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Die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Reform

Die neuen Regeln: für Zeitungsleser eine Tortur

Bevor die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» am 1. August 2000 zur alten Rechtschreibung zurückkehrte, hatte sie zwölf Monate lang die Folgen der Reform in der Praxis gekostet. Die Summe dieser Erfahrungen: Die neuen amtlichen Regeln waren unzureichend und zum Teil widersprüchlich, ein Flickwerk, die Vielzahl sinnentstellender Groß- und Getrenntschreibungen machte die Lektüre der Zeitung zur Tortur. Deshalb war die Entscheidung innerhalb der Redaktion unumstritten. Und auch die Reaktion der Leser war eindeutig: In Hunderten von Leserbriefen wurden wir beglückwünscht.

Drei Jahre später sieht die Zeitung keinerlei Anlaß, ihre Entscheidung zu bereuen. Die Situation ist unverändert: Im siebten Jahr nach der Einführung der neuen amtlichen Regeln in den deutschen Schulen ist die Lage chaotisch, wenn nicht gar anarchisch. Aber es ist keine fröhliche, sondern eine trübsinnige Anarchie am Werk. Viele Lehrer sehen sich außerstande, die ständigen Korrekturen am Regelwerk im Unterricht zu vermitteln. Die Schüler sind verunsichert. Das Nebeneinander unterschiedlicher Schreibweisen verstört das Sprachempfinden. Die Werke der größten Dichter deutscher Sprache und der wichtigsten zeitgenössischen Autoren werden in einer anderen Rechtschreibung gedruckt, als sie an den Schulen gelehrt wird. Das kann nicht ohne negative Folgen bleiben.

Und die allgemeine Verunsicherung wächst noch, wenn man hören muß, daß sich auch jene von der Reform distanzieren, die sie zu verantworten haben. Bayerns Wissenschaftsminister Hans Zehetmair hat aus Anlaß des fünften Jahrestags der Reform erklärt, die Politik hätte sich des heiklen Themas besser nicht bemächtigen sollen. Aber immerhin, so Zehetmair, habe die Reform auch eine erfreulich und für den Politiker unverhoffte Folge gezeitigt: Es würden nun intensive Auseinandersetzungen um die deutsche Sprache geführt.

Vielen erscheint diese Äußerung als zynisch. Ein Leser zog einen drastischen Vergleich und fragte, ob Zehetmair auch einen Säureanschlag auf ein Gemälde von Rubens begrüßen würde, wenn dadurch das Werk dieses großen Malers mehr öffentliche Beachtung fände. So berechtigt dieser Einwand ist, so wenig darf man verkennen, daß Zehetmair sich im Gegensatz zu vielen anderen des entstandenen Dilemmas bewußt ist. Wie aber wäre es zu lösen?

Die Rückkehr der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zur bewährten Orthographie hat leider kaum Nachahmer gefunden. Obwohl wir viel Zustimmung von Kollegen erfahren haben, konnten sich die Nachrichtenagenturen und die wichtigen Blätter des Landes bedauerlicherweise nicht entschließen, unserer Entscheidung zu folgen. Behutsame Reformen der Reform drohen das Lager der Reformgegner zu entzweien. Daß der Kompromiß nötig ist, weil die Befürworter der Reform ihr Gesicht wahren müssen, sagt uns die pragmatische Vernunft. Letztlich ist es ein rein politisches Argument. Die Politik aber ist auf diesem Feld weder zuständig noch kompetent. Solange sie die Rechtschreibung verantwortet, wird das Problem nicht gelöst, sondern prolongiert.

Hubert Spiegel, geboren 1962 in Essen, schreibt seit 1988 für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Seit 2001 ist er ihr Literaturchef. Zuletzt veröffentlichte er gemeinsam mit Roland Spahr und Oliver Vogel den Band «Lieber Lord Chandos. Antworten auf einen Brief», S. Fischer, Frankfurt 2002. (literatur@faz.de)

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