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Die Freiheit des Internets

Staaten sind plötzlich nicht mehr souverän. Und das private Leben ist politisch geworden. Das Netz hat die Welt verändert. Wir sind erst daran zu begreifen, was dies
für unsere Lebenswelt bedeutet.

Die Freiheit des Internets
Josef Girshovich, photographiert von Amin Akhtar.

Googeln Sie jetzt bloss nicht den Begriff «Schnellkochtopf». Das kann unversehens schwerwiegende Folgen haben. Wer einen Schnellkochtopf online erwerben möchte und bei eBay oder Amazon Preise, Marken und Modelle vergleicht, der macht sich grundsätzlich verdächtig. Denn Schnellkochtöpfe können auch als Waffen eingesetzt werden. Die Brüder Dzhokhar und Tamerlan Tsarnaev verwendeten zwei Schnellkochtöpfe bei dem Anschlag auf den Bostoner Marathonlauf im April 2013. Drei Menschen kamen ums Leben, 264 Menschen wurden verletzt. Seither stehen Schnellkochtöpfe auf der Liste der zu rasternden Begriffe im Internet. So macht uns das jetzt eine neue urbane Legende aus der Nähe von New York glauben. Dort bekam eine Familie Besuch von sechs Geheimdienstagenten. Sie parkten ihre schwarzen Geländewagen in der Einfahrt, riegelten den Hintereingang ab, durchsuchten das Haus und stellten viele Fragen – angeblich, weil Mutter und Sohn einige Wochen zuvor an ihren jeweiligen PCs die Begriffe «Rucksack» und «Schnellkochtopf» gegoogelt hatten. 

Zwei Grundprinzipien der menschlichen Koexistenz auf dem Planeten Erde sind nachhaltig erschüttert. Seit der Erscheinung Edward Snowden wissen wir, dass unser gesamtes virtuelles Sein in der Retrospektive gelesen und interpretiert werden kann, dass es aber unser wirkliches Sein ist, das dafür zur Rechenschaft gezogen wird. «Brave New World», «1984», «Minority Report», sind wir endlich da? Steht im Jahr 9 nach Facebook das Autodafé der Gedankenfreiheit bevor?

Bis vor kurzem galt erstens: Jenseits der Staatsgrenze beginnt die Aussenpolitik, innerhalb ihrer Grenzen sind Staaten souverän. Und zweitens: Jeder Mensch hat ein privates, intimes und ein öffentliches, politisches Leben. Diese Regeln des modernen Nationalstaats gelten nicht mehr.

Das Internet kennt weder natürliche Grenzen noch staatlich anerkannte. Das Internet ist überall dort, wo Menschen mittels Computer oder Mobiltelefone vernetzt sind. Weder Berge und Meere noch Zäune und Mauern halten die Datenströme auf. Wo früher ein Bote samt Briefen abgefangen und das Weiterreisen durch Grenzsoldaten verhindert werden konnte, rauschen heute Informationen widerstandsfrei vorüber, nur ein leichtes Surren ist zu hören.

Gewiss, Iran und China haben in den letzten Jahren konsequent versucht, Suchbegriffe oder gleich ganze Seiten zu blocken. Und es wäre wohl ein Leichtes, ein Programm zu entwickeln, das bereits das Eingeben bestimmter Buchstabenkombinationen nicht gestattet. Doch der Informationsfluss ist ein lebendiger Quell; er sucht und findet beständig seinen Weg, und so ist das reaktive Blocken immer nur kurzzeitig und punktuell möglich. Die Beschränkung der Staatsgrenzenlosigkeit des Internets erfordert drastischere Mittel. Derzeit arbeitet der Iran an einem landesweiten Intranet nach nordkoreanischem Modell und plant, 2015 online, also offline, zu gehen. Wer dann im Iran ins Internet will, surft ausschliesslich innerhalb des geschlossenen virtuellen Biotops des Hallal Internet.

Verteufle das, wer will, aber wie sonst soll aus politischer Sicht der Staat, die Verkörperung des traditionellen Machtmonopols, damit zurechtkommen, dass eben dieses existenzsichernde und berechtigende Machtmonopol virtuell ausgehebelt wird? Plötzlich wächst der öffentlichen Sphäre auch im Westen ein zweiter, virtueller Kopf und fängt an zu denken, zu reden, zu handeln, lässt sich aber, gleich einem Spuk, mit den realen Armen und Beinen nicht ertasten, geschweige denn bändigen.

Die zweite, mit der Entgrenzung der Menschheit gleichfalls einhergehende, die Bespitzelung rasant begünstigende, freilich stillere Revolution ist das Ende des Diskurses zwischen Privat und Öffentlich, vielleicht auch grundsätzlich zwischen dem idiotes und dem zoon politikon. Es gibt, diese Erkenntnis setzt sich brutal und ungeschminkt immer mehr durch, im Internet keine Trennung zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum. Alles, was online geschieht, ist Gemeingut. Die Vernetzung des Wollens und Brauchens wird die Notwendigkeit des absoluten Eigentums zugunsten des relativen Besitzens verdrängen. Was unter dem Begriff Share Economy vielerorts als Gespenst umgeht, als postkapitalistischer College-Idealismus, ist eine neue Form des Haushaltens. Das zu verstehen, dürfte eine der grossen soziologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der nächsten Jahre sein.

Die Verwischung der tradierten Grenzen von privater und öffentlicher Sphäre wird am ehesten anhand der sozialen Netzwerke sichtbar, wiewohl sie gewiss überall stattfindet. Wer auf Facebook oder in Chaträumen postet, der sucht geradewegs die Öffentlichkeit. Die Überzeugung, man könne «sein» Facebook oder «seinen» Chat auch privat nutzen, ist absurd, ja beinah anmassend. Ein Witz, der alsbald nach Snowden im Netz auftauchte, geht deshalb so: «Jedes Mal, wenn ein Facebook-Nutzer in seinem Sichtbarkeitsprofil das Kästchen ‹Nur ich› ankreuzt, kippt ein NSA-Mitarbeiter vor Lachen vom Stuhl.»

Wer privat sein möchte, führt nicht öffentlich Tagebuch. Wer Geheimnisse hat, schreibt sie nicht öffentlich auf. Der tippt sie nicht öffentlich ein. Der drückt nicht auf Enter. Hier scheint unser Verhältnis zum geschriebenen Wort am meisten gelitten zu haben, weil sich mit jeder Sucheingabe das Browserfenster neu lädt und wir nach wie vor glauben, «Neu laden» sei gleichbedeutend mit «Löschen». Die Menschen aber müssen lernen und verstehen, dass die leere Zeile mit dem blinkenden Cursor unterhalb der sechs bunten Buchstaben keine Schultafel ist, die sich beliebig mit einem feuchten Schwamm abwischen lässt, sondern ein unendliches Palimpsest, eine von Sergey Brin mit Leben eingehauchte, alles speichernde und alles wissende Chronik unseres gesamten virtuellen Seins.

Aus diesem Grund greift auch die Diagnose1 des jungen deutschen Philosophen Markus Gabriel zu kurz, der die Diskussion um die totale Überwachung der menschlichen Kommunikation einzig auf die «Angst vor der Öffentlichkeit der Gedanken» zurückführt. Gabriel berücksichtigt nicht hinreichend, dass es sich bei all dem, vor dessen Öffentlichwerden wir allzu offensichtlich Angst haben, nicht lediglich um «vergegenständlichte Gedanken», sondern in erster Linie um Texte handelt, um geschriebene und getippte Wörter und Zahlen. Vielleicht ist gerade deswegen die Angst umso grösser, weil wir wissen, was wir schon alles geschrieben haben, und lieber nicht daran erinnert werden wollen. Mehr noch, weil wir nicht wollen, dass unsere Gedanken für andere überprüf- und nachvollziehbar werden. Denn ein Gedanke überdauert die Zeit nur, wenn er verfasst ist. Und vor allem überdauert er, wenn er im Netz verfasst ist. Das, so scheint mir, haben wir noch nicht verstanden.

Ganz anders unsere Politiker. Sie wissen um den Wert des geschriebenen Wortes. Just deswegen können sie die ihnen in Untersuchungsausschüssen vorgeworfenen Kenntnisse um Spähprogramme so lange verneinen, als nicht ihre ministeriale grüne Tintenfarbe auf irgendeinem – und sei es auch belanglosen – Dokument auftaucht. Ebenso wie das der englische Tagebuchschreiber und Regierungsbeamte Samuel Pepys verstand – das beste Beispiel dafür, dass nicht nur unsere Gesellschaft immer wieder korrosionsgefährdet ist, sondern auch jeder einzelne Mensch in ihr porös und liebenswert eitel. Samuel Pepys führte beinahe ein ganzes Jahrzehnt lang sein «Geheimes Tagebuch». Und er wusste durchaus, dass ihn seine Aufzeichnungen ins Gefängnis gebracht hätten, wären sie denn öffentlich geworden. Deswegen schrieb Pepys insgeheim, aber er schrieb doch und sorgte zudem dafür, dass seine Geheimnisse ihn selbst überdauern und, in beständige Buchblöcke gebunden, irgendwann von den Nachgeborenen entdeckt und gelesen würden. Im 17. Jahrhundert schrieb Pepys von Hand, er redigierte von Hand und er verfasste eine Reinschrift, ebenfalls von Hand. Das war sein Luxus des Privaten, und den Mangel an demselben müssen wir heute in Kauf nehmen, sofern wir die Vorzüge informationeller Allgegenwärtigkeit geniessen möchten. Denn während die Feuilletons den modernen Überwachungsstaat ausrufen oder bestenfalls zynisch vermelden, dass Orwells «1984» nicht als Gebrauchsanweisung gedacht war, loben ein paar Zeitungsbögen oder Scrolls weiter die Technikredakteure aus dem benachbarten Büro die neusten Entwicklungen bei Social Media, Computern und Smartphones.

Gegen Ende des amerikanischen Spielfilms «Wer den Wind sät» sagt Spencer Tracy: «Fortschritt hatte schon immer seinen Preis. Manchmal denke ich, da sitze ein Mann hinterm Schalter und sage: ‹Gut, Sie können ein Telefon haben, aber Sie verlieren Ihre Privatsphäre und den Charme grosser Entfernungen. Madame, Sie können wählen gehen. Aber Sie verlieren das Recht, sich hinter Ihrer Puderquaste oder Ihren Unterröcken zu verstecken. Mister, Sie können die Lüfte erobern, fein. Aber der Vogelflug wird kein Wunder mehr sein, und die Wolken werden nach Benzin stinken.›» Das gilt ebenso für das Internet: «Sie können online gehen, online schreiben – aber Sie geben damit den Reiz des Intimen auf.»

Es gibt zwei Auswege, die digitale Neurose zu überwinden. Entweder steigen wir aus der digitalen Welt aus: kein Internet, kein Mobiltelefon, nur noch handgeschriebene Briefe und Visiten, oder aber wir geben alle gleichzeitig den Begriff «Schnellkochtopf» bei eBay oder Amazon ein. Das würde die Filterfunktion der Spähprogramme überfordern und die totale Überwachung mittels totaler Information ausstechen. Eines aber können wir nicht: das Kästchen «Nur ich» ankreuzen. Denn es ist eine aus der analogen Welt übernommene Fiktion, dass es im Internet diese Funktion überhaupt geben kann. Es gibt kein «Nur ich» in der virtuellen Welt.

 


1 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. August 2013, S. 41.

 

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