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Die Gemeinden in Ketten
René Roca, zvg.

Die Gemeinden in Ketten

Die kommunale Ebene ist die Basis des demokratischen Engagements der Bürgerinnen und Bürger. Doch sie wird zunehmend von Bund und Kantonen ­gegängelt und eingeschränkt.

 

Seit fünfzehn Jahren bin ich parteiloser Gemeinderat in Oberrohrdorf-Staretschwil (Kanton Aargau) und seit bald sechs Jahren Vizeammann. In meiner Funktion werde ich immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass der Kanton in diversen Bereichen versucht, eine Vereinheitlichung auf der Gemeindeebene zu erreichen, was letztlich zu mehr Zentralisierung führt. Mal erlässt der Regierungsrat Verordnungen, die dann die ­Kantonsverwaltung auf Gemeindeebene durchsetzt (als Beispiel den Lehrplan 21), mal verabschiedet der Grosse Rat als Legis­lative neue Gesetze, die Umstrukturierungen und Reformen zur Folge haben und die auf der Gemeindeebene umgesetzt und ­bezahlt werden müssen (als Beispiel das neue Pflegegesetz). Zunehmend entstehen so Kosten, die im Gemeindebudget gebunden sind und den einzelnen Gemeinden einen immer kleineren Spielraum überlassen. In diesem Kontext des fortschreitenden Abbaus von dezentralen Strukturen fördert der Kanton auch Gemeindefusionen. Die beschriebene Entwicklung schwächt die Gemeinden, bis diese bereit sind, einer Fusion mit anderen Gemeinden zuzustimmen, besonders wenn sie dafür noch Geld vom Kanton erhalten. Grössere, anonyme Einheiten, geführt von «professionellen» Gemeindeexekutiven, sind gut für den Kanton, weil er damit mit einer «Top-down-Strategie» politische Vorstösse eher durchbringen kann. Damit werden aber der Föderalismus und auch das Subsidiaritätsprinzip immer mehr untergraben.1

Die Bedeutung der Gemeindefreiheit

Es ist aber möglich, Gegensteuer zu geben: Im Rahmen meines politischen Amtes engagierte ich mich als Gemeinderat im Komitee «Für Gemeindeautonomie und einen solidarischen ­Aargau» gegen die «Gemeindereform Aargau», welche unter anderem die Möglichkeit von Zwangsfusionen beinhaltet hätte. Die kantonalen Abstimmungen konnten wir klar gewinnen. Trotzdem gab es neue Vorstösse des Kantons, mit denen er leider nach wie vor mit Beratung und viel Geld Gemeindefusionen unterstützt, obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass ­solche Fusionen nur wenig bringen.2 Dem Kanton muss hier ­sicher weiter die Stirn geboten werden, denn die «Gemeinde­freiheit» ist ein grundlegender historischer Baustein für die schweizerische Demokratie.

Der Schweizer Historiker Adolf Gasser (1903 – 1985) hob wie kein zweiter die Bedeutung der «Gemeindefreiheit» und damit verknüpft auch die Bedeutung des genossenschaftlichen Prinzips für die Schweizer Geschichte hervor. Für ihn war die europäische ­Geschichte stark vom Gegensatz zweier verschiedener Gesinnungen geprägt, und zwar von «Herrschaft und Genossenschaft». In diesen Erscheinungen standen sich, so betonte Gasser, zwei Welten gegenüber, die ganz verschiedenen Entwicklungsgesetzen folgten: die Welt der von oben her und die Welt der von unten her aufgebauten Staatswesen – mit anderen Worten: die Welt der Subordination und die der Koordination, die Welt des Zentralismus und die des Föderalismus, die Welt der Befehlsverwaltung und die der Selbstverwaltung, die Welt der Gemeindeunfreiheit und die der Gemeindefreiheit: «Der Gegensatz Herrschaft – ­Genossenschaft ist vielleicht der wichtigste Gegensatz, den die Sozial­geschichte kennt. Beim Gegensatz Obrigkeitsstaat – Gesellschaftsstaat geht es eben um schlechtweg fundamentale Dinge: nämlich um die elementaren Grundlagen des menschlichen ­Gemeinschaftslebens.»3  In seinem Hauptwerk «Gemeindefreiheit als Rettung Europas» bemerkte Gasser, dass es das genossenschaftliche Ordnungsprinzip sei, das zu einer kommunalen Gemeinschaftsethik führe und so auch den Föderalismus, der mit dem Subsidiaritätsprinzip verknüpft ist, unterstütze: «Während im obrigkeitlich-bürokratischen Staate Politik und Moral auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen liegen, gehören sie im ­gesellschaftlich kommunalen Staate untrennbar zusammen. Demgemäss wird man das genossenschaftliche Ordnungsprinzip, wie es den von unten nach oben aufgebauten Gemeinwesen ­zugrunde liegt, besonders zweckmässig als ‹kommunale Gemeinschaftsethik› bezeichnen.»4

Dieses genossenschaftliche Prinzip ist für die schweizerische Eidgenossenschaft seit dem Hochmittelalter schriftlich zum ­Beispiel in Talbüchern fassbar und war kontinuierlicher fester ­Bestandteil der eidgenössischen Gesinnung. Diese Denkart kommt in einem Zitat des Schweizer Historikers Wolfgang von Wartburg (1914 – 1997) besonders anschaulich zum Ausdruck: «Diese kleinen, natürlichen, sich selbst verwaltenden Gemein­wesen sind Schule und Nährboden der schweizerischen Freiheit und Demokratie geworden und sind es heute noch.»5 Mit der Gründung des föderalistischen Bundesstaates verloren zwar die Kantone ihre Souveränität, die sie im Staatenbund besassen, aber mit dem Ständerat und dem Ständemehr erhielten die Kantone auf Bundesebene gewichtige Einflussmöglichkeiten. Und die ­Gemeinden?

Ein Gemeindereferendum auf Bundesebene?

In den letzten Jahren zeigte sich immer deutlicher, dass die zunehmende Komplexität der Aufgaben, die Verrechtlichung und die Tendenz zur Kompetenzverlagerung hin zu Kanton und Bund es für die Gemeinden schwierig machen, ihre Aufgaben weiterhin autonom zu erfüllen. Laut einer seit 1994 regelmässig durch­geführten Befragung der Stadt- und Gemeindeschreiber nimmt die Gemeindeautonomie stetig ab.

Um hier Gegensteuer zu geben und das Milizsystem sowie die Gemeindeautonomie zu stärken, lancierte der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) im Jahre 2017 die Idee eines Gemeindereferendums auf Bundesebene. Ausgangspunkt waren die genannten Überlegungen, dass die Gemeinden heute immer mehr ihre Gestaltungsspielräume verlieren. Der SGV will verhindern, dass die Gemeinden zu einem reinen Vollzugsorgan von Bund und Kantonen verkommen. Der Verband betont: «Die Gemeindeautonomie bildet das Bollwerk gegen Zentralisierungstendenzen. […] Wenn selbständige Gemeinden einen bedeutenden Teil der ­öffentlichen Angelegenheiten erledigen, wird Macht vertikal geteilt. Die Gemeindeautonomie weist die Macht von Bund und ­Kantonen in Schranken.»6 Der SGV hält fest, dass der spezifisch schweizerische Föderalismus sowie die direkte Demokratie nur erhalten blieben, wenn sie auch in Zukunft ihre integrierende Wirkung auf allen drei staatlichen Ebenen entfalten könnten. Den Gemeinden müsse ein eigenständiger Gestaltungsspielraum verbleiben. Nur wenn Gestaltungsfreiheit gegeben sei, interessierten sich die Bürgerinnen und Bürger auch für die entsprechenden ­Milizämter auf Gemeindeebene. Wie können wir das erreichen?

In den letzten Jahren wurden durchaus institutionelle Mechanismen für die Erhaltung der Gemeindeautonomie entwickelt. So existiert in bereits sieben Kantonen (Baselland, Graubünden, Jura, Luzern, Solothurn, Tessin und Zürich) ein «Gemeindereferendum». Damit können die Gemeinden das Referendum gegen Kantonserlasse ergreifen und so das Volk für eine Abstimmung an die Urne bitten. Beim Gemeindereferendum auf kantonaler Ebene ­variiert die Anzahl Gemeinden, die nötig sind, damit ein Gemeinde­referendum zustande kommt, von Kanton zu Kanton. Allen gemeinsam ist, dass weder eine Mindestzahl von Einwohnerinnen und Einwohnern vorgesehen ist noch die Einwohnerzahlen der einzelnen Gemeinden berücksichtigt werden. Mit diesem Gemeindereferendum wird die Stellung der Gemeinden im Kanton gestärkt. Beschlüsse des kantonalen Parlaments, welche die Gemeinden im besonderen Masse betreffen, können aktiv bekämpft werden, indem diese eine Volksabstimmung verlangen.

Der weitergehende Vorschlag des SGV war nun, dass in Ergänzung zum Kantonsreferendum zusätzlich ein Gemeindereferendum auf Bundesebene eingeführt werden soll. Damit könnte bei einer Vorlage, durch welche die Gemeinden ihre Gestaltungs­freiheit bedroht sehen, das Volk als Schiedsrichter entscheiden, ob es dem Erlass des Bundesparlaments zustimmt oder ob es den Gemeinden recht gibt. Konkret lautete der Vorschlag, dass es 200 Gemeinden aus mindestens 15 Kantonen möglich sein sollte, das Referendum zu ergreifen. Mittels einer parlamentarischen Initiative versuchte 2017 der CVP-Nationalrat Stefan Müller-­Altermatt, das vom SGV angedachte Gemeindereferendum auf Bundesebene zu lancieren. Der Nationalrat schrieb jedoch im ­Folgejahr nach einer relativ kurzen Debatte die Initiative klar ab.7 Zu fragen ist diesbezüglich, ob nicht im Sinne des Subsidiaritätsprinzips und des demokratischen Aufbaus von unten nach oben das Gemeindereferendum in weiteren Kantonen eingeführt werden müsste, bevor es auf Bundesebene geprüft wird. Was aber ­sicher ist: Solche Debatten fördern Überlegungen, welche zweckmässigen politischen Instrumente die Gemeinden im föderalis­tischen System der Schweiz in Zukunft unterstützen können.

Republikanisches Freiheitsverständnis

Ziel muss sein, das Milizsystem und die Gemeindeautonomie zu stärken, damit die Qualität der Demokratie nicht noch mehr leidet und die Menschen sich aus dem öffentlich-gemeinwohlorientierten Leben verabschieden. Denn immer noch gilt, dass im kleinen Raum der Gemeinde die Basis des Engagements der Bürgerinnen und Bürger für das öffentliche Wohl gelegt wird. Das macht unser republikanisches Freiheitsverständnis als Grundlage des schweizerischen föderalistisch-subsidiären Systems aus, und das sollte erhalten werden.

  1. René Roca: Gemeindefusionen führen zu Demokratieverlust. In: Neue Zürcher Zeitung, 3. Februar 2021, S. 19.

  2. Christoph A. Schaltegger, Janine Studerus: Gemeindefusionen ohne Spareffekt. In: Neue Zürcher Zeitung, 14. März 2017, S. 9.

  3. Adolf Gasser: Gemeindefreiheit als Rettung Europas. Grundlinien einer ­ethischen Geschichtsauffassung. Zweite, stark erweiterte Auflage. Basel: Verlag Bücherfreunde, 1947, S. 13.

  4. Gasser: Gemeindefreiheit, S. 18.

  5. Wolfgang von Wartburg: Geschichte der Schweiz. München: Oldenbourg, 1951, S. 17.

  6. Reto Lindegger, Andreas Müller: Für ein Gemeindereferendum auf Bundesebene. In: Neue Zürcher Zeitung, 12. September 2017, S. 10.

  7. http://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=43947

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