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Die fetten Jahre sind vorbei

Der deutsche Sozialstaat ist nicht von hier, nicht von jetzt – und nicht für immer.

O-Ton Deutschland: «Entweder wir halbieren die Renten oder wir verdoppeln die Beiträge. Oder aber wir haben die Spanische Grippe. Die Ruhe an der sozialen Front ist erkauft. Die Transfersysteme belasten uns. Wenn wir keine Lösung finden, wird die Wirklichkeit in ein paar Jahren eine Lösung finden.» Ob der SPD-Mann Thilo Sarrazin in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» oder zuvor der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle in der «Welt»: dem Boten wird die Botschaft nicht gedankt. Im Gegenteil, er wird im Chor aller Billig- und Gerechtdenkenden abgestraft, weil er die Konventionen der Political Correctness verletzt.

Dass der deutsche Sozialstaat über die Verhältnisse lebt und die freiheitliche Demokratie in Gefahr bringt, auf solcherlei kalte Prognosen braucht man dann nicht mehr einzutreten. Dabei reicht schon ein Blick auf die sich dramatisch verändernden Gleichungen der Bevölkerungsstatistik, um zu begreifen, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Immer weniger Junge sollen immer mehr Alte und Hilfsbedürftige durchtragen.

Sozialstaat und Demokratie bilden mittlerweile eine Art Symbiose, die eine wahrhaft unheimliche Dynamik entfaltet: immer mehr Umverteilung aufgrund des Mehrheitsprinzips. Dass aber der Sozialstaat zum Wesenskern der Demokratie gehöre, wie allenthalben von seinen Verteidigern gepredigt wird, ist nur eine Halbwahrheit. Der andere Teil der Wahrheit lautet, dass der Sozialstaat in Deutschland – anders als in der Schweiz – älteren Datums ist als die Demokratie.

Als Bismarck in den 1880er Jahren die zwangsgenossenschaftliche Sozialversicherung einführte, geschah dies nicht nur, um den Obrigkeitsstaat nach innen zu festigen, sondern auch zum Zweck, den Sozialisten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ähnliches wiederholte sich um die Jahrhundertwende beim Arbeitsschutz, mit dem das Kaiserreich weit vor allen anderen lag. Im Ersten Weltkrieg ging die Oberste Heeresleitung mit den Gewerkschaften den «Vaterländisches Hilfsdienstgesetz» genannten Kompromiss ein. Dem verdanken die Deutschen bis heute Betriebsräte und die Idee betrieblicher Mitbestimmung. Am Ende des Krieges wurde die Revolution, die die Kommunisten à la Lenin wollten, zwischen Armeeführung, Gewerkschaften und Mehrheitssozialdemokraten in eine Lohnbewegung übergeführt, die ihrerseits zur Inflation beitrug.

Es war der «Bürgerblock» der Weimarer Republik, der 1927 das Gesetz über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung ins Leben rief, die heutige Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg. Das NS-Regime warb, noch bevor 1937/38 dank Rüstung, Schuldenpolitik und öffentlichen Bauten Vollbeschäftigung erreicht war, mit Spatenstichen, dem arbeitsfreien 1. Mai, Ehestandsdarlehen, Erbhofgesetz und den vielerlei Aktivitäten der Deutschen Arbeitsfront um Gefühl und Verstand der Menschen.

Der sprunghafte Anstieg der Geburtenzahl ab Herbst 1933 zeigte schon die ersten Erfolge der dröhnenden Propaganda, lange bevor die Depression mit Hilfe von Rüstung und Schuldenmachen überwunden war. Das Regime wusste Verführung und Gewalt zu verbinden. Kein Argument für den Führerstaat war stärker als die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit. Dafür war jeder Teufelspakt recht.

Nachkriegsdeutschland hatte ein Leitmotiv, das alles andere übertönte. Der junge Historiker Eckart Conze überschrieb jüngst eine grosse Gesamtdarstellung der Bundesrepublik mit «Die Suche nach Sicherheit». Das galt nach aussen an den Fronten des Kalten Krieges. Es galt nach innen entlang den Irrungen und Wirrungen der frühen Jahre, und es war vor allem der Ausbau der Sozialpolitik, der die Leute für die ungewohnte Republik gewinnen sollte. Die Flüchtlinge und Vertriebenen und die Ausgebombten erhielten den Lastenausgleich, die Alten die dynamische Rentenversicherung, die Arbeiter steigende Löhne, das Volk «Wohlstand für alle».

Wenn man vom Wirtschaftswunder der 1950er Jahre spricht, so vergisst man leicht, dass harte Arbeit, lohnpolitische Zurückhaltung und insgesamt massvolle Sozialpolitik zusammenwirkten – dazu ein hoher Dollar, niedrige Ölpreise, offene Märkte. Auch die Demographie war freundlich gesinnt: es kamen immer mehr Kinder zur Welt, aus dem Osten kamen tüchtige Eliten, der «Generationenvertrag» zwischen Alt und Jung schien für alle Ewigkeit gegründet. Die deutsche Sozialpolitik ist Abbild der fetten Jahre; die mageren Jahre wurden durch wachsende Staatsschulden finanziert.

Der Umbruch kam in den frühen 1970er Jahren. Nach dem Yom-Kippur-Krieg 1973 schoss der Ölpreis in die Höhe; das Gleiche wiederholte sich 1979 nach der iranischen Revolution. «Tendenzwende» war angesagt, Regierungen im Westen stürzten, grüner Protest wurde parteifähig; Krisenmanagement erforderte die Bereitschaft zum Schuldenmachen, und der verblichene Ökonom Lord Keynes lieferte Rechtfertigung und gutes Gewissen. Das alles hätte sich noch stabilisieren lassen, wenn nicht gleichzeitig die Globalisierung von Zeit und Raum alle industriellen und sozialen Gleichungen der europäischen Wohlstandsdemokratien über den Haufen geworfen hätte, während die junge Generation entweder gar nicht mehr geboren wurde oder aber begann, sich davonzumachen. Damit entzogen sich die Jungen der Pflicht, ihren Teil des Generationenvertrags zu erfüllen. Die Älteren und Alten bleiben immer mehr unter sich – und die Brotverdiener und Rentenzahler werden weniger. Der Sozialstaat steht in der Stunde der Wahrheit – und so auch die Demokratie.

Der deutsche Sozialstaat ist nicht von hier und nicht von jetzt. Er ist älter als die deutsche Demokratie und wird sie, wenn sie eines Tages zahlungsunfähig und damit konsensunfähig wird, auch überleben, gemeinsam mit dem Beamten- und Steuerstaat. Dieser deutsche Staatssozialismus stammt aus den Zeiten, da Friedrich Nietzsche den Staat «das kälteste aller Ungeheuer» nannte und damit alle Zweifel abtat, der Sozialstaat verdanke seine Existenz der Menschenfreundlichkeit, nicht aber der Staatsräson und dem Überlebensinstinkt der Machteliten.

Der Sozialstaat, so seltsam es auch klingen mag, kam von rechts. Dass die politische Linke ihn zu ihrer eigenen Sache erklärte und seitdem keine seiner Errungenschaften jemals zum Verzicht angeboten hat, macht die Lage nicht einfacher, sondern mahnt zur Vorsicht. Denn liberale Demokratie und Daseinsvorsorgestaat – um Ernst Forsthoffs Begriff aus den hungrigen 1920er Jahren aufzunehmen – haben von jeher eine schwierige Beziehung. Eine Zeitlang schreiten sie frohgemut Hand in Hand, einer den andern bestärkend. Aber das Gesetz, nach dem sie angetreten sind, zwingt die Sozialpolitiker, niemals satt zu sein, sondern immer mehr zu fordern im Namen von Fortschritt, Gerechtigkeit und – wenn es knapper wird – Solidarität.

Das wäre vielleicht noch zu akkommodieren, wenn nicht auch Gleichheit gefordert würde, offenlassend, ob Gleichheit der Chancen und neuer Wettkampf oder Gleichheit der Lebenslage gemeint ist. Letztere hätte dem legendären Prokrustes gut gefallen, der seine Gäste, waren sie zu lang, verkürzte und, waren sie zu kurz, streckte.

Der Herrschaftsanspruch des fortgeschrittenen Sozialstaats ist prinzipiell unbegrenzt, da hilft keine Reichshaushaltsordnung mit ihrer altmodischen Formel, es dürften die neuen Schulden nicht die Investitionen übersteigen, oder die jüngst vom Deutschen Bundestag beschlossene Schuldenbremse. Die allerdings funktioniert nach dem Gebet, das dem heiligen Augustinus zugeschrieben wird: «O Herr, gib mir Keuschheit – aber nicht jetzt!»

Der Modus der frühen Jahre ist nicht verlängerbar. Er war gegründet auf Wachstum des Marktes, der Menschenzahl, der Einkommen und der Steuereinnahmen – während die Bundesbank über die Geldwertstabilität wachte. Es gab warnende Stimmen – Ludwig Erhard und Robert Pferdmenges –, als Adenauer die dynamische Rentenformel einführte, und es gab gute Gründe, diese Stimmen zu überhören. Nicht nur wahltaktische, sondern auch staatspolitisch wertvolle.

Dass der Sozialstaat irgendwann den Punkt erreicht, wo Segen zum Fluch wird, steckte man weg. Der Machtinstinkt der politischen Eliten nahm auch eine allgemeine Infantilisierung durch «Vater Staat» in Kauf: das gemütvolle Wort versteckt den harten Kern. Aus Staatsbürgern werden unmerklich Sozialuntertanen und Wohlfahrtskonsumenten.

Um auf Dauer zu überleben, braucht die Demokratie indessen Tugenden und Leistungen, die sie selbst nicht hervorbringen, wohl aber ersticken kann. Heute steht sie im globalen Wettbewerb der Löhne, der Produktivität, der Standorte, der Systeme – und bekommt keinen Bonus. Eine Weile lassen sich die Schwächen durch Nettokreditaufnahmen ausgleichen. Der alte Generationenvertrag ist durch den Appetit der Älteren und das Ausbleiben der Jüngeren längst aus den Fugen. Neue, stabilere Gleichungen müssen der Alterung der Gesellschaft, der Globalisierung von Zeit und Raum, den neuen Völkerwanderungen Rechnung tragen.

Auf die Dauer, wenn die freiheitliche Demokratie überleben soll, braucht es einen neuen Sozialvertrag. Einsicht und Kraft dazu indes sind besonders knappe Güter.

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