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Die feine englische Avantgarde
Moritz Rudolph, fotografiert von Maike Salazar Kämpf.

Die feine englische Avantgarde

Wer in Boris Johnson nur eine verwuschelte Kopie von Donald Trump sieht, könnte eine Überraschung erleben. Grossbritannien erfindet sich gerade wieder neu.

 

Der Philosoph Damiano Cantone hat Italien einmal als Politlabor für die Welt1 bezeichnet: Republik, Theokratie, Faschismus, Berlusconismus und digital-direkte Demokratie wurden allesamt zuerst dort erprobt, bevor sie den Rest der Welt eroberten. Für das Institutionengerüst mag das zutreffen, geht es aber um dessen politische Nutzung, dann fällt in den vergangenen Jahrzehnten ein anderes Avantgardeland ins Auge: Keynesianismus, der die nachfrageorientierten Nachkriegsjahre formte, Thatcherismus, der damit brach, und New Labour, das den Bruch in die politische Linke hineintrug – all das kam aus Grossbritannien und wurde kurz darauf vom Rest des Westens übernommen: Das Beveridge-Modell des Sozialstaats, Reaganomics oder Schröders Neue Mitte haben sich ebenso an britischen Vorbildern orientiert wie das Bretton-Woods-Regime und die neoliberale Globalisierung danach.

Laboratorium für politische Exportschlager

Damit ist Grossbritannien der erfolgreichste Erfinder politökonomischer Arrangements in den Ländern und zwischen ihnen. Die Globalisierung, die wir heute haben, trägt britische Züge. Dabei sah es zunächst gar nicht danach aus, denn die Fähigkeit zur inneren Durchdringung der übrigen Länder fällt zusammen mit dem britischen Abstieg von der Weltspitze und ist vielleicht nur der Ersatz, um doch noch fortwirken zu können als – neben den politisch-revolutionären Gründungsmächten Frankreich und den USA – ökonomische Initialmacht der Moderne, die den Kapitalismus zwar nicht erfunden, aber immerhin zur (Massen-)Markttauglichkeit gebracht hat und damit zum ersten Hegemon der Moderne wurde.

Nachdem Grossbritannien um die Mitte des 20. Jahrhunderts dann nicht mehr als äusserer Organisator des Weltsystems hatte auftreten können, weil sich die Mächtekonstellation zu seinen Ungunsten verschoben hatte, wurde es zur inneren Avantgarde des Westens, die den wirtschaftspolitischen Stil vorwegnahm. Dies gelang nicht durch Druck oder Überredung (denn man war ja keine grosse Macht mehr) und auch nicht durch abenteuerliche Weltordnungsentwürfe (das ist eine deutsche Paradedisziplin, wo der alte Reichsgedanke nachwirkt – selbst im Moderneliberalismus von Kant bis Habermas), sondern durch sorgfältige Gestaltung des eigenen Landes. Ähnlich wie in der Popkultur wurde Grossbritannien damit auch in der Politik zur Stilikone und fand weltweit Nachahmer. Als Meister des politischen Stils ist es ihm stets gelungen, sich an den Weltgeist anzuschmiegen, auf den man keinen Zugriff hat (dies dennoch zu versuchen, ist eine weitere deutsche Verlockung). Politischer Stil ist die Kunst, die eigene Zeit zu erfassen und ihr eine minimale Lenkbarkeit abzutrotzen, so dass der Souveränitätsgedanke zu seinem Recht kommt. Boris Johnsons berühmter Brexit-Slogan «Take back control» entspringt dieser Stilidee.

«Johnsons grosse Besonderheit könnte darin bestehen, dass er eine

wirtschaftspolitische Neuerung (Sozialkonservatismus) mit einem

institutionellen Formexperiment verbindet (Brexit).»

Johnsonismus

Mit ihm rollt bereits die nächste Welle heran, die dem Westen eine andere Richtung vorgeben könnte. Noch am Wahlabend versprach Johnson, seine neuen Tory-Wähler aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu nicht zu vergessen, was bedeuten dürfte, den National Health Service zu stärken, in die Infrastruktur jenseits von London, vor allem im Norden, zu investieren und den Mindestlohn anzuheben. Da er aber zugleich die Zuwanderung steuern und den Finanzplatz London nicht anrühren will, gerät sein Bruch mit der Austeritätsidee in liberal-konservative Zonen und wird zu einer zusammengeflickten «Tory-Sozialdemokratie»2, mit der er Labour und die Rechtspopulisten bezwingen konnte. Johnson scheint also jenes Mittel gefunden zu haben, nach dem die konservativen Parteien des Westens so händeringend suchen, und es wäre ja keine Überraschung, wenn sie ihr Vorbild erneut in Grossbritannien fänden.

Eine solche Programmdeutung ist kein Begriffshokuspokus von aussen, Johnson selbst legt sie nahe, wenn er sich in seinen Reden auf den «One-Nation-Konservatismus» (eine Idee Benjamin Disraelis) beruft. Den will er – er ist schliesslich kein Reaktionär – nicht mit der Detailverliebtheit eines Restaurators wiederherstellen, sondern etwas Eigenes damit anfangen. Die Geschichte ist ja inzwischen weitergegangen und der passende politische Stil einer Zeit, für den man in Grossbritannien ein besonders feines Gespür hat, verlangt die Orientierung am Material, das nun einmal da ist und sich ändert, ohne dass man es ändern könnte.

Johnsons Tory-Schwenk entspringt der Einsicht der Arbeiter und Angestellten, dass die Globalisierung der letzten Jahrzehnte Verheerungen hinterlassen hat, die nun durch den Schutz des Staates wieder aufgefangen werden müssen. Da Europa dieser Staat nicht ist, sondern in ihren Augen sogar dessen Gegenteil, konzentrieren sie sich wieder auf den britischen Rumpfstaat, um diesen zu stärken. Das hat ihnen der Johnsonismus versprochen. Schon Theresa May hatte im ersten Brexit-Wahlkampf nach links geblinkt, aber nicht genug. Überdies fehlte ihr die Chuzpe des Politdandys Johnson, der einfach tat, was er für richtig hielt in Anbetracht der Materialverschiebung.

Formexperiment

Johnsons grosse Besonderheit könnte darin bestehen, dass er eine wirtschaftspolitische Neuerung (Sozialkonservatismus) mit einem institutionellen Formexperiment verbindet (Brexit) und damit als Inhalts- und Forminnovator auftritt, womit er Thatcher und Blair noch einmal übertrifft. Der Brexit ist aber kein Versuch, eine neue Herrschaftsform zu erproben (das bleibt weiterhin den Italienern überlassen), sondern die Suche nach der angemessenen Form dieser Form, also ein Ortsexperiment, womit er an eine verschüttet gegangene britische Tradition anknüpft. Denn als ehemalige Vormacht hat London einst Europa und die Welt organisiert, also die Orte der Politik festgelegt – zum Schluss aber nur noch als Schauplatz des Zerfalls. Die antikoloniale Revolte ist eine britische Erfindung, wenn auch nicht aus dem Zentrum, sondern aus der Peripherie gegen das Zentrum – von US-Amerika 1776, der ersten Verwandlung eines kolonialen Objekts in ein Subjekt internationaler Politik, bis Indien, das 1947 den Anfang der letzten grossen Unabhängigkeitswelle machte.

Jetzt holt Grossbritannien diese politische Zerfalls- und Neuzusammensetzungskunst zurück ins Zentrum und wendet sie gegen Brüssel. Dessen Souveränitätsanmassungen3 haben die Briten ähnlich satt wie Heinrich VIII. die Belehrungen des Papstes, weshalb er sich 1534 von Rom lossagte und seine eigene Kirche gründete. Der Brexit wiederholt nun Heinrichs Sezession vom Glaubenszentrum, auf die damals eine höchst erfolgreiche Phase der Expansion folgte, nachdem Elisabeth I. die Konturen des Empire abgesteckt hatte. Ins zweite elisabethanische Zeitalter fällt dagegen – an seinen jeweiligen Enden – die Abwicklung dieses Empires und die Abspaltung vom neuen Papsttum, das seinen Wahrheitsort in Brüssel hat (und versteckt in Berlin-Paris, vor allem aber in Berlin).

«Der Brexit ist gerade keine Einigelung, sondern eine Straffung,

um in der Welt auf andere Art mitmischen zu können.»

Neuschöpfung

Wenn es nach Johnson geht, könnte auch dieser Sezession bald eine Expansion folgen. Denn er verneint nicht nur die Europäische Union, er bejaht auch ein britisches Alternativmodell, das ans Commonwealth anschliessen soll. Er hat Grossbritannien nicht aus dem Grossraum herausgelöst, um sich fröhlich einzumauern, sondern um zur vollendeten Netzwerkmacht zu werden, damit es wieder jene Rolle spielen kann, die sich Benjamin Disraeli für sein Land ausgedacht hatte. Der empfahl seiner Königin Victoria nämlich, nach Delhi umzuziehen. «Dort wird sie ein ungeheures, fertiges Reich finden, eine erstklassige Armee und grosse Einkünfte.» Er machte sie dann tatsächlich zur Kaiserin von Indien – und England damit zur asiatischen Macht, die sich für Europa nur noch am Rande interessierte.

Die Rede von der «Singapurisierung»4 Grossbritanniens trifft also vielleicht auf andere Weise zu, als es eine zornige «Zeit»-Autorin meinte: Nicht zum marktradikalen Eiland könnte sich Grossbritannien entwickeln (Johnsons Sozialkonservatismus schiebt hier einen kleinen Riegel vor), sondern zum übereuropäischen Knotenpunkt der Weltwirtschaft, in dem sich Menschen-, Waren- und Finanzströme – die drei Lebenslinien der Moderne – bündeln und der daher weiterhin offen bleiben wird für Kapital und hochqualifizierte Arbeit. Damit verabschiedet es sich von EU-(Werte-)Grossmachtplänen und wird zur Knotenpunktmacht inmitten eines weitverzweigten Netzwerks. So könnte es auf neue Weise seine alte Empire-Sonderstellung erlangen, die sich nie aus quantitativer Material- und Bevölkerungsüberlegenheit ergab, sondern aus der Meisterschaft in der Kunst der Abschöpfung. Und deshalb kann Johnson den Finanzsektor auch nicht anrühren.

Der Brexit ist also gerade keine Einigelung, sondern eine Straffung, um in der Welt auf andere Art mitmischen zu können. Weil ihm noch nicht ganz klar ist, wie genau das gehen soll, orientiert sich Johnson dabei an den Politfiguren der eigenen Vergangenheit und unternimmt eine nostalgische Tour auf den eigenen geschichtlichen Spuren: Die Loslösung von Rom, das Empire, die Sezession, die Netzwerkmacht – es drängt sich hier zusammen, was Grossbritannien schon einmal erlebt hat. Johnsons Genie besteht darin, das alles zusammenzufügen.

Politdandytum

Die nächste britische Welle zur Erfassung der Welt hat also bereits ihren politischen Führer und auch eine ungefähre Richtung, aber noch keinen Theoretiker, und man fragt sich, wer der neue Keynes, Hayek oder Giddens sein könnte, der sich das britische Erfolgsrezept für die nächste Dekade ausdenkt.

Da fällt einem, abgesehen von Johnsons Strippenzieher Dominic Cummings, niemand ein und vielleicht gibt es den auch gar nicht, weil Johnson keinen braucht. Er selbst sucht sich sein Material gern in der Antike, im 19. und 20. Jahrhundert zusammen und wird damit zu seinem Selbstausleger, weshalb es angemessen ist, von «Johnsonismus» zu sprechen. Ihm genügt mitunter der Blick auf Churchill und Disraeli, um zu wissen, was zu tun ist. In einem Artikel über Disraeli erzählte er eine Anekdote, die er sich offenbar zum Vorbild nimmt: Als Lord Abercorn eine Delegation ankündigte, die wissen wollte, wie das konservative Programm aussieht, antwortete ihm Disraeli, der Premierminister: «Eh! Oh! Ah! Yes! Quite so! Tell, them, my good Abercorn, with my compliments, that we propose to rely on the sublime instincts of an ancient people!!»5

Das Gespür für diesen Instinkt ist politischer Stil und den hat Boris Johnson in den vergangenen Jahrzehnten mit grosser Sorgfalt gepflegt. Als Genie des Augenblicks hat er stets den passenden Satz parat und obendrein Einfälle, an die zunächst keiner dachte. So ist es wohl kein Zufall, dass ausgerechnet der verspielte Politdandy Johnson einen Weg findet, ein Inhalts- und Ortsprojekt zu unternehmen, das so noch keiner gewagt hat. Als Dandy hat er ein Gespür für Situationen und probiert darin alles Mögliche aus, er hat aber keine Geduld mit Regeln, Blockaden und Abhängigkeiten, die er hinwegfegt, wenn sie ihm bei seinen Experimenten im Wege stehen. Er geht dabei äusserst gewitzt vor, seine Auftritte sind schillernd, seine politischen Manöver atemberaubend. Erst dieser Wagnischarakter seiner Politik ermöglicht ihm den grossen «Sprung ins Dunkle»6 der Nach-Brexit-Welt, in der er notwendig etwas Neues schaffen muss.

Der Politiker wird dadurch zum Künstler, der dort aufkreuzt, wo er das Ungewöhnliche vermutet, und gerät in einen Gegensatz zum Ideenverwalter, der immer schon vorher zu wissen glaubt, was richtig ist, wo genau er ankommen muss, und der auf dem Weg dorthin die ewiggleichen Phrasen drischt und dazu ein ernstes Gesicht macht. Johnson hingegen wird von der Offenheit und der Aussicht auf ein Abenteuer angelockt, und diesen Ereignisdurst merkt man ihm an. Seine Pointen sind Tests, ob das Überraschende schon aufgetaucht ist und ob es sich sprachlich bereits erfassen lässt. Schon sein grosses Vorbild Disraeli, ebenfalls ein Dandy, wusste, dass es «kein Hasardspiel gibt, wie es die Politik ist»7, und ist gerade deshalb dorthin gegangen.

Deutsches Unbehagen

So viel Spielerei ist den Deutschen, die Langeweile oft mit Ernsthaftigkeit verwechseln, natürlich suspekt. Deshalb berichten sie ähnlich abschätzig über Johnson wie damals über Disraeli (nur Bismarck, der wusste, dass Politik etwas mit Kunst zu tun hat, hielt viel von ihm). Er galt ihnen als leichtlebige Spottfigur, als flamboyantes Individuum, das die Weltordnung gefährdet (obwohl sie selbst es ja waren, die das taten).

Die Propaganda beginnt mit der Fokussierung auf Abweichungen vom genormten Look – bei Disraeli waren es die schönen Locken, die ihn als unpraktischen Schnösel entlarven sollten. Bei Johnson wird dagegen auffallend oft über seine ausgebeulten Anzüge, Strubbelfrisuren, unförmigen Wintermützen und mehrfach getragenen Socken berichtet, um seine Stillosigkeit zu behaupten. Es ist wohl das erste Mal, dass sich deutsche Leitartikler für Stilfragen interessieren, und es wirkt wie ein Manöver, um von Johnsons eigentlichem Stil, seinem Einfallsreichtum, seinem Witz, seiner suggestiven Formulierungskraft, seinem inneren Dandytum also, abzulenken und ihn als Hallodri hinzustellen. Denn er mag zwar wie einer gekleidet sein, aber darunter steckt jemand, der auffallend ungebunden ist, selbstironisch und wahrscheinlich ziemlich liberal, ein Individuum also, gegen das die Deutschen dringend etwas unternehmen müssen. Dass sie das nicht tun können, weil die EU noch nicht so weit ist, macht sie rasend, und so werfen sie mit allerhand diskursivem Schmutz auf den Politrüpel.

Sogar die antideutsche «Jungle World» wirft Johnson vor, eine «konformistische Rebellion»8 zu inszenieren, und entpuppt sich damit als urdeutsch. Denn konformistisch ist wohl eher die Empörung der Deutschen, die es einfach nicht ertragen können, dass jemand gegen ihr Europa stimmt, das sie sich als Sühneprojekt, bei dem sie dennoch obenauf sein können, doch so schön zurechtgelegt hatten.

  1. Vgl. Damiano Cantone: Italien ist das Land der politischen Avantgarde. In: Neue Zürcher Zeitung, 7. Juni 2018.

  2. Andrew Sullivan: Boris’s Blundering Brilliance. In: New York Magazine, 6. Dezember 2019.

  3. Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker etwa will die Zusammen­-sch­weissung Europas der Politik entziehen, wenn er behauptet: «Es kann keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge geben.» Der Brexit ist ein Affront gegen diesen Wahrheitsanspruch und deshalb macht er EU-Gläubige so wütend.

  4. Bettina Schulz: Singapur an der Themse. In: Die ZEIT, 12. September 2019.

  5. Boris Johnson: Razcal Dizzy. In: Daily Mail, 28. Juli 2013.

  6. Patrick Bahners: Der Brexit und die Historiker: Jetzt musst du springen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. November 2019.

  7. Zit. n. Edgar J. Feuchtwanger: Disraeli. Eine politische Biographie. Berlin:  Duncker & Humblot, 2012, S. 113.

  8. Jörn Schulz: Konformistische Rebellion. In: Jungle World, 12. September 2019.

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