Die Freiheit der Schweiz
Ein historischer Annäherungsversuch
Was ist das überhaupt: Freiheit? Auch wenn wir uns wohl darin einig sind, dass unser Leben ohne Freiheit nicht viel wert wäre – die Frage ist, so allgemein gestellt, kaum zu beantworten. Der Versuch, Freiheit im Stile einer Einkaufsliste zu definieren, muss scheitern. Weil die Freiheit an sich nur in der politischen Semantik existiert – oder in den Erlösungsversprechen totalitärer Gruppierungen –, machen solche blutleeren Definitionsversuche wenig Sinn.
Erfassen lässt sich Freiheit am ehesten in ihren jeweiligen Manifestationen. Der historische Blick sensibilisiert uns für die Tatsache, dass Freiheit kein Zustand ist, sondern ständiges Werden. Um Freiheit wird bis zum heutigen Tag auf der ganzen Welt gekämpft – mit und ohne Waffengewalt, auch an Orten, wo Freiheit seit langem in irgendeiner Form verbrieft ist. Denn Freiheit ist ständig bedroht.
In der Praxis – dieses Argument möchte ich hier am Schweizer Fall illustrieren – ist es gerade das Zulassen der Spannung zwischen unterschiedlichen Freiheitsidealen, die Freiheit ermöglicht. Die Erkenntnis, dass diese Spannung unauflösbar ist und bleibt, dass es auf dem Feld des Lebens in Freiheit zu keiner Synthese auf höherer Ordnung kommen kann, ist Voraussetzung freiheitlicher Wirklichkeit. Wo Freiheit als gewonnen gilt – von Experten oder Politikern verstanden, gesichert und verwaltet –, geht sie den Bach runter.
Freiheit, aber welche?
Ein hervorragender Ausgangspunkt, um den Kampf um die freiheitliche Gestaltung unseres Lebens hinsichtlich seiner Formen und Triebkräfte zu beleuchten, stammt vom Politphilosophen und Ideenhistoriker Isaiah Berlin. In seinem berühmtesten Essay zur politischen Theorie unterschied der zeitlebens am All Souls College wirkende Gelehrte zwischen zwei Arten von Freiheit. Beide prägen bis heute als Ideen das politische Ringen um eine freiheitliche Ordnung.
Da ist zum einen die «negative liberty». Bei diesem Verständnis von Freiheit geht es besonders um den Schutz der persönlichen Freiheit vor Eingriffen durch eine externe Gewalt: «The wider the area of non-interference, the wider my freedom.» Wichtig für den Oxforder Philosophen: Diese aufs Individuum zentrierte Freiheit – als politisches Ideal ist sie vergleichsweise modern, ein Kind von Renaissance und Reformation – steht in keiner zwingenden Verbindung zu demokratischer Mitbestimmung am Gemeinwesen. Individuelle Freiheit und Demokratie im Sinne von Self-Government sind keine siamesischen Zwillinge.
Dagegen besitzt jene Variante von Freiheit eine Affinität zur Demokratie, die Berlin als «positive liberty» bezeichnet. Hier geht es nicht um den Schutz der persönlichen Freiheit von äusseren Zwängen, sondern um freiheitliches Handeln zum Zwecke individueller und kollektiver Selbstbestimmung. Im Zentrum steht die Anerkennung von Status und Selbstwert des einzelnen innerhalb eines Kollektivs: «I wish to be somebody, not nobody; a doer – deciding, not being decided for, self-directed and not acted upon by external nature or by other men as if I were a thing, or an animal, or a slave incapable of playing a human role…»
Diese zweite Konzeption von Freiheit – zu ihren philosophischen Leitsternen gehören Kant, Montesquieu und Rousseau – birgt nach Berlin die zumindest latente Gefahr einer die Freiheit des Individuums bedrohenden Utopie. Den Geist von Rousseaus Geschichtsphilosophie wiedergebend, schreibt Berlin: «Freedom is not freedom to do what is irrational, or stupid, or wrong. To force empirical selves into the right pattern is no tyranny, but liberation.» Für die radikalen Verfechter der «positive liberty» – klassische Beispiele bilden der Tugenddiskurs der Jakobiner während der Französischen Revolution sowie linke und rechte totalitäre Bewegungen im 20. Jahrhundert – heiligt der Zweck die Mittel. Wenn die Menschen nicht begreifen, was Freiheit zu bedeuten hat, dürfen jene, deren Vernunft sie zur Erkenntnis der alleinigen Wahrheit befähigt, sie zur Freiheit zwingen. In dieser radikalen Zuspitzung schlägt die positive Freiheitskonzeption um in eine Wegleitung für den Totalitarismus.
Dabei zweifelte Berlin keine Sekunde daran, dass die positive Freiheit einem zentralen menschlichen Bedürfnis entspringe oder dass sie das moderne öffentliche Leben befruchte. In massvollen Dosen verabreicht, hielt er die positive Freiheit für durchaus tugendhaft. Wenn er die positive Freiheit dennoch als problematischer als die negative bewertete, dann deshalb, weil er die Versuchung der Masslosigkeit im Dienste eines mit der Wahrheit gleichgesetzten Entwicklungsprinzips hier für grösser hielt. Etwas technischer formuliert: Die Anhänger der positiven Freiheit neigen nach Berlin zu geschichtsphilosophischer Verallgemeinerung ihres eigenen Wertehorizontes.
Das ist die zentrale Kritik, die Berlin in seinem 1958, also zu Beginn des Kalten Krieges, publizierten Essay gegen die Präferenz für die positive Freiheit vorbringt. Wo die «negative liberty», wo der Schutz des Individuums vor staatlicher und anderen Formen äusserer Einmischung in den Privatbereich vernachlässigt wird, gedeihen Erweckungsideologien, die mit absolutem Wahrheitsanspruch auftreten.
Wie manifestieren sich nun diese beiden Kräfte im historischen Ringen um Freiheit? Berlin entwickelte sein bahnbrechendes Argument im weitgehend keimfreien Raum der politischen Philosophie. Das begründet seine Klarheit und Eleganz. Gleichzeigig erklärt es, weshalb es schwierig ist, seine Begriffe auf historische Vorgänge ausserhalb der Ideengeschichte anzuwenden. Die von Ungereimtheiten und Verwerfungen geprägte Wirklichkeit der europäischen Freiheitsbewegungen in ihren diversen Ausprägungen – liberal, demokratisch, sozial-radikal – lässt sich weniger gut typologisch glätten als das Gedankengut einflussreicher Philosophen und Pamphletisten. Zwei Ergänzungen scheinen mir am Platze zu sein.
Zum einen ist unübersehbar, dass geschichtsphilosophische Rechtfertigungsmuster auch bei deklarierten Anhängern der negativen Freiheit oft eine zentrale Rolle spielten: Nicht nur Demokraten und radikale Republikaner, sondern auch Liberale rechtfertigten ihre Anliegen im 19. Jahrhundert wiederholt mit dem Anspruch, im Einklang mit einem die Wahrheit verbürgenden historischen Fortschritt zu handeln. Zum anderen liegt das Typische der schweizerischen Entwicklung meiner Meinung nach darin, dass sich diese beiden politischen Bewegungen – die liberale und die demokratische – gegenseitig sowohl inspirierten als auch in ihrer Wirkung begrenzten. Etwas ambitionierter formuliert: Der Motor der politischen Geschichte der Schweiz besteht seit circa 1830 in der Dialektik von positiver und negativer Freiheit. Sie bestimmt bis heute die politische Kultur und das institutionelle Gefüge des Landes.
Von Liberalen und Demokraten
Heutzutage neigen wir (zumindest in der Umgangssprache) dazu, die Begriffe liberal und demokratisch synonym zu verwenden. Wenn wir uns dem 19. Jahrhundert zuwenden – darin ist sich die Forschung zur europäischen Geschichte einig –, ist die begriffliche Unterscheidung jedoch zentral. Sie führt uns in den politischen Basiskonflikt des langen 19. Jahrhunderts, der in den Werken von Edmund Burke, Alexis de Tocqueville oder John Stuart Mill immer wieder zur Sprache kommt. Der Konflikt, der sich im 19. Jahrhundert zwischen Liberalen und Demokraten entspann, drehte sich zentral um die Frage, was Fortschritt bedeute und wie er praktisch zu realisieren sei. Dieser Konflikt war selbstverständlich nicht auf die Schweiz begrenzt – er wurde damals in ganz Europa, in den USA sowie in Teilen Südamerikas ausgetragen. Das Besondere an der Schweizer Entwicklung bestand indessen im institutionellen Rahmenwerk, das er produzierte und das die politische Kultur des Landes bis heute nachhaltig prägt.
Zum liberalen Lager gehörten in ganz Europa vor allem Männer mit einem Minimum an Grundbesitz und Bildung. Auch wenn sie nach damaligen Kriterien nicht unbedingt reich waren, so besassen sie doch die Mittel, ihren Kindern eine Ausbildung zu finanzieren, die über die obligatorische Schulbildung hinausging. Ein gewisses Mass an privatem Besitz und Bildung definierte das liberale Lager. Das zentrale Anliegen liberal gesinnter Zeitgenossen war die rechtliche Absicherung dieser Errungenschaften durch das Instrument der Verfassung. Diese Verfassungsgarantie galt ihnen als ungleich wichtiger als die Frage nach der Präferenz für das monarchische oder republikanische Prinzip. Die meisten Liberalen lebten damals bekanntlich ohnehin in konstitutionellen Monarchien. Republiken wie Frankreich oder die Schweiz waren im Europa des 19. Jahrhunderts die Ausnahme.
Auch im demokratischen Lager fanden sich zahlreiche Juristen und sogar einige Fabrikanten. Deutlich stärker vertreten waren hier jedoch Ärzte, Pfarrer und Lehrer. Der Hauptunterschied zwischen den beiden politischen Bewegungen, zumal in der Schweiz, betraf jedoch die geographische Herkunft sowie die sozioökonomische Lage ihrer Anhänger. Das Zentrum der demokratischen Bewegung bildete die kleinstädtische und ländliche Schweiz, die im europäischen Vergleich schon stark von industriellen Produktionsweisen geprägt war; unter denen, die sich für demokratische Anliegen interessierten, waren auffallend viele Handwerker, kleine Bauern und Arbeiter. Ihre Anliegen wurden ab den 1860er Jahren von der sogenannten Demokratischen Bewegung vertreten, deren Zentren in der Nordost- und Nordwestschweiz lagen.
Dank dieser Bewegung kam es im letzten Drittel des Jahrhunderts zu einem schrittweisen Umbau des repräsentativen hin zu einem direktdemokratischen System. Zu den wichtigsten Forderungen der Demokraten gehörte die Reform des Schulwesens, die Einführung von Taggeldern für Parlamentarier sowie ein progressives Steuersystem. Die anfangs vorab in den Kantonen verankerte demokratische Bewegung erfasste ab den 1870er Jahren den Bundesstaat. Mit der Bundesverfassungsrevision von 1874 wurde dann auch jenes fakultative Referendum eingeführt, dank dem sich die Schweiz bis zum heutigen Tag vom Rest der europäischen Demokratien unterscheidet.
So ganz nebenbei: Auch wenn es sich nicht abschliessend beweisen lässt, so spricht doch ungemein vieles dafür, dass die Schweiz ohne den Erfolg der demokratischen Bewegung heute ein ganz normales Mitglied der EU wäre. Das dürfte wiederum erklären, weshalb diese Bewegung in Diskussionen des modernen Bundesstaates von einigen Schweizer Historikern so selten ins Spiel gebracht wird. Dagegen hätten sich hochoriginelle Marxisten wie der englische Historiker E.P. Thompson oder der amerikanische Politologe James C. Scott bestimmt gerade für dieses – auch im globalgeschichtlichen Rahmen durchaus seltene – Phänomen interessiert.
Doch zurück ins 19. Jahrhundert. Führer der demokratischen Bewegung, wie der Berner Bauernsohn und spätere Verleger und Bundesrat Jakob Stämpfli, bekämpften insbesondere das, was sie das «System Escher» nannten. Diese Wortschöpfung war keineswegs aus der Luft gegriffen. Das «System Escher» bezog sich auf die vom rastlosen Zürcher Unternehmer, Eisenbahnmagnaten und Politiker Alfred Escher verkörperte, dezidiert wirtschaftsliberale Schweiz. Ihre Machtbasis war die repräsentative, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nach dem Majorzwahlsystem funktionierende Demokratie. Für den begabten Journalisten Stämpfli und seine Mitstreiter war die liberale Verfassung von 1848 dagegen bestenfalls work in progress. Unmittelbar nach ihrer Verabschiedung kommentierte Stämpfli das bahnbrechende Verfassungswerk überwiegend kritisch. Die Bundesverfassung habe, so beklagte er, «grosse Gewalt, finanzielle und politische, in die Hände weniger gelegt, …aber nur, um die Grossen noch grösser zu machen».
Die Gegner ausgedehnter Volksrechte sahen die Dinge selbstverständlich anders. Für einen Liberalen wie den Freisinnigen Emil Welti stellte die demokratische Bewegung ein Ärgernis erster Güte dar. Das von Stämpfli und anderen Demokraten verlangte Gesetzesreferendum kam gemäss Welti einer Ausdünnung der repräsentativen Demokratie – und damit einer Gefahr für den Fortschritt schlechthin – gleich. Kurz nachdem er 1867 Bundesrat geworden war, wandte sich der Aargauer Jurist und Richter deshalb entschieden gegen Zugeständnisse an die Demokraten. Zum von diesen geforderten Gesetzesreferendum meinte er mokierend: «Ich habe das Gefühl, dass der Senn mit dem Code de Commerce und der Stallknecht mit dem Zivilprozess in der Hand, um sich für die Ausübung der Souveränitätsrechte vorzubereiten, eine Karikatur sind.»
Wer steht für den Fortschritt: Stämpfli oder Welti? Diese Frage haben sich Schweizer Historiker nicht nur beim Thema Freiheit immer wieder gestellt, um dann implizit oder explizit Stellung zu beziehen. Auch hier erwies sich die Absicht, ein letztlich moralisches Urteil zu fällen, als wenig erhellend. Wer im 19. Jahrhundert zur politischen Minderheit der gebildeten, mit Grundbesitz ausgestatteten Bürger gehörte, bei dem verursachten Forderungen nach mehr politischer Partizipation verständlicherweise Sorgenfalten. Hätten wir im 19. Jahrhundert die Mittel besessen, in den Eisenbahnbau zu investieren, wir hätten uns mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nach mehr demokratischer Mitbestimmung gesehnt.
Skepsis gegenüber mehr politischer Partizipation war indessen keineswegs auf Eisenbahnkönige wie Escher begrenzt. Die meisten Liberalen waren dezidiert dagegen, Menschen, die weniger besassen und manchmal auch weniger wussten als sie selbst, politisch gleichzustellen. Aus solchen Motiven heraus befürworteten sie einen nach dem Einkommen definierten Wahlzensus. Liberale schritten – so könnte man ohne Übertreibung sagen – mit gönnerhafter Brille durch die Welt. Ihre Grundhaltung war – das schuldeten sie ihren Interessen und ihrem Ansehen – patriarchalisch-bevormundend. Wer nichts als die obligatorische Schuldbildung besass, war nach ihrem Dafürhalten nicht in der Lage, verantwortungsvoll zu handeln. Oder besser gesagt: noch nicht. Mit der Zeit, so besagte das liberale Credo, würden auch die Abkömmlinge der heute noch besitzlosen und ungebildeten Volksschichten zu vollen Mitgliedern der Gesellschaft aufsteigen.
Auf den Punkt gebracht hat diese Weltanschauung der Franzose François Guizot, ein hochgebildeter, scharfsinniger Zeitgenosse (übrigens von Haus aus ein Historiker). Als er von unzufriedenen Angehörigen der französischen Nationalgarden aufgefordert wurde, die Einkommensschwelle zur Bestimmung des Wahlzensus zu senken, reagierte er mit dem berühmten Ausspruch: «Enrichissez vous par le travail et par l’épargne!» Mit diesem Satz verteidigte der erste Minister Frankreichs mit der ihm eigenen Intransigenz ein Glaubensprinzip des Liberalismus seiner Zeit. Für die Juli-Monarchie von Louis-Philippe sollte sich diese Haltung allerdings als verheerend erweisen. Als das Regime 1848 auf den Strassen von Paris attackiert wurde, standen die von Guizot kurz zuvor mit Verachtung gestraften Nationalgardisten nicht bereit, um ihn und die Seinen vor dem Umsturz zu bewahren. Das war der Hauptgrund für den Erfolg der Revolution, die Frankreich im Februar 1848 in eine moderate Republik verwandelte – eine Republik, die bereits im Juni desselben Jahres, nachdem radikale Pariser Handwerker und Arbeiter die absolute Gleichheit gefordert hatten, einem napoleonischen Putsch zum Opfer fiel.
Auch dieses zwischenzeitliche Resultat des französischen Freiheitskampfs sollte man nicht moralisch deuten. Weder die Liberalen um Guizot und Louis-Philippe noch ihre Antipoden, die radikalen Demokraten – also weder die Apologeten der negativen noch die Verfechter der positiven Freiheit –, traf irgendeine Schuld an dem, was sich schon bald auf den Strassen von Paris, Lyon oder Marseilles abspielen sollte. Denn beide, so könnte man sagen, handelten ja lediglich nach ihrem besten Wissen und Gewissen.
Fanatiker der Gegenwart
Das Problem für Frankreich bestand und besteht darin, dass die Lust auf positive Freiheit, die sich in der Französischen Revolution zwischen 1789 und 1793 erstmals mit grosser Gewalt entlud, nie eine institutionelle Form erhielt, die sie dadurch zähmte, dass sie sie ein für alle Mal als legitim anerkannte. Das erklärt nicht nur, weshalb Frankreich – der Aufstand der Kommunarden nach der Niederlage gegen das Deutsche Reich im Krieg von 1870/71 mitgezählt – drei Revolutionen erlebte und warum sich das Land erst mit der von einer relativ kleinen Elite dominierten 3. Republik verfassungsmässig und auch sonst gesehen einigermassen stabilisierte.
Es erklärt auch, weshalb in Frankreich, neben dem Elitismus der Grandes Écoles und der rigiden Zentralisierung des öffentlichen Lebens, nach wie vor ein Gleichheitsdogma existiert, das, wenn es das Land nicht gerade durch Streiks und blockierte Autobahnen lahmlegt, die Nation gegen Reformen immunisiert. In Frankreich bedient eine mit revolutionärem Tugenddiskurs imprägnierte Vergangenheit bis heute eine Utopie der Gleichheit, die der Freiheit in der Praxis kaum dienlich ist. Wo es zwischen der Freiheit der Strasse und jener, die die Staatsmaschinerie definiert und kontrolliert, keine erprobten Alternativen gibt, verkommt Freiheit zwangsläufig zum Slogan.
Das andere Land, das sich im 19. Jahrhundert mit Nachdruck als moderne Republik konstituierte, ging diesbezüglich einen anderen Weg. In der Schweiz kam es, was das Verhältnis von positiver und negativer Freiheit betrifft, zu einer spannungsgeladenen Fusion, bei der sich die Pole der beteiligten Bewegungen je etwas abschleiften, ohne abzustumpfen. In der Eidgenossenschaft entlud sich keine grosse jakobinische Revolution, die die Gesellschaft derart spaltete, dass ein starker Zentralstaat ins entstehende Vakuum vorstossen konnte, um langfristig als einziger valabler Garant politischer Stabilität zu agieren. In den Kantonen kam es seit dem späten 18. Jahrhundert zwar zu einer Vielzahl von Aufständen und Konflikten von mitunter grosser Heftigkeit. Nach dem Bürgerkrieg von 1847 entwickelte sich aber innert weniger Jahrzehnte eine institutionelle politische Form als Ausdruck der Anerkennung sowohl liberaler wie partizipatorischer Freiheitsansprüche. Die Forderung nach demokratischer Mitbestimmung liess sich in der Schweiz auch dank im kollektiven Bewusstsein verankerter historischer Traditionen und kultureller Selbstbeschreibungen nicht mehr bändigen.
Das begünstigte die Entwicklung von etwas, was ich gerade angesichts der heutigen, von quasireligiösen Fortschrittsprojekten geprägten Zeit für die Kultur der Freiheit als noch wichtiger erachte als die Demokratie: In der Schweiz hatten – aufgrund der festgestellten, eigenartigen Verquickung von positiver und negativer Freiheit – geschichtsphilosophisch inspirierte Fortschrittsvisionen, die mit dem Anspruch der Alternativlosigkeit auftreten – ob sie nun «der europäische Weg» oder «die Globalisierung» heissen –, immer schon einen schweren Stand.
Gleichzeitig haben solche Entwürfe in einer partizipatorisch geprägten politischen Kultur, wie sie die Schweiz kennt, wenig Chancen auf Verwirklichung. In der Eidgenossenschaft, so könnte man mit Reinhard Koselleck sagen, wird der auf die entfernte Zukunft gerichtete Erwartungshorizont immer wieder an den Erfahrungsraum der Gegenwart (Koselleck) zurückgebunden. Darin vor allem liegt für mich bis auf weiteres das Geheimnis der Schweizer Freiheit. Die Schweizer sind Fanatiker der Gegenwart. Und sie bleiben es selbst dann, wenn sie sich anschicken, ihre Zukunft zu gestalten.