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Die gefährliche Tugend
Andrea Seaman, fotografiert von Selina Seiler.

Die gefährliche Tugend

Die Unesco setzt Toleranz mit Akzeptanz gleich. Diese Definition ist völlig falsch, aber leider weit verbreitet.

Die Bedeutung von Toleranz wird heutzutage oft missverstanden und in ihr Gegenteil, die Intoleranz, verkehrt. Das beispielhafteste und häufigste solcher Missverständnisse stammt von der Unesco, die den 16. November zum Internationalen Tag der Toleranz erklärt hat.

Die Unesco definiert Toleranz als «Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt». Das ist sehr niedlich, ebenso wie die Einschätzung der Toleranz als «eine Tugend, die den Frieden ermöglicht» und dazu diene, «den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden». Toleranz bedeute «Harmonie über Unterschiede hinweg». Friede, Freude, Eierkuchen.

Respektlos tolerant

Die Vorstellung der Unesco, dass Toleranz aus Respekt, Akzeptanz und Anerkennung bestehe, ist nicht haltbar. Die Philosophin Elif Özmen schreibt zu Recht, dass «zur Toleranz neben einem Aspekt der Akzeptanz immer auch ein Aspekt der Ablehnung gehört».1

Man kann nicht etwas tolerieren, mit dem man völlig einverstanden ist, denn wie Christopher Hitchens bemerkt: «Toleranz setzt logischerweise die Annahme von Nichtübereinstimmung und Missbilligung voraus.» Wenn Sie Lehrer sind und einer Ihrer Schüler sich perfekt verhält, können Sie nicht zu ihm sagen: «Ich toleriere dein gutes Verhalten.» Das würde keinen Sinn ergeben. Nur die Schüler, die sich schlecht benehmen, kann man (bis zu einem gewissen Grad) tolerieren. Es muss ein gewisses Mass an Unmut, Uneinigkeit oder Ablehnung vorhanden sein, damit man überhaupt von Toleranz sprechen kann.

Daher kann Toleranz nicht als Akzeptanz von Meinungen definiert werden, die von den eigenen abweichen. Und wenn Sie, wie ich, die Nazi-Ideologie nicht akzeptieren, sind Sie sicherlich nicht verpflichtet, respektvoll darüber zu sprechen oder Nazis mit all der Anerkennung zu begegnen, die Sie den Gerichten Ihrer Grossmutter entgegenbringen würden.

Tatsächlich können Sie so respektlos und ohne Akzeptanz anderer Meinung sein, wie Sie wollen, und trotzdem tolerant sein. Solange Sie nicht versuchen, andere Meinungen zu unterdrücken, sind Beleidigungen und unfreundliche Kommentare gegenüber denjenigen, die Sie tolerieren, erlaubt. Gewisse Leute, die man zu tolerieren versucht, sind sowieso unausstehlich, also kann man ihnen ein wenig von ihrer eigenen Medizin zu schmecken geben – ohne ihren ideologischen oder regressiven Unsinn zu übernehmen. Auf diese Weise wissen beide Seiten, woran sie sind, und sie versuchen zumindest nicht, die andere Partei zu verprügeln oder zwei Meter unter der Erde zu begraben.

Die Demokratie ist auf Toleranz angewiesen, um hitzige Diskussionen zu ermöglichen, die die tatsächlichen Unterschiede in der Gesellschaft thematisieren. Das ist keine schlechte Sache. Ja, es kann in Gewalt ausarten, aber das gilt auch für das erzwungene Schweigen zu bestimmten Themen. Eine autoritäre Schweigespirale erzeugt Druck; kann diese nicht durchbrochen werden, droht die Explosion. Richtig definiert macht Toleranz die Disharmonie einer Gesellschaft in ihrer Verschiedenheit deutlich. Als Gegensatz dazu steht die Aufoktroyierung einer Einheitsmeinung, die es eigentlich nicht gibt.

Eliten haben im Laufe der Geschichte immer wieder versucht, spalterische Ideen so darzustellen, als wären sie allgemein akzeptiert. Geht es nach der Unesco-Definition von Toleranz, sind diejenigen, die den gegenwärtig vorherrschenden Elitenkonsens stören, intolerant und sollten vielleicht nach dem Grundsatz zensiert werden, dass das Intolerante nicht toleriert werden sollte. Man denke nur an «Diversity», «Equity» und «Inklusion». Oder daran, dass wir alle akzeptieren sollen, dass Teenager, die zum anderen Geschlecht wechseln und Hormonblocker einnehmen, etwas ganz Tolles sind. Da es in Europa so etwas wie den ersten Verfassungszusatz in den USA nicht gibt, sind die Gefahren nicht zu übersehen, nicht einmal in der Schweiz. Hierzulande werden bereits Leute eingebuchtet, die Lesben schlechtreden – Alain Soral zum Beispiel. Das sind ungemütliche Leute, keine Frage. Aber sie einzusperren kommt autoritärer staatlicher Zensur gleich.

Keine Angst vor Disharmonie

Der eigentliche Clou an der Unesco-Definition von Toleranz ist, dass sie ganz im Einklang mit der Ideologie von «Woke» steht. Diese selbsternannten «Erwachten» halten jeden, der nicht mit ihnen übereinstimmt, für intolerant. Wenn Toleranz Akzeptanz und Anerkennung bedeutet, dann ist es nichts anderes als Intoleranz, wenn man ihre verrückten Ideen nicht anerkennt oder akzeptiert, d.h. nicht mit ihnen übereinstimmt.

Natürlich halten sich solche Ideologen nicht für bigott, wenn sie anderer Meinung sind als andere. Was für eine Doppelmoral! Sie werfen anderen ihre Überzeugungen über den Klimawandel und LGBTQ+ ins Gesicht. Wer sich darüber beschwert, hat einen «Kulturkrieg» begonnen oder angeheizt. Doch wenn man ihnen seine eigenen Ansichten erzählt, ohne dass sie einem vorher die ihrigen mitgeteilt haben, halten sie einen bereits für einen Unruhestifter, dem man eine mahnende Rede halten muss. Mit solchen Wahnwitzigen kommt man auf keinen grünen Zweig.

Deshalb sollte der 16. November zu einem Tag der heftigen und, ja, lautstarken, respektlosen Debatte und Meinungsverschiedenheit umgestaltet werden. Scheuen wir uns nicht vor der Disharmonie in der Differenz, sondern begegnen wir ihr direkt. Toleranz bedeutet nichts, wenn sie nicht auf die Probe gestellt wird, und wer könnte diese Tugend besser schärfen als die modernen totalitären Woken des Westens, die auf einer pervertierten, politisch korrekten Definition von Toleranz bestehen?

Sozialer Sprengstoff

Wie sieht es mit der Idee aus, dass Toleranz den Frieden fördere und den Krieg verhindere? Das ist natürlich nicht ganz unwahr. Wenn ich nicht einverstanden bin mit dem, was Sie sagen, und Ihnen aufgrund dieser Meinungsverschiedenheit nicht mit dem Knüppel auf den Kopf schlage, können wir das Frieden nennen. Vor allem, wenn Sie meine Zurückhaltung erwidern, obwohl Sie an meinen Meinungen Anstoss nehmen. Die Religionskriege in Europa hörten nicht zuletzt deshalb auf, weil Katholiken und Protestanten merkten, dass die Bekehrung von Ungläubigen und «falschen» Christen nicht funktionierte, die Kosten nicht wert und prinzipiell falsch war.

Es gibt aber auch eine gewalttätige Seite der Toleranz, die in der Unesco-Definition völlig ausser Acht gelassen wird. Toleranz ist weit davon entfernt, «den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens» zu ersetzen, sondern kann sogar Krieg und eine Kultur des Krieges hervorrufen.

Warum lassen sich die Franzosen so leicht dazu bewegen, auf die Strasse zu gehen, um – oft gewaltsam – gegen die Regierung zu protestieren? Natürlich wegen der Französischen Revolution und ihrer langen historischen Nachwirkungen auf die französische Kultur. Die Französische Revolution war das direkte Ergebnis der Erweiterung der Toleranz durch die Aufklärung.

Die französischen Obrigkeiten erlaubten Intellektuellen wie Voltaire, das Ancien Régime und die Monarchie selbst zunehmend anzuzweifeln, zu kritisieren und zu verunglimpfen. Diese Ideen verbreiteten sich, weil die Toleranz ihnen gegenüber so stark anschwoll, dass Voltaire am Ende seines Lebens nach Paris zurückkehrte und dort unbehelligt von Polizisten, die sich seine Verhaftung wünschten, einen friedlichen Tod starb.

«Throne, Herrschaften, Fürstentümer und Macht, die auf Ungerechtigkeit und Unrecht gegründet sind, werden mit Sicherheit erzittern, wenn es den Menschen erlaubt sein sollte, über Gerechtigkeit, Mässigung und ein bevorstehendes Urteil in ihrer Gegenwart nachzusinnen», sagte der Sklavereigegner Frederick Douglass. Das bedeutet, dass die Herrscher despotischer Regierungen in Gefahr sind, gestürzt zu werden oder ihren Kopf zu verlieren, wenn sie beginnen, Widerspruch zu den vorherrschenden, staatlich genehmigten Orthodoxien zu tolerieren. Hört sich das friedlich an?

Diese gewalttätige Eigenschaft der Toleranz ist für mich kein Grund, diese Tugend zu verurteilen. Ganz im Gegenteil: Ich begrüsse dieses Gewaltpotenzial der Toleranz. Wie sonst hätten die Franzosen das Ancien Régime abschaffen sollen? Durch eine Volksinitiative? Dagegen hätten der König und seine Schergen wohl Einsprache mittels Bajonetts erhoben.

Toleranz ist nach wie vor eine Tugend, denn die Französische Revolution wie auch die Amerikanische waren nicht nur notwendig, sondern als moralische Sache auch unterstützenswert. Nichts, was wertvoll ist, war jemals leicht zu erlangen, vor allem dann nicht, wenn ein repressiver Polizeistaat einen daran hindert, sein grundlegendes Menschenrecht auf ein faires Verfahren, das Wahlrecht oder das Recht, der feudalen Knechtschaft zu entkommen, usw. wahrzunehmen.

Xi Jinping fürchtet zu Recht gewaltsame Umwälzungen in China, sollte er die Kommunistische Partei Chinas gegenüber Kritikern nachsichtiger stimmen, als sie es derzeit ist. Hoffentlich bekommen die Chinesen bald einen Hauch von Freiheit zu spüren und beginnen zu rebellieren. Tolerant im Sinne der Unesco werden sie dann Gott sei Dank nicht sein. Aber dieser falsch verstandene Begriff der Toleranz ist ja auch nur getarnte Intoleranz.

  1. Elif Özmen: Was ist Liberalismus? Berlin: Suhrkamp, 2023, S. 137–138.

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