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Die Gefahr der Prävention

Die Rede vom permanenten Ausnahmezustand geistert durch das Feuilleton. Sie ist falsch. Richtig ist, dass wir uns in einen überwachenden Präventionsstaat verwandeln. Die Angst wird zum Dauerzustand.

In den ersten Stunden war die Lage unübersichtlich. Als in den Morgenstunden des 11.9.2001 die USA mit entführten Flugzeugen attackiert wurden, war man im Lagezentrum im Westflügel des Weissen Hauses zunächst damit beschäftigt, per Video die zuständigen Dienststellen zu koordinieren und die allerersten Anordnungen zu treffen. Die Zeit drängte. Regierungssitz, Ministerien und öffentliche Gebäude mussten evakuiert, Grenzen, Häfen und Luftraum gesperrt werden. Über 4000 Zivilflugzeuge wurden schleunigst zu Boden gelotst, die Botschaften im Ausland alarmiert, die Streitkräfte weltweit in Gefechtsbereitschaft versetzt. Nach wenigen Minuten lag die Erlaubnis vor, verdächtige Flugzeuge notfalls abzuschiessen. Rettungsteams eilten nach Manhattan, Blutkonserven waren ebenfalls auf dem Weg. In New York und Washington wurde der Notstand ausgerufen. Doch die Hilfsund Befehlszentralen waren intakt. Die Regierung regierte weiter. Die Ordnung des Staates war zu keiner Minute bedroht.

Nach den Terroranschlägen von New York, London, Madrid, Bali oder Mumbai haben viele Staaten robuste Massnahmen getroffen. Manche Rechtshüter hat dies in Unruhe und Empörung versetzt. Biometrische Ausweise, vernetzte Ermittlungen, langwierige Sicherheitskontrollen, verdeckte Fahndung, aufgerüstete Sicherheitsorgane lösen regelmässig Fehlalarme über das nahe Ende der Demokratie aus. Einige Zeitgenossen wähnen sich bereits in einem präfaschistischen Zeitalter, in dem der Ausnahmezustand zur Regierungsregel geworden sei. Gewiss geht im aktuellen Terrorkrieg nicht alles mit rechten, sondern nur mit politischen Dingen zu. Aber das Gerede vom permanenten Notstandsregime lässt berechtigte Zweifel an der historischen und politischen Urteilskraft aufkommen.

Kein Notstandsregime

Von einem Notstandsregime sind die westlichen Gesellschaften meilenweit entfernt. Die Grenzen sind offen, die Flugzeuge fliegen, Medien publizieren, was ihnen beliebt. Nirgendwo ist eine Ausgangssperre verhängt, eine Stadt vom Militär besetzt oder das Standrecht in Kraft gesetzt. In der Nacht sind Häuser und Strassenzüge hell erleuchtet, in keinem Krankenhaus wird nach den Regeln der Triage operiert. Die Märkte sind zugänglich, keine Kornkammer ist wegen einer Hungersnot geöffnet worden. Gegen Unruhestifter wird keine Miliz eingesetzt, nirgends ist die Versorgung mit Wasser, Kleidung oder Brennstoff bedroht. Weder kommt es zu Hetzjagden noch zu Aktionen eines Lynchmobs. Nirgendwo herrscht die Apathie eines Belagerungszustandes, die Panik einer Massenflucht oder die willfährige Loyalität zu einem drakonischen Besatzungsregime.

Im realen Ausnahmezustand ist Kritik an der Obrigkeit häufig lebensgefährlich. Denn in der Not sind dem Staat alle Mittel recht. Der Ernstfall ist die Zeit der Exekutive. Allein der Regierungsapparat ist unter hohem Zeitdruck aktionsfähig. Es müssen nicht zwangsläufig die zuständigen Beamten oder gewählten Minister sein, die das Heft in die Hand nehmen. Nicht Redekunst oder Aktenkundigkeit zählen in der Not, sondern Übersicht, Improvisationstalent und Entscheidungskraft. Die Arbeitsteilung der Ämter ist häufig obsolet, eine zentrale Kommandogewalt unmöglich. Auch die Teilung der Gewalten ist aufgehoben. Im Ernstfall besteht die Exekutive aus jenen Personen und Gruppen, die etwas unternehmen. Je besser sie für den Ernstfall trainiert sind, desto mehr Routinen haben sie zur Verfügung. Sie handeln rasch und manchmal verdeckt. Gegen die Nachrichtensperre können die Medien meist wenig ausrichten. Souverän ist nicht das Volk, sondern das Gremium, das über die Mittel der Ordnungsmacht verfügt. Diese Exekutivgewalt ruft den Notstand aus, und sie handelt nach eigenem Ermessen, ohne Vorschrift des Rechts und manchmal gegen alle Regel. Auch wenn eine Sonderverfassung existiert, sie ist Makulatur. Not kennt kein Gebot. Sie erkennt kein Recht. Sie setzt sich ihr eigenes Gesetz. Stünde die Existenz von Staat und Gesellschaft tatsächlich in Frage, wäre ohnehin von keinem Gesetz Rettung zu erwarten. Recht und Verfassung können keine Institutionen bewahren, auf deren Existenz ihre Geltung beruht. Fern davon, ein Tatbestand an der Schwelle des Rechts zu sein, ist der Ausnahmezustand eine soziale Tatsache und sein Management eine Angelegenheit politischer Macht. Wie auch sonst geht im Notfall die Macht dem Recht voraus.

Demokratien hatten im Notfall bislang zwei Antworten parat. Entweder wurden die politischen Freiheiten eingeschränkt, die nächsten Wahlen ausgesetzt, Parteien verboten, die Meinungsfreiheit beschnitten. An die Stelle der gewählten Regierung trat eine Junta oder ein kommissarischer Diktator. Dieser Weg mündete meist in Knechtschaft und Repression. Waren die Sondervollmachten jedoch befristet, änderte sich der Status der Republik nicht. Nach der Interimszeit regierte wieder die Oligarchie in Senat, Parlament, Partei und Behörde. Als der Zweite Weltkrieg vorüber war, wurden die Vollmachten des britischen Premierministers und des amerikanischen Präsidenten wieder gestrichen. Mit dem Frieden kehrte die politische Freiheit zurück.

Der zweite Weg führt nicht zur Begrenzung der politischen Teilnahme, sondern der persönlichen Freiheit. Der Schutz der Wohnung wird aufgehoben, Gespräche werden abgehört, Verdächtige ohne Urteil festgehalten. Im Verhör wird das Recht auf Schweigen mit der Gewalt der Folter gebrochen. Eigentum wird konfisziert, Konten werden gesperrt, Feinde und Fremde zu rechtlosen Personen erklärt. In Sondertribunalen und Sondereinheiten regiert die Willkür. Die Überwachung gilt allen, die einer verdächtigen Kategorie zugeschlagen werden. Der Notstand hebt die Gleichheit vor dem Gesetz auf.

Ausgerufen wird der Ernstfall bei diversen Anlässen. Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Unwetter, Seuchen, Rebellionen, Kriege oder Attentate können Obrigkeiten dazu veranlassen, ausseralltägliche Massnahmen zu ergreifen. Nicht nur Bürgerkriege oder Umsturzversuche bedrohen die Sicherheit der Nation. Auch langsame Katastrophen wie Epidemien oder Belagerung unterhöhlen die Normalität. Solches Unheil verläuft langsam und lässt Zeit zur Gewöhnung. Chronische Katastrophen sind Prozesse, keine Ereignisse. Sie dauern an. Zuerst ignorieren die Menschen die Gefahr, dann flüchten sie hinter Schutzdämme, in ferne Landstriche oder suchen eine Nische zum Überleben – und hoffen auf bessere Zeiten.

Die Welt ist aus den Fugen

Ganz anders die plötzliche Katastrophe. Sie verbreitet Panik von einer Minute zur anderen. Explosionen, Flutwellen, Überfälle oder Terroranschläge geschehen abrupt. Es mag Warnungen gegeben haben, doch die Wucht des Ereignisses übertrifft alle Vorkehrungen. Auf einmal scheint die Welt aus den Fugen. Der Lauf der Zeit ist unterbrochen. Dieses Unheil macht wenig soziale Unterschiede. Es schert sich nicht um Rang, Besitz oder Herkunft. Bei kurzer Fluchtdistanz nutzen auch schnelle Vehikel nichts. Am Ort trifft es jeden, ob er arm ist oder reich, alt oder jung, Zivilist oder Soldat, Minister oder Chauffeur. Die Einrichtungen der Zivilisation werden überrollt, auch die Leitstellen der Hilfe und die Depots der Einsatzkräfte. Bei solchen totalen Begebenheiten stürzt die Gesellschaft in den Abgrund, ohne dass eine Instanz den Ausnahmezustand noch verkünden könnte.

In der Regel ist der Notstand jedoch befristet und räumlich begrenzt. Er dauert so lange, bis die Gefahr gebannt und die Toten begraben sind. Und er erstreckt sich auf das Gebiet, in dem gelitten und gestorben wird. In Zeiten des Terrors ist diese lokale und zeitliche Begrenzung bedroht. Gewiss waren in Europa Terroranschläge bislang ziemlich selten. Bern ist nicht Bagdad, Zürich nicht Tel Aviv, Basel nicht Kabul. Aber manchen scheint die Gefahr allgegenwärtig. Auch wenn nichts geschieht, könnte das Unheil jederzeit hereinbrechen. Entgrenzung liegt in der Logik des Terrors. Der Schrecken ist wahllos, ziellos, unberechenbar. Seine Hauptwaffe ist nicht der Tod, sondern die Angst. Sie soll die Menschen lähmen und die Gesellschaft paralysieren. Das Blutbad ist weder eine Fortsetzung der Politik noch eine solche der Ökonomie oder Religion. Terror sagt nichts und übermittelt keine Botschaft. Der Zufall ist sein zuverlässigster Verbündeter. Da aber keine Gesellschaft auf Dauer in Panik leben kann, muss der Terror gesteigert, muss die Angst immer wieder geschürt werden. Der Schrecken untersteht dem Zwang zur Totalität. Der Meuchelmord weicht dem Massaker, die Autobombe dem Giftgas, der Terrorismus dem Terrorkrieg.

Darauf reagieren viele Gesellschaften mit einer Mischung aus Verleugnung, Ängstlichkeit und ausufernder Vorsorge. Für den Ernstfall des totalen Terrors will man sich keinesfalls rüsten. Ein Angriff mit chemischen oder nuklearen Kampfstoffen träfe die Katastrophenstäbe, Ordnungskräfte, Notdienste und Kliniken unvorbereitet. Planspiele können kaum für das Unvorstellbare vorbereiten. Deshalb zieht man es vor, sich in Sicherheit zu wiegen, obwohl man ahnt, dass die Sicherheit trügerisch ist. In Westeuropa haben die Anschläge der letzten Jahre nur gelinde Verstörung hinterlassen. Nach kurzer Besinnungspause kehrten die Menschen achselzuckend zur Tagesordnung zurück. Als Zaungäste des globalen Terrorkrieges glauben sie sich noch immer ausserhalb der Anschlagszone, weil man keine Kampftruppen entsandt und sich auf humanitäre Krisenhilfe beschränkt hat. Als ob sich selbsternannte Gotteskrieger, zumal die Konvertiten im eigenen Land, durch völkerrechtliche Korrektheit beeindrucken liessen.

Statt sich mit realistischen Trainingsprogrammen so weit wie möglich vorzubereiten, wuchern die Vorstellungen und Regulierungen. Welche Gefahr tatsächlich droht, ist ungewiss. Sind die Hinweise dürftig, nennt man die Gefahr «abstrakt», d.h. keiner weiss, ob und worin sie besteht. Verdichten sich die Hinweise, nennt man die Gefahr «konkret», aber man kennt weder den Tatort oder die Täter noch den Zeitpunkt oder die Waffen. So bleibt die Warnung anfällig für Hysterie und Phantasie. Die Einbildungskraft indes nährt die Ängstlichkeit. Prävention reagiert nicht auf eine wirkliche, sondern auf eine imaginäre Notlage. Der Möglichkeitssinn überlagert den Wirklichkeitssinn. Der Vorkehrungen ist kein Ende. Offensichtliche Wissenslücken forcieren immer neue Ermittlungen. Die Gesellschaft gerät in einen Sog der Dauerüberwachung.

Alles wird hörbar und sichtbar

Man stelle sich vor: An allen öffentlichen Plätzen sind Kameras installiert, die sämtliche Bewegungen beobachten. Jeder Ortswechsel wird dokumentiert, jede auffällige Geste notiert. Vor Kinos und Restaurants, an Flughäfen und Bahnsteigen sind Schleusen errichtet, an denen jeder Passant einer Leibesvisitation unterzogen wird. Aktenkoffer und Handtaschen werden durchstöbert. Alles wird hörbar und sichtbar. Telefonate werden aufgezeichnet, Briefe geöffnet, die elektronische Post auf Jahre gespeichert. Vor den Fenstern der Wohnungen darf man die Vorhänge nur mit Genehmigung herablassen. Die Menschen leben in durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern. Um Verdächtige frühzeitig zu erkennen, muss die Obrigkeit wissen, wer sich wann wo befindet, wer wen trifft und was sie miteinander besprechen. Jeder soziale Kontakt, jedes Gespräch steht unter Verdacht. Die Gesellschaft verwandelt sich in eine Quelle der Angst und Ungewissheit. Wird nämlich überall kontrolliert, muss die Gefahr überall lauern. Anstatt Vertrauen zu schaffen, schürt Vorsorge zuletzt den Argwohn. Ein jeder ist gehalten, die Augen offen zu halten. Verdächtige Subjekte sind sofort zu melden. Jeder Bürger wird zum Agenten der nationalen Sicherheit. Jeder Fussgänger mit Rucksack, jeder Fahrer eines weissen Kombis kann insgeheim ein Massenmörder sein. Auf das Aussehen eines Individuums ist ohnehin kein Verlass. Denn je weniger einer auffällt, desto verdächtiger ist er. Nicht nur der Staat misstraut seinen Untertanen. Jeder Nachbar, jeder Passant kann ein Terrorist, ein Helfershelfer, ein Sympathisant sein. Wer kennt schon alle Masken des Bösen? Normalität war schon immer die beste Tarnung für das grosse Verbrechen.

Nicht im Ausnahmezustand, sondern in dessen Prävention liegt gegenwärtig die grösste Gefahr. Obwohl gar nichts geschehen ist, werden fundamentale Freiheiten beschnitten. Der Kontrollwahn speist sich nicht zuletzt aus dem Irrglauben, Terrorkriege liessen sich durch polizeiliche oder juristische Vorkehrungen einhegen. Aber so wenig die Notwendigkeiten des Ernstfalls kodifizierbar sind, so wenig fügt sich die Realität des Terrorkrieges der Idee des Rechts. Von den Konventionen des Kriegsund Kriminalrechts ist hier nichts zu erwarten. Weder Selbstmordattentate noch Massenmorde sind in irgendeinem Gesetzbuch vorgesehen.

Die Transformation zum Präventionsstaat ist keineswegs unpopulär. Im Zweifelsfall verzichten die Untertanen lieber auf ihre politischen und persönlichen Freiheiten als auf die Fiktion umfassender Sicherheit. Nervöse Vorsorge ist im Staatsvertrag der Demokratie bereits angelegt, jenem fiktiven, von Furcht und Sorge diktierten Abkommen zwischen Obrigkeit und Untertan. Der Bürger erhofft sich vom Staat Obhut und Schutz. Und die politische Elite benötigt vom Bürger Zustimmung und Fügsamkeit. Für das Versprechen der Sicherheit erhält sie Legitimität. Das geringste Versäumnis in Fragen der nationalen Sicherheit bedeutet für sie den politischen Tod. Jede Unterlassung wird ihr sofort als Versagen, als Vertrauensbruch, als Mitschuld zugerechnet. Daher der Zwang zur alarmierten Überreaktion, zur robusten Beschneidung der Freiheit. Die Politik der Prävention zielt zuallererst darauf, einer Legitimationskrise staatlicher Herrschaft vorzubeugen.

Der Terror hat Erfolg

Mit der kollektiven Ängstlichkeit hat der Terror sein erstes Etappenziel erreicht. Robuste Prävention und Terror bilden eine unheilige Allianz. Sie führt geradewegs zur Selbstzerstörung der Lebensform der Freiheit. Das sicherste Mittel gegen den Terror ist daher die Einhegung der kollektiven Angst. Bleibt nämlich die Panik aus, stösst der Terror ins Leere. Keineswegs ist die attackierte Gesellschaft zur Ohnmacht verurteilt. Jenseits von Hysterie und Vorsorge liegen die Chancen der aktiven Gegenwehr. Menschen überwinden ihre Furcht, indem sie die Gefahr tatsächlich wahrnehmen, ihren Alltag besonnen fortführen und – mit steifer Oberlippe – die Herausforderung annehmen. Die Bevölkerung Europas hat sich darauf einzurichten, bis auf weiteres mit der Gefahr zu leben.

Sicherheitsmassnahmen sind aufs Notwendige zu begrenzen, strikt zu befristen und öffentlich zu kontrollieren. Zugleich ist ein nüchterner Gewaltkalkül kaum zu vermeiden. Der Terrorkrieg ist – wie jeder Krieg – nur zu gewinnen, wenn der Feind zur Aufgabe gezwungen oder kampfunfähig gemacht wird, durch Demoralisierung, durch die Zerstörung seiner Organisation und Ideologie, durch ökonomische und kulturelle Austrocknung seines gesellschaftlichen Umfelds. Dies schliesst die altbewährten Techniken der Camouflage ein: List, Infiltration und Sabotage, gezielte Aufklärung und plötzliche Überfälle. Terror spekuliert auf die moralische Impotenz des Westens. Mit entschlossener Gegenwehr braucht er nicht zu rechnen, solange die europäischen Gesellschaften kein Bewusstsein davon haben, dass sie etwas zu verteidigen haben.

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