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Die Fixierung auf Identität ist antipolitisch
Matt Johnson, photographed by Sarah Amstad.

Die Fixierung auf Identität ist antipolitisch

Der Wunsch nach Gleichheit hat viele Linke dazu verleitet, sich denselben giftigen Tribalismus zu eigen zu machen, den sie auf der Rechten verurteilen. Der Kampf für Gerechtigkeit muss auf ­liberalen Werten beruhen, nicht auf der Einteilung von Menschen in starre Identitätsgruppen.

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Was ist Identitätspolitik? Trotz des endlosen Stroms von Büchern und Artikeln, die in den letzten Jahren zu diesem Thema veröffentlicht wurden, sind wir einer gemeinsamen Definition nicht nähergekommen. Einige sehen in der Identitätspolitik eine illiberale und stammesbezogene Verzerrung der Politik, die eine spaltende Fixierung auf unveränderliche Merkmale wie Hautfarbe und Sexualität über ein gemeinsames Engagement für Objektivität und das Gemeinwohl stellt. Andere sind der Meinung, dass die politische Mobilisierung auf der Grundlage der Identität eine wichtige Form der Solidarität und des bürgerlichen Engagements angesichts historischer Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten darstelle.

Diese unvereinbaren Vorstellungen von Identitätspolitik erschweren eine präzise Diskussion des Themas, weshalb einige Kommentatoren versucht haben, eine neutralere und umfassendere Definition zu finden. Der amerikanische Journalist Ezra Klein betont die unzähligen Wege, auf denen die persönliche Identität (oft unbewusst) in unsere Überzeugungen einfliesst, was ihn zu dem Schluss führt, dass «praktisch alle Politik Identitätspolitik ist».

Klein fährt jedoch fort zu argumentieren, dass die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 eine Folge der wiederauflebenden «weissen Identitätspolitik: gegen Einwanderer, gegen Muslime…» war. Meint Klein wirklich, dass diese Art von Politik in einen Topf geworfen werden sollte mit, sagen wir, Forderungen von Wählern aus Vorstädten nach Massnahmen zur Gesundheitsversorgung? Die Vorstellung, dass alle Politik Identitätspolitik sei, verschleiert mehr als sie erhellt, und da Debatten über Rasse, Geschlecht und Sexualität politisch immer präsenter werden, ist es wichtig, diese Themen direkt zu diskutieren.

«Die Vorstellung, dass alle Politik Identitäts­politik sei, verschleiert mehr als sie erhellt.»

Die Debatte einrahmen

Einige Autoren und Intellektuelle erkennen die Nuancen der Identitätspolitik an, ohne sie zu verwerfen. In seinem 2018 erschienenen Buch «Identity» beschreibt Francis Fukuyama Identitätspolitik als eine Möglichkeit für Bürger, «öffentliche Anerkennung ihres Wertes zu fordern», und als eine «natürliche und unvermeidliche Reaktion auf Ungerechtigkeit». Aber Fukuyama behauptet auch, dass Identitätspolitik «zutiefst problematisch ist, weil sie zu einem Verständnis von Identität zurückkehrt, das auf festen Merkmalen wie Rasse, ethnischer Zugehörigkeit und Religion beruht, die zuvor unter grossem Aufwand überwunden worden waren».

In seinem kürzlich erschienenen Buch «The Identity Trap» hebt der Politikwissenschafter Yascha Mounk das Spannungsverhältnis zwischen dem legitimen Gram von marginalisierten Gruppen und den negativen Folgen dessen hervor, was er die «Identitätssynthese» nennt – eine Verliebtheit in Unterdrückung und Opferrolle auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung. Diese Synthese kann ihre intellektuellen Wurzeln in akademischen Ideen wie der Postmoderne, dem Postkolonialismus und der kritischen Rassentheorie finden – Ideen, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten ihren Weg von den Universitäten in die breite Kultur gefunden haben.

Es ist möglich, Identitätspolitik zu kritisieren und gleichzeitig für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit auf der Grundlage universeller Prinzipien zu kämpfen. Ersteres liegt im Trend, da es als radikalerer Weg angesehen wird, Strukturen der Unterdrückung und Ausgrenzung abzubauen. Letzteres ist jedoch der einzige Weg, eine breit angelegte soziale und politische Bewegung aufzubauen, die die Menschenrechte für alle verteidigen wird.

Feindseligkeit gegenüber universellen Werten

Diejenigen, die ihre Politik und Ethik auf Identität aufgebaut haben, sind misstrauisch gegenüber universellen liberalen Werten wie Meinungsfreiheit, Humanismus und individuellen Rechten. Wann immer diese Werte angeblich mit der Notwendigkeit in Konflikt geraten, eine marginalisierte Gruppe zu schützen, müssen sie beiseitegeschoben werden.

Aus diesem Grund fordert Robin DiAngelo, Autorin von «White Fragility» und «Nice Racism», die Leser auf, «westliche Ideologien» wie «Individualismus und Objektivität» aufzugeben. Deshalb wird die Vorstellung, dass unsere Spezies eines Tages die Spaltung nach Rassen überwinden kann, von vielen unserer prominentesten öffentlichen Intellektuellen verschmäht. Das ist der Grund, warum Politiker, die dafür plädieren, dass die Wähler ihre Kandidaten auf der Grundlage von Ideen und Prinzipien und nicht auf der Grundlage ihrer Identität wählen sollten, Empörung und selbstgerechte Verurteilung hervorrufen.

Fukuyama und Mounk erkennen beide an, dass Identitätspolitik – insbesondere im linken Lager, das manchmal als «Wokeism» oder «soziale Gerechtigkeit» bezeichnet wird – oft aus einem echten Engagement für Gleichheit erwächst. Dies macht es jedoch schwieriger, die illiberalen Tendenzen in der heutigen Bewegung für soziale Gerechtigkeit zu bekämpfen. Viele derjenigen, die den giftigen Tribalismus alter Formen von Identitätspolitik verurteilen (wie z.B. den ethnischen Essentialismus, wenn es um die Staatsbürgerschaft geht), halten ähnliche Formen von Vorurteilen für gerecht und notwendig, solange sie sich gegen die richtige rassische Gruppe richten. Reaktionäre und sogar rassistische Ideen haben in weiten Teilen der Linken inzwischen den Anschein moralischer Überlegenheit erlangt.

Die Verfechter linker Identitätspolitik profitieren von dem moralischen Ansehen historischer Kampagnen für soziale Gerechtigkeit wie der Bürgerrechtsbewegung. In einem Land wie den Vereinigten Staaten mit einer grausamen Geschichte der rassistischen Unterdrückung fällt es vielen fortschrittlich gesinnten Menschen leicht, mit dem Wunsch nach rassischer Solidarität und sogar Separatismus zu sympathisieren. Doch Mounk zeigt, dass viele der intellektuellen Architekten der modernen Identitätspolitik (wie der Anwalt und Akademiker Derrick Bell) ausdrücklich gegen den Universalismus der Bürgerrechtsbewegung waren.

Rassengetrennte Schüler

Die Rassentrennung war einst ein Übel, das Progressive bekämpften, aber im Jahr 2017 schämte sich die «New York Times» nicht mehr, Essays mit Titeln wie diesem zu veröffentlichen: «Können meine Kinder mit weissen Menschen befreundet sein?» Ekow N. Yankah, Juraprofessor an der Universität Michigan, beantwortete die in der Überschrift gestellte Frage folgendermassen: «Im Gegensatz zu unseren schwammigen nationalen Hoffnungen werde ich meinen Jungs beibringen, tiefe Zweifel daran zu haben, dass eine Freundschaft mit Weissen möglich ist.»

Es ist beunruhigend, dass ein Juraprofessor an einer grossen amerikanischen Universität es für akzeptabel hält, seinen Kindern zu sagen, dass sie sich von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe distanzieren sollen, aber es ist noch schlimmer, dass diese Haltung ihren Weg in die Klassenzimmer der Grundschulen findet. Mounk zeigt auf, wie sich das krude und reduktive Identitätsdenken in bestimmten Bereichen des Bildungssystems ausgebreitet hat. Er schreibt, dass einige Schulen die Schüler «bereits in der ersten Klasse in rassisch getrennte Gruppen aufspalten» (so etwas ist vor allem in privaten Eliteschulen in den USA weit verbreitet).

Wie auch immer Sie dieses Phänomen nennen wollen – Identitätspolitik, «Wokeism» usw. –, es ist eine Weltanschauung, die nicht einfach als eine weitere Form der Politik normalisiert werden sollte.

Regressiv, nicht progressiv

In bezug auf den sozioökonomischen Status, die Bildung, die Inhaftierung und viele andere Bereiche bestehen nach wie vor grosse Unterschiede zwischen den Rassen, und die Bemühungen zur Überwindung dieser Unterschiede müssen sich auf universelle Werte wie Gleichheit, individuelle Rechte und soziale Solidarität stützen. Genauso wie die Organisatoren der Bürgerrechtsbewegung wie Martin Luther King Jr. und Bayard Rustin versuchten, ein grosses und inklusives Zelt für ihre Bewegung zu errichten, sollten Befürworter der Gleichstellung der Rassen heute hässliche und illiberale Ideen über Segregation und die Permanenz identitärer Konflikte fallenlassen.

Kampagnen für die Gleichstellung der Rassen (wie auch für die Gleichstellung anderer marginalisierter Gruppen) erfordern keine Identitätspolitik. Diejenigen, die bestimmte Stimmen zum Schweigen bringen und ausgrenzen wollen, weil sie die falschen demografischen Kriterien erfüllen – oder die Kinder mit Erzählungen über unausweichliche und ewige Rassenkonflikte indoktrinieren –, untergraben nur ihre eigene Bewegung. Das ist der Unterschied zwischen Politik und Identitätspolitik: Die eine versucht, so viel Unterstützung und Solidarität wie möglich aufzubauen, während die andere die Menschen spaltet und sie auf der Grundlage von dummen und willkürlichen Stammesmerkmalen wie der Hautfarbe in immer engere Gemeinschaften einteilt. Es ist nicht schwer zu erkennen, welcher dieser Ansätze wirklich fortschrittlich ist und welcher zwangsläufig regressiv ist.

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