
Die Gemeindeautonomie erhält neuen Aufwind
Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundpfeiler der Schweizer Demokratie. Doch gerade auf der untersten Staatsebene ist es lange vernachlässigt worden. Nun erleben wir eine willkommene Trendwende.
Die Pläne des Zürcher Baudirektors Martin Neukom, an bis zu 35 Standorten im ganzen Kanton Windturbinen aufzustellen, hat das Selbstbewusstsein vieler Gemeinden geweckt. Dutzende Kommunen haben einen Mindestabstand von Wohngebieten für Windkraftanlagen beschlossen. Die Baudirektion des Kantons Zürich will diese Bestimmungen jedoch nicht genehmigen. Die Gemeinden hätten ausserhalb ihres Baugebietes kein Recht zu legiferieren. Demgegenüber berufen sich die Gemeinden auf die verfassungsmässige Gemeindeautonomie, gestützt auf diese sie im ganzen Gemeindegebiet und nicht nur innerhalb des eigentlichen Baugebietes Vorschriften erlassen könnten.
Während vieler Jahre schien die Gemeindeautonomie weitgehend vergessen. Zumindest in der Öffentlichkeit. Man stritt und streitet sich heute noch um Gemeindefusionen. Das Subsidiaritätsprinzip geriet zusehends in Vergessenheit. Die Gemeindeautonomie hat ihre Wurzeln im Subsidiaritätsprinzip, das vor allem im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Es bedeutet im Besonderen, dass eine höhere staatliche Institution nur eingreifen und auch nur zuständig sein sollte, wenn die Möglichkeiten und Kräfte des Einzelnen, einer unteren kleinen Gruppe oder einer unteren Hierarchiestufe nicht auseichen, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Das Subsidiaritätsprinzip wird mit Erfolg auch vermehrt in der Privatwirtschaft gehandhabt. Es sollte allgemein wieder stärker zum Tragen kommen.
Mehr Verantwortung, mehr Leistungsbereitschaft
Im staatlichen Bereich dient das Subsidiaritätsprinzip der Freiheit. Umso grösser ist aber auch die Verantwortung des Einzelnen und seine Leistungsbereitschaft. Umso stärker ist das Zusammengehörigkeitsgefühl. Umso stärker ist auch die persönliche Zufriedenheit. Während langer Jahre und Jahrzehnte war das Subsidiaritätsprinzip vor allem im staatlichen Bereich kaum ein Thema. Es zählte nur die Grösse sowie die damit verbundene Macht und Karrieremöglichkeiten.
Ähnliches gilt für die Gemeindeautonomie als Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips. Sie wurde in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik untergewichtet. Man besann sich dann auf sie, wenn man in Not war und sie zum Argumentieren benötigte.
Das zeigt sich auch, wenn man die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichtes durchsieht. Es finden sich innert der vergangenen fünfzig Jahre in der publizierten Rechtsprechung immerhin 166 Urteile, in denen die Gemeindeautonomie angerufen wurde.
Auffallend ist die zunehmende Tendenz. Heute wird in der Öffentlichkeit die Gemeindeautonomie wieder vermehrt diskutiert. Es findet eine erfreuliche Renaissance statt. Weniger in den grossen Städten als auf dem Land. Vor allem die extremen Positionen um die alternative Energieproduktion mögen dazu beigetragen haben. Es ist auch denkbar, dass die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU Auswirkungen zeigen, denn es geht hier ebenfalls um die Stellung der Kantone und indirekt der Gemeinden.
«Es ist denkbar, dass die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU Auswirkungen zeigen, denn es geht hier ebenfalls um die Stellung der Kantone und indirekt der Gemeinden.»
Zu bedenken ist ferner, dass man auf dem Land näher an den öffentlichen Problemen ist. Die Demokratie ist direkter. Die Bürgerin und der Bürger kümmern sich vermehrt um die Rechte ihrer Gemeinde. In vielen Familien wird der Text der Bundesverfassung sorgsam aufbewahrt und gelegentlich konsultiert. In Artikel 50 der Bundesverfassung heisst es: «Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.»
Die Gemeindeautonomie ist zwar nach dem Verständnis der Bundesverfassung kein Grundrecht gegenüber dem Staat wie etwa die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Wirtschaftsfreiheit oder die Eigentumsgarantie. Aber die Gemeinden stehen unter dem Rechtsschutz des Bundes. Sie haben grundsätzlich die Befugnis, eigene Rechtsnormen zu erlassen. Greift eine kantonale Behörde zu weit in den Gestaltungsspielraum einer Gemeinde ein oder missachtet sie das Ermessen der Gemeinde, verletzt sie deren Autonomie. Die Gemeinden haben das Recht, die Gemeindeautonomie bis zum Bundesgericht geltend zu machen.
Nicht in allen Kantonen ist die Gemeindeautonomie gleich stark in der Kantonsverfassung und im kantonalen Recht verankert. Eine Gemeinde ist dann autonom, wenn das kantonale Recht weder in der Kantonsverfassung noch im Gesetzesrecht im betreffenden Bereich eine abschliessende Ordnung getroffen hat.
«Nicht in allen Kantonen ist die Gemeindeautonomie gleich stark in der Kantonsverfassung und im kantonalen Recht verankert.»
Mehr Autonomie, weniger Probleme
In Bezug auf den Kanton Zürich im Speziellen hat das Bundesgericht wiederholt festgestellt, dass in diesem die Gemeinden über eine besonders weitgehende Autonomie verfügten. Wie weit die Gemeindeautonomie im Kanton Zürich in Planungs- und Bausachen geht, ist gegenwärtig stark umstritten.
Vorbildlich wurde das Problem beim Planungsmehrwert im kantonalen Recht geregelt. Ein Planungsmehrwert entsteht beispielsweise durch Auf- oder Einzonungen bei einer Ortsplanung. Der Kanton Zürich überlässt es den Gemeinden, die Höhe der Abschöpfung des Planungsmehrwertes zu bestimmen; dieser darf nur vierzig Prozent nicht übersteigen. Damit wurde der Gemeindeautonomie in diesem Teilbereich des Planungs- und Baurechts vorzüglich Rechnung getragen. Die einzelnen Gemeinden haben von dem ihnen gewährten Spielraum gekonnt, verhältnismässig und den Umständen entsprechend Gebrauch gemacht. Dadurch entstehen fast keine Gerichtsverfahren.
Diametral verschieden ist die Situation bei der Zulässigkeit von kommunalen Abstandsvorschriften von Windenergieanlagen. Das kantonale Recht ordnet diese Frage nicht oder nicht eindeutig. Das Bundesgericht hat das Problem zu entscheiden. Bis dahin kann es noch Jahre dauern.
Schutz der Freiheit
Die Beispiele zeigen, dass die Gemeindeautonomie lebendig und vor allem in den Landgemeinden des Kantons Zürich tief verankert ist. Dessen ist man sich im urbanen Bereich zu wenig bewusst. Es ist kaum zu übersehen, dass dies neben rechtlichen vor allem politische Spuren hinterlässt. Denn die Gemeindeautonomie steht nicht im luftleeren Raum. Sie bildet Teil der Freiheit, sie gehört zum festen Bestand der typisch schweizerischen föderalistischen Organisationsform. Sie aus ideologischen Gründen zu übersehen, zu missachten und zu überspielen entspricht nicht dem schweizerischen Staatsverständnis und bleibt auf Dauer nicht folgenlos.
«Die Gemeindeautonomie steht nicht im luftleeren Raum. Sie bildet Teil der Freiheit, sie gehört zum festen Bestand der typisch schweizerischen föderalistischen Organisationsform.»