steuerpraxis orientiert sich aus Sicht der Stiftungsbranche vielfach an einem hoffnungslos veralteten Stiftungsmodell.
Uneigennützig handeln
Um was geht es bei dieser Gemeinnützigkeit? Weshalb wird diese wichtige Säule unseres Stiftungsstandorts immer wieder hinterfragt, und mit welchen Folgen? Wie Andrea Opel in einem früheren Beitrag ausführlich dargestellt hat1, stammt der Begriff der Gemeinnützigkeit aus dem Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer. Präzisiert wurde er für die Beurteilung der Steuerbefreiung im Kreisschreiben 12 aus dem Jahre 1994 und den Praxishinweisen der Schweizerischen Steuerkonferenz 2008. Um als gemeinnützig eingestuft zu werden, muss eine Stiftung im wesentlichen im «Allgemeininteresse» tätig sein und daher keine Eigeninteressen sowie keinen Selbstzweck verfolgen (Uneigennützigkeit). Während ersteres durch die «massgebende Volksauffassung» bestimmt wird, bedeutet letzteres ein «altruistisches Handeln» in dem Sinne, dass von den Handelnden «unter Hintansetzung eigener Interessen Opfer erbracht werden».
«Je offener und flexibler die erlaubten Stiftungszwecke sind,
desto agiler und zeitgemässer nehmen sich Neugründungen
Themen an, die am Puls der Zeit sind.»
Ein erster Kritikpunkt an Stiftungen, der in der Diskussion um das «Handeln im Allgemeininteresse» immer wieder durchdringt, ist die angeblich mangelnde demokratische Legitimation. Es sollen nur Zwecke als gemeinnützig gelten, die dieses Erfordernis erfüllen. Entscheidungsprozesse sollen demokratisch oder zumindest demokratisch legitimiert erfolgen.
Nun ist in der Schweiz die Stifterfreiheit selbst durch Verfassung und Gesetz geschützt und dadurch ein starkes privates Engagement für die Allgemeinheit, das auch Spenden und Freiwilligenarbeit mit einschliesst, demokratisch gewollt. Aber das eigentliche Argument für die demokratische Legitimation des Schweizer Stiftungsmodells ist die Pluralität des Sektors. Je grösser die Zahl der Stiftungen ist, umso vielfältiger und breiter sind die gesellschaftlichen Themen, die sie abdecken. So bildet die Plattform Stiftungsstatistik.ch ein Spektrum von berücksichtigten Zwecken ab, wie man sie auch in den öffentlichen Haushalten findet – vom Strassenbau und Militär einmal abgesehen ist fast jedes denkbare Thema zu finden. Je offener und flexibler zudem die erlaubten Stiftungszwecke sind, desto agiler und zeitgemässer nehmen sich Neugründungen Themen an, die am Puls der Zeit sind. So belief sich der Anteil der Umweltzwecke bei den Neugründungen im Jahr 2019 auf 12 Prozent; der Anteil am Gesamtbestand beträgt lediglich 6 Prozent2. Stifterinnen und Stifter haben diesem Thema 2019 also eine höhere Priorität zugewiesen als in der Vergangenheit.
Zu grosse Opfererwartung
Ein weiterer häufiger Kritikpunkt an Stiftungen ist die Unterstellung, vor allem der Steuerersparnis der Reichen zu dienen. Eine Studie des Instituts für Verbands-, Stiftungs- und Genossenschaftsmanagement (VMI) in Freiburg von 2006 widerspricht dem – gerade einmal 20 Prozent der (anonym) befragten Stifterinnen und Stifter erwähnten die steuerliche Attraktivität mit als Grund für eine Stiftungserrichtung.3
Aber spielt es überhaupt eine Rolle, weshalb Stiftungen errichtet werden? Ist nicht die viel wichtigere Frage, ob die Gesellschaft davon profitiert, wenn die Schweiz ein attraktiver Stiftungsstandort ist? Dass sie profitiert, konnte eine Studie von PWC in Zusammenarbeit mit SwissFoundations 2019 nachweisen (mehr dazu auf S. 74). Bleibt noch zu erwähnen, dass die Schweizer Stiftung kein Instrument der Superreichen ist. 80 Prozent weisen ein Kapital von weniger als 3 Millionen Franken aus.
Ein vitaler Stiftungssektor, der jedes Jahr zahlreiche und vielfältige Neugründungen erlaubt, ist die beste Gewähr dafür, dass gesellschaftliche Themen immer wieder neu abgeholt und zeitnah angegangen werden. Eine breite und grosszügige Auslegung des «Allgemeininteresses» ist dafür eine unabdingliche Voraussetzung.
Während das «Allgemeininteresse» eher auf gesellschaftlicher Ebene thematisiert wird und die Praxis dazu grundsätzlich immer noch liberal ist, beruht die Steuerpraxis im Zusammenhang mit der «Uneigennützigkeit» auf einem unzeitgemässen Stiftungsverständnis der Behörden. Problematisch ist hier zum einen die Ausdehnung einer Opfererwartung über die Stifter hinaus auf die Stiftungsrätinnen und -räte im Zusammenhang mit ihrer Honorierung. Für die Steuerbefreiung der Stiftung sollte allein das «Opfer» der Stifterinnen und Stifter bei der Vermögenswidmung entscheidend sein und nicht der Verzicht auf ein angemessenes Honorar durch mandatierte Dritte. Letztlich dient der Gesellschaft ein professionelles Aufgabenverständnis mehr als eines, das als «Spende» verstanden und daher womöglich weniger ernst genommen wird.
Ein weiteres Problemfeld ist das unter Steuerbehörden verbreitete Verständnis, dass nur uneigennützig ist, wer Geld «verschenkt», also die klassischen Zuwendungen à fonds perdu entrichtet. Mittlerweile haben Stiftungen aber erkannt, dass sie durch Darlehen und Kapitalbeiträge oft wesentlich mehr bewirken können, da sie im Erfolgsfall Geld zurückerhalten, das zweimal ausgegeben werden kann. Steuerbehörden tun sich oft schwer damit, dass ein Projekt uneigennützig sein kann, wenn Geld zurückfliesst. Weshalb jedoch Geld, das zurückfliesst, um erneut im Sinne des Allgemeininteresses eingesetzt zu werden, eigennützig sein soll, ist nicht einzusehen.
Jede Neugründung bringt Vorteile
Wie profitiert die Schweiz, wie profitieren die Kantone von einem prosperierenden Stiftungssektor? Von den bestehenden Zuwendungen einmal abgesehen, ziehen sie aus jeder Neugründung mittelbar und unmittelbar Vorteile. Unattraktive Rahmenbedingungen führen zu einer Gründung an einem anderen Ort; vor allem grosse Vermögen sind international mobil. Eine Stiftung, die vor Ort keine Steuern bezahlt, aber dafür zumindest einen Teil ihrer Zuwendungen auszahlt, ist immer noch besser als dieselbe Stiftung in Grossbritannien, Delaware oder auf den Bahamas. Angesichts der Riesensummen, die jährlich vererbt werden – in der Schweiz je nach Quelle bis zu 95 Milliarden Franken pro Jahr, in Deutschland über 400 Milliarden Euro pro Jahr –, und angesichts der Tatsache, dass an jeder Stiftung Privatvermögen, Familien, Unternehmen hängen, ist ein attraktiver Stiftungsstandort für die Schweiz ein klarer Wettbewerbsvorteil. Zusätzlich liefert er über die Ausschüttungen auch noch eine Art «Prämie» an die Gesellschaft.
Eine grosszügige Handhabung des Allgemeininteresses, die Beschränkung des «Opfer»-Begriffs auf die Vermögenswidmung und die Ermöglichung unternehmerischer Fördermodelle, wie es von der Stiftungsbranche schon seit Jahren gefordert wird, würden die Attraktivität des schweizerischen Stiftungsmodells zum Wohle der Allgemeinheit sichern. Dies in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Herausforderungen immer grösser werden und gleichzeitig viel freiwilliges Kapital sein Domizil sucht.
Andrea Opel: Die Sache mit der Gemeinnützigkeit. In: Schweizer Monat 1068 von Juli/August 2019. ↩
Der Schweizer Stiftungsreport 2020, http://www.swissfoundations.ch/publikationen/der-schweizer-stiftungsreport-2020 ↩
Beat Hunziker und Bernd Helmig: Motive zur Stiftungsgründung in der Schweiz. In: Verbands-Management, 32 (2006), S. 18‒27. ↩